Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 77
2.
ОглавлениеBuh kniete erneut im Gebet versunken, als Pavel sich zu ihm gesellte; nur kniete er diesmal nicht vor einem Massengrab, sondern in einer Seitenkapelle der Nikolauskirche, und er sang nicht, sondern schwieg mit zusammengepressten Kiefern. Pavel schob die Frage beiseite, ob es etwas zu bedeuten hatte, dass die Kirche, in der sie Zuflucht gesucht hatten, um den Rest des Tages totzuschlagen, dem heiligen Nikolaus geweiht war, dem Schutzpatron der Kinder; oder dass die Kirche ursprünglich von deutschen Kaufleuten erbaut worden war. Wenn der Heilige seine Aufgabe ernst nahm, würde er Pavel und Buh heute scheitern lassen.
Pavel kniete neben Buh nieder und betete ebenfalls. Seine Gedanken waren verwirrt, und es gelang ihm kaum, bei der Sache zu bleiben. Er hörte sein Herz pochen, aber ein anderes Geräusch hörte er noch viel lauter: das geduldige Vibrieren der Teufelsbibel. Ihm war, als befände sich ihr Versteck in seinem Inneren, und die Ketten um die Truhe herum glühten und verbrannten seine Eingeweide. Vage kam ihm zu Bewusstsein, dass er den ganzen Tag noch keinen Bissen zu sich genommen und keinen Schluck Wasser getrunken hatte. Der dumpfe Druck in seinem Magen ließ nicht zu, dass er Abhilfe schuf, obwohl Abt Martin sie mit genügend Geld ausgestattet hatte, um sich auf dem Markt Rüben oder Karotten zu kaufen. Sie hatten die Münzen bisher noch kaum angefasst.
„Er ist mit seiner ganzen Familie und einem Geschäftspartner angereist. Er hat eine Tochter – nur eine. Darum hat er das Kind vermutlich aus dem Findelhaus geholt: weil seine anderen Kinder alle gestorben sind oder die Ehe unfruchtbar geblieben ist. Ich habe herausgefunden, dass die Tochter einen Raum im Haus für sich hat.“
Buh bekreuzigte sich und drehte sich zu Pavel um.
„G… g… gehen wir heim“, sagte er.
Pavel schüttelte den Kopf. Er legte eine Hand auf Buhs Oberarm. Normalerweise pflegte Buh seine eigene Pranke darüberzulegen. Pavel spürte die Muskeln, die sich unter der Kutte dieses aus Stein gemeißelten, in seinem Inneren sanften und scheuen Riesen wölbten. Buh bewegte sich nicht, bis Pavel seine Hand fortnahm.
„Wir warten bis kurz vor Torschluss, nach Einbruch der Dunkelheit. Das ist die beste Zeit; die Leute sind schon in ihren Häusern, und die Nachtwache hat sich noch nicht formiert. Der Dienstboteneingang bleibt in der Regel unversperrt. Wir können ohne Schwierigkeiten eindringen. Ich habe das Fenster des Raumes gesehen – wenn wir erst drin sind, werde ich schon hinfinden.“
Buh stand auf.
„Es geht ganz schnell und sauber. Und niemand sonst wird zu Schaden kommen.“
Buh wandte sich ab und stapfte in das Kirchenschiff hinaus. Pavel sah ihm beklommen hinterher. Hielt er Buh wirklich für so dumm, das zu glauben: niemand sonst wird zu Schaden kommen? Wenn das Kind beseitigt werden musste, dann auch der Kaufmann, der es aus dem Findelhaus geholt hatte; und wenn er, dann auch seine Frau. Selbst dann war das Risiko noch immer groß; Pavel hatte keine Ahnung, wie viele Mitwisser es insgesamt geben konnte. Buh ging zur anderen Seite des Kirchenschiffs, kniete dort in einer leeren Seitenkapelle nieder, schlug das Kreuz und begann erneut zu beten. Allein zurückgelassen in der ersten Nische, starrte Pavel zu ihm hinüber und wusste nicht, dass seine Augen von unvergossenen Tränen brannten.
Die Tür zum Dienstboteneingang öffnete sich mit einem sanften Knarren, das untertags vermutlich niemandem aufgefallen wäre. Pavel hielt den Atem an. Vom Ölfeuer, das in einer Schale auf der Krone des Brunnenkäfigs auf dem Platz brannte, fiel trübes Licht in einen vollkommen finsteren Gang. Vor einiger Zeit war ein Dienstbote hier aus diesem Haus gekommen, war mit einem Krug und einer hölzernen Staffelei zum Brunnen hinübergegangen und hatte in einer gemessenen Prozedur die Staffelei aufgeklappt, war hinaufgeklettert, hatte die Schale mit Tran gefüllt, war wieder hinuntergestiegen und hatte den Krug abgestellt, hatte Feuer in Zunder geschlagen, sich wieder nach oben begeben und den Tran entzündet. Ein gichtkranker Pfarrer mit Augenleiden und Hämorrhoiden, der versuchte, die oberste Kerze vor seinem Altar zu entzünden, hätte sich schneller bewegt. Schließlich war die Leiter zusammengeklappt, der Krug aufgenommen und das Ganze zurück ins Haus getragen worden. Zu diesem Zeitpunkt hätte Pavel bereits schreien mögen vor Nervosität. Am schlimmsten war es, als der Dienstbote am Schloss der Dienstbotentür herumfummelte. Würde er entgegen dem, was Pavel heute Nachmittag durch harmloses Getue herausgefunden hatte, absperren? Doch als Pavel und Buh vor einem endlich stillen Haus standen und die Eingangstür musterten, erkannte Pavel, dass der Dienstbote sich nur einen Dienstbotenscherz erlaubt hatte: auf der Klinke war der Inhalt eines Nasenlochs verschmiert. Pavel packte die Klinke und drückte sie, obwohl es ihn grauste.
Er bewegte die Tür ein wenig hin und her, holte Atem und schwang sie mit einem Ruck bis fast zur Wand auf. Das Knarren verklang in einem kurzen, unverdächtigen Laut. Pavel stieß die Luft aus.
Der Gang war kurz und führte an einer Treppe ins Obergeschoss vorbei. Im Erdgeschoss waren Türen, die vermutlich zu Vorratskammern und kleinen Werkstätten führten. Am Ende des Ganges zeichnete sich schwach der Lichtsaum einer weiteren Tür ab: der Zugang zum Innenhof. Vom Obergeschoss sickerte das dünne Blaken eines Lichts, wahrscheinlich eine Unschlittkerze auf dem Treppenabsatz. Das Haus knackte und knarrte wie jedes andere Haus, das sich für die Nacht einrichtet, war aber ansonsten so gut wie still. Ein ganz fernes Gemurmel, das eventuell aus einem Nachbarhaus stammte, konnte sich fast nicht über das Vibrieren der Teufelsbibel durchsetzen, das Pavel nun ständig spürte.
Pavel schlich die ersten Treppenstufen hinauf und winkte Buh, die Eingangstür hinter sich zu schließen. Im ersten Augenblick war es stockfinster, dann hob das Licht von oben die Kanten der Stufen aus dem Dunkel. Buh kam heran und erklomm die erste Stufe; die ganze Treppe knarzte sofort laut wie ein Eselsschrei.
Die beiden Kustoden erstarrten in ihren jeweiligen Posen. Nach einigen schweißtreibenden Augenblicken stand fest, dass niemand nachsehen kommen würde. Trotzdem …
Pavel schluckte und schüttelte den Kopf. Dass Buh in diesem stillen Haus die gesamte Treppe hinaufkam, ohne alle aufzuwecken, war ausgeschlossen. Und es löste auch das Dilemma, was Buh tun würde, wenn Pavel ihre Mission vollendete und die Zielperson tötete. Dass Pavel auch den Knecht und die alte Katka getötet hatte, wusste Buh nicht, und Pavel hatte es weder vorher noch nachher zum Thema gemacht, dass beide selbstverständlich nicht am Leben gelassen werden durften. Mit der Zielperson verhielt es sich anders … und Pavel wusste auf einmal, dass Buh ihn daran hindern würde, wenn er ihn Zeuge werden ließ.
„Bleib hier unten“, hauchte er ihm ins Ohr. „Du musst dafür sorgen, dass die Tür hier offen bleibt, sonst ist uns der Fluchtweg versperrt.“
Buh nickte nach kurzem Nachdenken. Er verlagerte das Gewicht langsam auf den Fuß, der noch auf dem Fußboden stand, was die Treppe mit einem fast dezenten Ächzen belohnte. Dann trat er zurück und drückte sich neben dem Dienstboteneingang an die Wand.
Pavel wandte sich ab und schlich weiter. Oben am Treppenabsatz stand eine Art Laterne mit einer Öllampe darin. Pavel nahm sie ohne nachzudenken mit. Er zählte die Schritte bis zu der Tür, hinter der er die Zielperson vermutete, aber er ahnte schon von weitem, welche es sein würde: die mit dem Lichtsaum. Von draußen hatten sie gesehen, wie dunkle, schwere Vorhänge zugezogen wurden, und er hatte gehofft, dass die Bewohnerin des Zimmers sich schlafen legen würde. Offensichtlich hatte er sich getäuscht. Die Vorhänge waren zwar willkommen, weil sie vor zufällig hereinfallenden Blicken von draußen schützten; aber dass noch Licht brannte … Pavel biss die Zähne zusammen. Aus dem Zimmer drang kein Laut.
Langsam streckte er die Hand nach der Klinke aus. Von den zwei vorhandenen Möglichkeiten verbot sich diejenige, die Tür aufzureißen und polternd hineinzustürmen, von selbst. Pavels Lippen öffneten sich, und seine Zunge schob sich heraus, ohne dass Pavel sich dessen bewusst war. Die Klinke war kühl und rau. Er drückte sie so langsam nach unten, dass seine Muskeln zu schmerzen begannen. Die Tür öffnete sich mit dem kleinen Ruck, der immer entsteht, wenn der Riegel aus dem Haken gleitet. Licht schimmerte auf. Pavel schob sich Zoll um Zoll an die Öffnung heran, die entstanden war. Schließlich spähte er hinein.
Ein Tisch, der vermutlich einmal ein Esstisch gewesen war, hier oben aber zum Schreibpult geworden war; eine Frau saß daran und schrieb. Pavel hörte die Feder quietschen und kratzen. Sie blickte auf, und Pavel sah ihr Halbprofil von hinten: eine junge Frau. Er hatte sich nicht geirrt – sie waren am Ziel.
Du kannst noch umkehren, sagte eine Stimme in Pavel. Du musst nicht noch mehr Blut auf deine Seele laden.
Pavel ignorierte sie; er hatte eine Aufgabe zu erledigen. Abt Martin hatte ihm das Vertrauen geschenkt, den Dienst als Kustode anzutreten, er hatte ihn zum Anführer der kleinen Schar werden lassen, und er hatte ihm diese Mission überantwortet. Er würde ihn nicht enttäuschen.
Er erkannte, dass er sich bereits halb ins Zimmer geschoben hatte; die Tür hatte er nicht viel weiter öffnen müssen, klein und mager wie er war. Pavel schob einen Fuß vor den anderen. Es kam darauf an, so schnell bei ihr zu sein, dass sie keine Zeit hatte zu schreien. Sobald er ihr den Mund zuhielt, hatte er gewonnen. Die andere Hand um die Kehle gelegt und zugedrückt, und kein Laut würde mehr hervorgekommen; die erste Hand zur Hilfe genommen … Abt Martin hatte gesagt, dass der Tod durch Erdrosseln ein Gnadenbeweis war, den ein nachsichtiger Richter einem verurteilten Ketzer auf dem Scheiterhaufen gewährte. Pavel der Gnadenbringer …
Wie im Traum sah Pavel, wie sich plötzlich eine feine Haarsträhne bewegte und sie an der Wange kitzelte. Der Luftzug von der offenen Tür! Sie hob eine Hand und fuhr sich über die Wange, dann blickte sie auf und drehte sich irritiert um. Ihre Augen weiteten sich.
Pavels rechte Hand legte sich auf ihren Mund und die Linke um ihren Hals.
Ab diesem Augenblick ging alles schief.