Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 78
3.
ОглавлениеCyprian näherte sich dem Altstädter Brückentor von der Kleinseite her, wo sich sein von Bischof Melchior zur Verfügung gestelltes Domizil befand. Eher gewohnheitsmäßig warf er einen Blick auf den Uferstreifen, der kiesig und lehmig entlang der Mauer um die Altstadt den Lauf der Moldau rahmte. Das letzte dramatische Hochwasser lag lange genug zurück, dass sich Abfall, Wurzelstöcke und unbrauchbare Überreste von Flößen dort hatten ansammeln können, durch alle Zeiten hindurch beliebtes Baumaterial derjenigen, die vor den Mauern lebten und von dem, was die Stadt nicht mehr verwerten konnte. Vor den meisten Abfallhaufen brannten Feuer; Gestalten kauerten davor. Nasser Rauch wehte gemeinsam mit dem Geruch von Fischen, die man nicht mehr hätte braten sollen, zur Prager Brücke und zu Cyprian herüber.
In den nächsten Minuten würden die Stadttore geschlossen werden und damit auch alle innerstädtischen Tore – der Zugang von der Kleinseite zur Altstadt wäre dann durch die Torbauten des Kleinseitner und des Altstädter Tors verschlossen. Es waren fast keine Menschen mehr unterwegs; die mächtigen Bögen der Tore waren bis auf die in Grüppchen beisammen stehenden Wächter leer. Cyprian konnte durch die Öffnung des Altstädter Brückentors in den Königsweg hineinsehen, der wie eine schimmernde Zunge aus einem gähnenden Maul in die Düsternis zwischen den Gebäuden tastete. Obwohl die Nachricht seines Onkels in seiner Tasche brannte, blieb Cyprian stehen: die einsame Gestalt, die durch die Ansiedlung der Obdachlosen gestolpert war und sich jetzt langsam dem Lichtschein der Brücke näherte, kam ihm bekannt vor, und etwas an ihrem Gang ließ ihn innehalten. Während der Zeit im Gefängnis hatte er Menschen so gehen sehen, die von einem Verhör zurückkamen und wider Erwarten nicht der peinlichen Befragung unterzogen worden waren und in deren Stolpern sich Unglauben ebenso ausdrückte wie die irrsinnige Hoffnung, dass alles noch gut werden konnte.
Die Gestalt war die von Andrej von Langenfels. Als er der Beleuchtung des Altstädter Brückentors noch näher kam, sah Cyprian, dass sich das Band in seinem langen Haar gelöst hatte und es wie eine zerzauste Mähne um seinen Kopf hing. Sein Gesicht war ein Muster aus regelmäßigen Schatten. Es gab Cyprian einen Stich. Ohne dass er es hätte platzieren können, hatte er erneut das Gefühl, Andrej von früher zu kennen. Dann fiel das Licht anders, und die beklemmende Ähnlichkeit war verschwunden. Andrej wandte sich ab und arbeitete sich die Böschung hinauf, die ihn zum Brückenplatz führte. Er verschwand hinter dem Bollwerk des Torbaus, dann tauchte er Sekunden später im Torbogen wieder auf, beleuchtet von den Ölfeuern im Tordurchgang und misstrauisch beobachtet von den Wachen. Cyprian sah, dass Andrej ein Paket an sich drückte. Ein Stück vor dem Tordurchgang trafen sie zusammen.
„Was tun Sie denn hier?“, fragte Cyprian, bevor er Andrej in die Augen sah und verstummte. Durch das Gesicht des anderen ging etwas wie ein Ruck, und seine Blicke fokussierten sich.
„Ah“, sagte er mit belegter Stimme. „Ah … Cyprian.“
„Ist Ihnen nicht gut?“
„Doch … äh … doch …“ Andrej sah über Cyprians Schulter hinweg, und Cyprian teilte sich der unmissverständliche Wunsch seines Gegenübers mit, alleingelassen zu werden. Beinahe wäre er beiseite getreten, doch Andrej sah aus wie ein wandelnder Leichnam, und so konnte er sich nicht überwinden, den Weg freizugeben.
„Was tragen Sie da spazieren? Die Tore schließen gleich. Wenn Sie noch eine Besorgung vorhaben, sollten Sie sich beeilen.“
„Ja … äh …. Ich weiß. Äh … leben Sie wohl …“
Lass mich in Ruhe, sagte die Körperbewegung, mit der Andrej sich an Cyprian vorbeidrücken wollte. Los, frag mich, kreischten die riesigen Augen in seinem bleichen Gesicht. Doch eine andere Macht enthob Cyprian der Frage.
„He, ihr da. Runter von der Brücke! Wir schließen die Tore!“ Der Wachführer des Altstädter Brückentors stand breitbeinig auf der Brücke und winkte ihnen zu. „Sonst könnt ihr die Nacht hier verbringen!“
Andrej fuhr herum. Ein Knall hinter Cyprian sagte ihm, dass das Kleinseitner Brückentor bereits geschlossen war. Andrejs Kopf flog wieder zurück. Sein Mund verzerrte sich. „Nein, verdammt …!“, keuchte er.
Das Bündel in Andrejs Armen machte ein ersticktes Geräusch. Andrej starrte es an. Er zupfte hastig an einem Deckenzipfel. Das Krähen wurde lauter.
„Und wessen Kind ist das?“, fragte Cyprian.
„Runter von der Brücke jetzt, verdammt noch mal!“
„Kommen Sie“, sagte Cyprian und packte Andrej am Arm. Er zog ihn mit sich zum Tordurchgang. Ein Flügel war bereits geschlossen, der andere bewegte sich ächzend.
Der Wachführer schenkte ihnen einen zornigen Blick. „Beeilung, Beeilung!“ Er winkte den Kollegen am anderen Ende der Brücke zu, dass er das Problem an seinem Ende in den Griff bekommen habe.
„Lassen Sie mich los!“, stöhnte Andrej. „Ich muss zu …“
„Sie kommen nicht mehr auf die andere Seite!“
Andrej riss sich los, drehte sich um und lief auf den Wachführer auf, der ihnen dicht gefolgt war. Das Bündel in Andrejs Armen quäkte und begann zu greinen.
„Wenn du ihn zu seiner Mami bringen willst, hast du Pech gehabt“, sagte der Wachführer fast mitfühlend. „Drüben ist schon geschlossen. Haben wir den Stammhalter ein bisschen in der Schänke rumgezeigt und die Zeit verloren?“
„Ich muss zu …“
„Ja, ja“, sagte der Wachführer. „Morgen wieder. Du wirst ’ne Abreibung von deiner Alten bekommen, aber daran bist du selbst schuld, Mann!“
Andrej schien der Panik nahe. Nicht einmal zwischen den Leprakranken in Podlaschitz hatte Cyprian ihn so verwirrt erlebt. Er zog ihn am Ärmel neben sich her, schob ihn vor sich und durch die enge Öffnung der Mannpforte, folgte ihm und schubste ihn einfach weiter durch den Ring an Fackeln tragenden Torwächtern hindurch, die die beiden großen Flügel verriegelten.
„Habt ihr keine Heimat oder was?“, brummte einer. „Wir woll’n auch mal nach Hause.“
Cyprian blickte über die Schulter. Der Wachführer stand vor einem ähnlich wie er gekleideten Mann, reichte ihm eine der frisch angezündeten Fackeln und schnarrte: „Altstädter Tor verriegelt! Brücke gesichert! Wachübergabe erfolgt!“
„Vorkommnisse?“
„Zwei Idioten auf Brücke! Idioten erfolgreich entfernt!“
Der Wachführer klopfte sich an die Brust. Der Anführer der Nachtwache tat es ihm gleich. Sie machten ernste Gesichter. Dann grinsten sich beide Männer plötzlich an, schüttelten sich in einem komplizierten Ritual die Hände und boxten sich in den Magen, während sie Cyprian und Andrej verächtliche Blicke nachschickten.
Andrej stolperte vor Cyprian her, die Blicke immer noch nach dem jetzt geschlossenen Tor gewandt. Cyprian drückte ihm den Kopf nach unten, schob ihn durch die Mannpforte am anderen Ende des Tordurchgangs hinaus, hörte hinter sich das Scharren der Riegel und schob seinen hageren Begleiter immer weiter in den Königsweg hinein, bis sie um eine Ecke und außer Sicht der Wachen waren.
„Ich muss zu Yolanta!“, zischte Andrej.
„Wessen Kind ist das? Jarkas?“
Das Kind kiekste und stöhnte vor sich hin. Andrejs Blicke irrten ab. Er wiegte das Kind wie einen Sack Kartoffeln und zupfte erneut an der Decke, die das kleine Gesicht einhüllte, um dem Kind Luft zu geben. Cyprian, Opfer eines zeitlosen Reflexes, streckte einen Finger aus und schob den Stoff beiseite, um dem Kind über die Wange zu streichen. Seine Augen verengten sich beim Anblick eines winzigen Greisengesichts mit bleichen Lippen und langsam klappernden Lidern.
„Gütiger Himmel“, sagte er.
„Ich habe es gerade eben aus dem Findelhaus geholt“, sagte Andrej. Es klang wie ein Schluchzen.
Cyprian starrte ihn an.
„Es ist Jarkas Kind“, murmelte Andrej. „Ich kann nicht anders an sie denken als an Jarka. Eigentlich ist es gar nicht ihr Kind. Aber sie wird glauben, dass es so ist – hoffentlich …“
Cyprian starrte ihn weiterhin an.
„Das können Sie nicht verstehen“, sagte Andrej.
„Garantiert nicht“, erklärte Cyprian.
„Ich muss es zu Yolanta bringen … Wir müssen es füttern … Ich brauche eine Amme … Wo kriege ich eine Amme her?“ Andrej verlor ein gesiegeltes Pergament, als er das Kind anders in die Arme nahm. Aus dem kleinen Bündel stieg zusammen mit den schwachen Lauten der Gestank von wässrigen Exkrementen und käsiger, schorfiger Haut auf und vermischte sich mit dem Hauch von Holzbrand, der sich herangeschlichen hatte. Cyprian bückte sich nach dem Dokument.
„Die Amme muss uns sagen, wie wir ihm helfen können … Wenzel, er heißt Wenzel … Mein Gott, Sie sollten mal sehen, wie der arme Kleine aussieht …!“
„Beruhigen Sie sich!“, brummte Cyprian und überflog das Dokument. Er konnte kein Wort verstehen, und das Siegel war ihm unbekannt. Als er es Andrej zurückgeben wollte, reagierte dieser nicht. Cyprian ließ es wieder fallen; es flatterte müde zu Boden wie eine sterbende Motte.
„Ich muss zu Yolanta!“
„Wer ist Yolanta? Die Amme?“
„Nein … Yolanta ist Jarka.“
Cyprian schwieg ein paar Sekunden lang. Andrej schien seinen eigenen Worten nachzulauschen und kam dabei ein paar Atemzüge weit aus seiner Panik heraus. „Ihr Leben hört sich reichlich kompliziert an“, sagte Cyprian schließlich.
Andrej holte Atem. „Hören Sie … Sie sind doch der Beauftragte des Bischofs. Können Sie mir nicht helfen, dass ich zur Kleinseite hinüberkomme? Wir … dass wir hinüberkommen? Wenzel und ich?“
„Wenzel“, sagte Cyprian mit Betonung, „sollte etwas zu trinken und ein warmes Bad und ein Bett bekommen. In genau dieser Reihenfolge. Und zwar schnell.“
„Genau deswegen will ich doch zu Yolanta!“, schrie Andrej.
„Reden Sie leise, Mann!“
„Reden Sie doch selber leise! Es geht um das Leben des Kindes!“
Cyprian zog Andrej noch ein paar Schritte weiter um die Ecke.
„Ich bin der Beauftragte des Bischofs von Wiener Neustadt“, sagte er. „Das zählt hier einen Hasenfurz. Sie kommen erst morgen früh wieder zur Kleinseite rüber. Aber ich habe eine Idee – kommen Sie mit mir.“
Andrejs Augen wanderten über Cyprians Gesicht. „Zu Ihnen?“
„Nein, mein Domizil ist auch auf der Kleinseite.“
„Und wohin …?“
Cyprian fühlte die kleine Kapsel mit Bischof Melchiors Nachricht in der Tasche. „Ich hatte vor, heute vor einem ganz bestimmten Haus Wache zu stehen“, sagte er grimmig. „Mit Ihnen und … Wenzel! ... als Begleiter stehen die Aussichten gut, dass man mich reinlässt.“
Wenzel gluckste, verschluckte sich und hustete schwach. Dann begann er zu weinen. Cyprian betrachtete das verzerrte Gesichtchen mit steinerner Miene. Unter der Haut zeichnete sich der Knochenschädel ab. Eine Erinnerung an seine Mutter und seine jüngeren Schwestern machte sich selbständig, übernahm das Kommando über seinen rechten Zeigefinger und steckte ihn dem Kind vorsichtig zwischen die Lippen. Es begann daran zu saugen. Cyprian spürte einen Kloß im Hals. Als er den Finger langsam zurückzog, begann das Weinen aufs Neue.
„Los, kommen Sie“, sagte er. „Es sind nur ein paar Dutzend Schritte. Sie haben ungefähr zwanzig Sätze Zeit, mir das alles zu erklären.“
Andrej seufzte erschöpft. „Das reicht nie“, murmelte er. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“
„Fangen Sie an mit: Ich bin ein Idiot“, schlug Cyprian vor. „Und jetzt traben Sie los, verdammt.“
„Ich bin ein Idiot“, sagte Andrej. „Aber das macht nichts. Sie sind auch einer.“
Cyprian erlaubte sich ein Lächeln. Andrej erwiderte es mit grauem Gesicht.
In genau diesem Augenblick stürzte das Dach des Hauses Wiegant & Wilfing ein paar Dutzend Schritte weiter vorn halb ein, und eine Flammenzunge schoss in den Nachthimmel.