Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 76

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Das kleine Guckfenster öffnete sich mit einem Ruck. Zwei in der Dunkelheit funkelnde Augen richteten sich auf Andrej. Er probierte unter seiner Kapuze ein Lächeln.

„Schon wieder?“, fragte die Gestalt auf der anderen Seite der Klosterpforte ungnädig.

Andrej schwieg verwirrt.

„Ich habe gesagt: schon wieder, Bruder? Hast du noch was zu fragen vergessen? Kann man sich gar nicht vorstellen.“

Die Stimme war die einer älteren Frau, trocken vom Zynismus eines Menschen, der Zeit seines Lebens nicht viel Gelegenheit gehabt hat, seinen Glauben an das Gute im Menschen zu vertiefen. Andrej streifte die Kapuze ab.

„Ich bin kein Mönch.“

„So.“ Es war nicht zu erkennen, dass sich sein Ansehen verbessert hätte. Andrej mühte sich erneut um ein Lächeln.

„Ich möchte mit der Mutter Oberin sprechen.“

„Weswegen?“

„Es geht um ein Kind.“

„In der Tat“, sagte die alte Torhüterin.

Andrej musterte das kleine Guckloch ratlos. Sein Plan hatte funktioniert – bis hierher. In seiner Tasche war ein Pass, ausgestellt von Oberstlandrichter Lobkowicz; oder besser gesagt, von Oberstlandrichter Lobkowicz’ Siegel. Der Text im Pass besagte, dass sein Besitzer im Auftrag des Kaiserhofs tat, was getan werden musste, und dass mit persönlicher Konsequenz rechnen musste, wer sich unkooperativ verhielt. Im zweiten Absatz ging es darum, dass der Auftrag des Kaiserhofs die Abholung eines noch näher zu bezeichnenden Kindes aus dem Findelhaus für gefallene Frauen beinhaltete. Der Kaiserhof, der Oberstlandrichter und der Überbringer des Schreibens verbürgten sich für künftige Sicherheit und Wohlergehen des Kindes. Es war undenkbar, dass die Karmelitinnen den Anweisungen eines fremden Dominikanerpaters mehr gehorchten als einem unmittelbaren Beauftragten des Oberstlandrichters. Und nun kam er noch nicht einmal dazu, den Pass vorzuzeigen, weil der Drachen an der Klosterpforte schlimmer war als Zerberus der Höllenhund.

„Weshalb? Auf der Straße gefunden? Vor die Schwelle gelegt bekommen?“ Der Tonfall hätte Löcher in die schwere Eichentür ätzen können.

„Hä?“

„Weshalb willst du das Kind hier abgeben? Hast du es auf der …?“

„Nein“, unterbrach Andrej. „Ich will kein Kind abgeben. Ich will eines abholen.“

„Ach?“ Andrej hatte das Gefühl, dass die Temperatur ein kleines bisschen stieg. „Wozu?“

„'Wozu'!?“

„Glaubst du, jeder Hergelaufene kann hier ein Kind abholen, weil ihm gerade danach ist? Weiß ich, wer du bist? Du siehst aus wie ein hübscher Knabe, aber deine Seele könnte so schwarz sein wie die eines Sklavenhändlers, der billige Arbeiter für die Minen seines Herrn sucht.“

„Einen Säugling“, sagte Andrej. „Als Minenarbeiter.“

Die Torhüterin schwieg eine Weile.

„Es ist das Kind meiner Frau“, probierte es Andrej, als das Schweigen sich in die Länge zog. Es hörte sich so ungewohnt an, dass er nuschelte. Gleichzeitig erfüllte es ihn mit unsinnigem Stolz. Meine Frau. Natürlich würde Yolanta seine Frau werden – nicht hier in Prag, wo ein Pater Xavier in seiner Drachenhöhle hauste und keiner von ihnen dreien sicher sein würde, aber überall anders auf der Welt.

„Warum habt ihr euer Kind hierher gebracht!?“

„Als es abgegeben wurde, war sie noch nicht meine Frau.“

„So!“

Andrej hatte genug. Er hatte sich nicht im Schutz einer geborgten Kapuze hierher geschlichen, um von einer alten Türsteherin aufgehalten zu werden. Er hatte nicht – auf den bloßen Verdacht hin, den Blinden mit der schmutzigen Augenbinde schon zweimal vorher gesehen zu haben – die Hälfte seiner Barschaft in einen Korb Eier investiert mit der Bitte, ihn dem Blinden zu geben. „Der dort drüben mit der Augenbinde, gebt ihm die Eier nur, er wird sie vielleicht nicht nehmen wollen, weil er seinen Stolz hat, aber ich lasse ihm schon lange heimlich Almosen zukommen … Er ist nämlich mein unschuldig ins Unglück geratener Bruder! Drängt sie ihm auf, ihr tut ein gutes Werk!“ Er war nicht stehen geblieben, um zu prüfen, ob der Blinde tatsächlich versuchte, den hilfreichen Händen zu entkommen, die ihn aufhielten – aber er hatte das gleichzeitig unheimliche und bewegende Gefühl gehabt, zu verstehen, was seinen Vater täglich angetrieben hatte. Er hatte dies alles nicht getan, um schon vor der Klosterpforte zu scheitern.

„Was ist das?“, fragte die Torhüterin.

„Ein Schreiben von Oberstlandrichter Lobkowicz. Das ist sein Siegel, sehen Sie? Lassen Sie mich bitte ein.“

„Ich dachte, es geht dir um das Kind deiner Frau? Hier steht, es handelt sich um Angelegenheiten des Kaiserhofs.“

„Ich bin eine Angelegenheit des Kaiserhofs“, sagte Andrej.

Was die Höflichkeit nicht bewirkt hatte, vermochte die Arroganz. Die Riegel schnappten zurück, und Andrej wurde in eine enge, mit Holz ausgeschlagene Kammer eingelassen. Die Torhüterin verschloss die Tür wieder und schlurfte wortlos hinaus. Die Riegel an der anderen Tür schabten. Andrej rüttelte ungläubig daran. Sie hatte ihn eingeschlossen.

Als Andrej darüber nachzudenken begann, ob er versuchen sollte, die Türen mit den Füßen zu bearbeiten, schob sich das Guckloch an der zweiten Tür auf. Die Augen hätten die der Torhüterin sein können, aber die Stimme war eine andere.

„Deine Geschichte ist eine Lüge“, sagte die Stimme.

Andrej hörte ihr zu, und ohne dass er hätte sagen können, woher die Assoziation stammte, dachte er plötzlich darüber nach, was Cyprian Khlesl in dieser Situation getan hätte. Der Mann sah aus wie einer, der sich mit bloßen Fäusten durch die Wand gearbeitet und dann die Oberin am Hals gepackt hätte, bis sie das Kind freigab und noch Geld oben drauf legte. Doch er sah nur so aus; verhalten hätte er sich ganz anders.

„Sind Sie die Mutter Oberin?“, fragte Andrej.

„Niemand am Hof kümmert sich um die Kinder hier. Niemand auf der Welt kümmert sich darum. Wenn ihr Schicksal jemanden interessieren würde, gäbe es uns nicht.“

„Ein ganz bestimmter Dominikanerpater hat sich für das Schicksal eines ganz bestimmten Kindes interessiert.“

Die Stimme hinter dem Guckloch verstummte für eine Weile. „Sind Sie in seinem Auftrag hier?“, fragte sie schließlich.

„Dies ist das Siegel von Oberstlandrichter Lobkowicz, nicht das von Dominikus von Caleruega.“

Das Schweigen dauerte so lange, dass man es als Zeichen der Erleichterung ebenso auffassen konnte wie als Missbilligung. Wenn die harten Vogelaugen nicht gewesen wären, die ihn musterten, hätte der Platz hinter dem Guckloch verwaist sein können. Andrej bemühte sich, nicht auf das Klopfen seines Herzens zu hören.

„Ich bin hier, um das Kind von Yolanta Melnika abzuholen und zu seiner Mutter zurückzubringen. Ich garantiere, dass das Kind im wahren katholischen Glauben aufgezogen und von Liebe und Fürsorge umgeben sein wird und …“

„Der Name“, sagte die Stimme.

„Wie?“

„Weißt du den Namen des Kindes?“

„Wenzel.“

Wieder das Schweigen; so lange, dass sich das Klopfen von Andrejs Herz verlangsamte und eine unbestimmte Angst in seine Beine stieg, die ihn schwach machte. „Nein“, sagte die Stimme endlich. „Nein. Wir haben ihm den Namen Zwölfter November gegeben.“

Andrej blinzelte verwirrt.

„Wir wussten seinen Namen nicht. Niemand hat ihn uns gesagt. Ich habe ihn erst durch Pater Xavier erfahren.“

„Ja“, sagte Andrej. Sein Hals schmerzte. „Was soll’s. Ich werde es ihr nicht erzählen. Das ist nun alles vorbei.“

Die Mutter Oberin schnaubte. Es klang nicht verächtlich, es klang resigniert.

„Du weißt nichts“, sagte sie.

„Ich weiß, dass ich Yolanta …“

„Es ist tot.“

„… liebe und dass ich nicht länger zulasse, dass sie von irgend jemanden …“

„Es ist tot. Das Kind ist tot.“

„… damit erpresst wird, dass ihr Kind ihr vorenthalten wird und sie um seine Gesundheit …“ Andrejs Stimme erstarb. „Was haben Sie gesagt?“

„Es ist tot“, flüsterte die Oberin. „Wenzel. Zwölfter November. Wie immer du es nennen willst. Es war schon tot, bevor der Dominikaner hier auftauchte.“

Andrej sagte nichts. Seine Gedanken waren zum Halt gekommen. Selbst sein Herz stand still. Eine Kälte erfasste ihn, die nichts mit Temperatur zu tun hatte.

„Ich verstehe nicht …“, stotterte er.

„Es war krank und schwach. Dieses Haus ist gegründet worden, damit die Kinder von gefallenen Frauen nicht in der Gosse sterben. Dafür sterben sie in unseren Händen“, sagte die Oberin. „Die Stifter haben deswegen ein reineres Gewissen, Gott behüte sie.“

„Das kann nicht …“

„Er hat es ihr nicht gesagt, oder?“

Andrej begann zu weinen. Er hatte das Gefühl, man habe ihm den Tod seines eigenen Kindes mitgeteilt.

Die Oberin schnaubte aufs Neue. „Er hat es ihr nicht gesagt. Er hat sie weiterhin hoffen lassen, obwohl er die Wahrheit wusste. Gott sei ihrer Seele gnädig. Und deiner Seele auch, mein Sohn.“

Andrej schlang die Arme um den Oberkörper und schluchzte. Er weinte um das Leben eines Kindes, das nicht hatte erblühen dürfen, weil niemand ihm eine Chance gegeben hatte, und um das Herz Yolantas, das bei dieser Nachricht brechen würde. Er weinte um die Liebe, die sie ohne ihr Wissen einem toten Kind gegeben hatte, und um all die Angst und Demütigung, die sie um dieses toten Kindes willen ertragen hatte. Vielleicht weinte er auch, weil er zum ersten Mal in seinem Leben das schlummernde Talent seines Vaters, das Erbe eines Abenteurers, Charmeurs, Trickbetrügers und Fälschers, angewendet hatte, und es war für nichts und wieder nichts geschehen.

Seine Hand zerknüllte das Pergament, das er gefälscht hatte. Dann erstarrte seine Hand plötzlich. Er legte das Knäuel wie in Trance auf sein Knie und strich es glatt. Das Siegel des Oberstlandrichters war gebrochen, aber nicht abgefallen. Er las den Text, den er selbst geschrieben hatte. Er sah zum Guckloch hoch. Die Oberin wollte es gerade zuschieben.

„Warten Sie“, sagte er atemlos. „Warten Sie.“

Die Teufelsbibel-Trilogie

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