Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 70
25.
ОглавлениеAlles ließ sich lernen, selbst die Qualitäten eines Ungeheuers. Pater Xaviers hervorstechende Eigenschaft war, sich nicht selbst die Hände schmutzig zu machen. Yolanta Melnika ließ sich durch den Trubel schieben, der in den ersten Marktwochen nach dem Ende der Wintersaison erfahrungsgemäß immer am stärksten war, und beobachtete den Rücken des Gassenjungen, den sie angeheuert hatte. Der Gassenjunge seinerseits beobachtete – hoffentlich – Agnes Wiegant und ihre Magd. Sie hatte mit ihm vereinbart, dass sie ihm den Wert jeglichen Gegenstandes, den er ihr stehlen konnte, doppelt ersetzen würde, wenn er bei ihrem Plan mitspielte. Sie ahnte, dass der Junge versuchen würde, sie später auf das Dreifache hoch zu handeln, und hatte bereits beschlossen, es geschehen zu lassen. Warum auch nicht – es war Pater Xaviers Geld.
Sie wartete auf das Zeichen des Gassenjungen, dass er bereit wäre. Er hatte höchst geheimnisvoll getan, doch eigentlich war Yolanta klar, wann der richtige Moment gekommen war: wenn das Opfer stehen blieb und sich auf etwas anderes konzentrierte, und wenn so wenig Leute in der Gasse waren, dass man zwischen ihnen hindurchschlüpfen konnte, andererseits aber auch so viel, dass man in der Menge untertauchte und auf Nimmerwiedersehen verschwand. Heute waren elementare Änderungen in diesem Ablauf vorgesehen, aber Yolanta war sicher, dass der Gassenjunge sich grundsätzlich an das erlernte Schema halten würde.
Die langsame, schlendernde Verfolgung brachte sie in den Teil der Gassen zwischen den Moldaubrücken. Das Flussufer wimmelte von Flößen, Booten und kleinen, halb getakelten Schaluppen. Hier gab es einige wenige Händler, die sich dem Überseegeschäft verschrieben hatten – wenn auch das Meer weit war, so war doch wenigstens Wasser nahe, und was einem der Fluss an Basiswissen beibrachte, war eine solide Grundlage für das Geschäft über die Ozeane hinweg. Natürlich wurde das Meiste, was für die Schifffahrt benötigt wurde, in oder nahe der Häfen an den Meeresküsten hergestellt; doch es gab Dinge, die man anderswo vielleicht besser beherrschte, und wer das vor allem finanzielle Wagnis einging, eine Flotte auszurüsten, war durchaus bereit, für das eine oder andere tiefer in die Tasche zu greifen oder länger darauf zu warten, nur weil es die Händler in Prag oder Wien oder Budapest oder sonst wo fern der Küste in der allerhöchsten Qualität liefern konnten. Umgekehrt waren diese Händler auch bereit, für die mitgebrachten Güter besser zu bezahlen als diejenigen in den Häfen, die der Neuheiten bereits überdrüssig waren.
Der Junge blieb stehen; was bedeutete, dass die beiden Frauen, die er beschattete, Halt gemacht hatten. Das Gedränge war weniger dicht als weiter vorn; die Händler hier hatten nichts zu bieten, was eine Köchin oder Dienstmagd oder eine höchst selbst einkaufende Frau des Hauses benötigt hätte, es sei denn, Schiffszwieback hätte auf der Speisenfolge gestanden oder die neueste Mode vorgeschrieben, gepichte und kalfaterte Taue zu tragen. Der eine oder andere Gewürzhändler war dazwischen, aber die Preise waren jetzt, zu Beginn der Saison, vermutlich jenseits von Gut und Böse. Yolanta schob sich näher heran, ratlos, was Agnes und ihre Magd hierher getrieben hatte.
Diese Gegend von Prag war ihr völlig fremd. Sie kannte keinen der Händler und konnte das Gerücht, dass hier jeder zweite ein Fremder war und entweder reines Portugiesisch sprach oder solches mit spanischem oder englischem Akzent, nicht bestätigen. Der Junge hielt sich abseits an einer Hauswand, weit genug entfernt von Ladenöffnungen und Klapptischen, um nicht den Argwohn eines Händlers zu erregen. Wenn man nicht wusste, dass er da war, hätte man ihn übersehen. Yolanta sah, wie Agnes vor der dunklen Höhle eines Ladeneingangs stehen blieb und ihre Magd hineinging. Die junge Frau stand unschlüssig da und wie jemand, der sich seiner Sache nicht vollkommen sicher ist, aber auch keine andere Möglichkeit sieht als die, seinem Plan zu folgen.
Yolanta hatte das Gefühl, dass sie diese Situation nur zu gut kannte. Auf dem Klapptisch neben der Ladenöffnung standen kleine Tonkrüge, bewacht von einem halb dösenden Aufpasser, der in einer Hand einen Wecken und in der anderen eine Wurst hielt und abwechselnd davon abbiss.
Agnes hob den Deckel von einem der Töpfe, und das scheinbare Phlegma des Aufpassers wich einem halb dienstfertigen, halb aggressiven Interesse. Yolanta kannte das Szenario: in den Tontöpfen waren Gewürzproben, und selbst wenn es sich nur um kleine Quantitäten handelte, waren sie doch wertvoll genug, dass jemand versucht gewesen sein könnte, sich mit ihnen aus dem Staub zu machen. Sie musterte die Gasse; wenige Passanten, die eher auf dem Weg hindurch schienen als dort etwas erledigen zu wollen. Ein magerer Bursche, struppig wie ein Köter und betrunken wie zwei Dutzend Landsknechte, stolperte langsam und mit vielen Pausen vom Flussufer heran, offenbar ein Hilfsarbeiter, dessen Dienste in Bechern Wein bezahlt worden waren oder der die paar lumpigen Münzen sofort wieder in den Prager Schankkreislauf investiert hatte. Sie blickte zu dem Jungen hinüber. Er sah sie an und nickte. Die Gelegenheit war da. Sie hielt den Atem an und nickte zurück … Doch im gleichen Augenblick kam die Magd wieder aus der Tür, im Schlepptau einen kleinen, dunklen Mann. Eine Gruppe von Müßiggängern schob sich zwischen Yolanta und die drei, und als sie wieder freie Sicht hatte, standen sie bereits dicht beieinander und unterhielten sich. Der Junge hatte jetzt keinerlei Chance mehr, ungesehen an Agnes heranzukommen. Sie warf ihm erneut einen Blick zu; er war bereits wieder mit der Hauswand verschmolzen und regte sich nicht.
Yolanta sah den Mann den Kopf schütteln. Agnes redete heftig auf ihn ein. Der Mann schüttelte den Kopf erneut. Die Magd versuchte ihr Glück. Was immer sie kaufen oder verkaufen wollten, der Mann war nicht an einem Handel interessiert. Sie konnte ihn kaum erkennen, nur sein dunkel glänzendes, öliges Haar und dass er irgendein Bündel in den Händen trug. Sie hatten ihn offenbar bei etwas gestört, und er war nicht glücklich darüber. Er wandte sich an den Burschen, der auf seine Gewürzproben aufpasste, und dieser schoss eilfertig in die Höhe, legte Wecken und Wurst auf den Klapptisch und war bereit, seinem Herrn zur Verfügung zu stehen. Die Wurst rollte über eine abschüssige Partie des Klapptischs und fiel auf den Boden.
Dann, unvermittelt, brach das Chaos über den Gewürzstand herein. Es kam in Gestalt des struppigen Betrunkenen und eines nicht minder struppigen Straßenköters, zu dessen Betrunkenheitszustand keine Aussage gemacht werden konnte. Außer ihrem äußeren Erscheinungsbild hatten beide noch eine weitere Gemeinsamkeit: einen Bärenhunger; und ein gemeinsames Ziel: die Wurst. Sie war schwer und fett und fiel zu Boden wie ein Sack, rollte in die nächste Spalte des Flusssteinpflasters und blieb dort liegen.
Der Hund schoss von irgendwoher heran und sauste zwischen den Beinen der Fußgänger hindurch wie ein Blitz. Der Betrunkene war weniger behände, hatte aber einen Vorsprung, weil er mehr oder weniger schon direkt vor dem Gewürzstand angekommen war und sich nur noch zu bücken brauchte. Als seine Finger sich um die Wurst schlossen, schlossen die Zähne des Hundes sich um seine Finger.
Der Schwung des Hundes riss den Betrunkenen mit sich. Er blieb auf den Beinen, aber er vollführte eine unfreiwillige Pirouette, einen Arm ausgestreckt, an seinem Ende Hund und Wurst als Schwungmasse. Als er die erste Drehung vollendet hatte, war der Schmerz offenbar in seinem Gehirn angekommen. Er stierte auf das, was vorher noch seine Hand mit einer viel versprechenden Zwischenmahlzeit darin gewesen war und sich nun in einen verhungerten kleinen Köter verwandelt hatte, der mit geschlossenem Kiefer jappte und knurrte. Der Schreck leitete die zweite Drehung ein, diesmal mit einem Ziel: den Hund abzuschütteln. Der Hund ließ sich nicht abschütteln. Die Beine des Betrunkenen kamen durcheinander. Zweite Drehung beendet – und ein Klappern ertönte, von dem Gewürztopf verursacht, den der Körper des Hundes von der Tischplatte wischte. Einer der taumelnden Füße trat auf den Topf, der den Sturz überstanden hatte, dieser Attacke aber nichts entgegenzusetzen hatte. Gelbes Pulver wolkte auf.
„Heee!“, brüllte der Aufpasser.
Der Hund wog nicht viel, vermutlich weniger als die Wurst, und er schien beschlossen zu haben, den Kampf um Wurst und Hand als Sieger zu beenden oder dabei heroisch unterzugehen. Der ergebnislosen Drehung folgte ein Schütteln. Die Ohren des Hundes flogen. Die Kiefer saßen fest. Der Betrunkene holte mit der freien Hand aus und hieb dem Hund die Faust auf den Schädel.
„Aaaaoooooh!“
Das Schnappen, mit dem die Zähne des Hundes noch weiter in die Hand des Betrunkenen getrieben wurden, konnte Yolanta nicht hören, aber sie wusste, dass es zu hören gewesen sein musste. Der Betrunkene vollführte eine Art Moriskentanz, mit einem auf und ab fliegenden Hund als interessante Variante.
„HAU AB!“, brüllte der Aufpasser. Sein Herr stand wie erstarrt neben den beiden Frauen.
Der Betrunkene drosch Hand und Hund von unten gegen die Tischplatte. Sie bestand aus drei Segmenten; das äußerste davon schnellte in die Höhe und katapultierte die darauf stehenden Gewürztöpfe gegen die Hauswand, wo sie rote Staubflecken und den Gegenwert mehrerer Tagelöhne hinterließen.
„Madre de dios!“ Der dunkle Mann drückte das Bündel, das er gehalten hatte, Agnes in die Hand und sprang auf den Betrunkenen zu. Dieser fuhr herum, der Beginn einer dritten Pirouette und der Anfang vom Ende des Hundes – am Ende der Bewegung würde er ihn aufs Pflaster schmettern, und das hielt nicht einmal ein Prager Straßenköter aus. Doch der Herr des Gewürzladens, der dunkle Mann mit dem öligen Haar, kam irgendwie dem Schwung in die Quere.
Der Hund klatschte dem dunklen Mann ins Gesicht, eine Ohrfeige mit einem Lumpensack voller Flöhe. Er stolperte rückwärts. Der Betrunkene stolperte mit. Der Hund zappelte. Der Herr des Gewürzladens sah, wohin ihn sein Stolpern bringen würde – zum linken der beiden verbliebenen Tischsegmente –, und versuchte sich am Betrunkenen festzuhalten. Statt standzuhalten flog der Betrunkene dem dunklen Mann in die Arme. Dann kam jenes Tausendstel eines Augenblicks, an dem alles im Gleichgewicht scheint und jede Entwicklung möglich ist, bis Schwerkraft und Momentum sich durchsetzten und die Skulptur aus zwei Männern und einem Hund graziös auf die Tischplatte fiel.
Die Platte schnappte hoch wie ein Katapult. Zwei Gewürztöpfe schossen senkrecht in die Höhe, ein dritter flog zwischen dem Aufpasser und den beiden Frauen hindurch, einen Kometenschwanz aus getrockneten Kräutern nachziehend. Der Besitzer des Gewürzladens und der Betrunkene schnappten nach Luft, starrten gemeinsam nach oben. Dann warfen sie sich in entgegengesetzte Richtungen auseinander, und die hochgeschnellten Gewürztöpfe prallten neben ihren Köpfen auf den Boden und zersplitterten in wohlriechende Scherben. Stille … das Klappern des dritten Gewürztopfs, der irgendwo landete … das Geräusch, das entsteht, wenn sich fest verbissene Zähne aus einem Handgelenk lösen … und das hektische Wetzen von Hundekrallen über Straßenpflaster, als der Hund – unverletzt – mit seiner tapfer erstrittenen Beute stiften ging.
Der dunkle Mann sprang auf. Er zerrte den Betrunkenen auf die Füße. Der Betrunkene hielt sein Handgelenk und jammerte. Der dunkle Mann trat ihn in den Hintern, dass er davonschoss, vage in Richtung des geflohenen Hundes. Erstes Gelächter ertönte. Der stehen gebliebene Überrest des Tischs gab ein trauriges Ächzen von sich und kippte langsam seitwärts, verstreute die letzten Gewürzproben auf den Boden und klappte dann zusammen …
… und Yolanta erkannte überrascht, dass der Junge bereits Agnes’ Börse von ihrem Gürtel gerissen hatte und auf sie zu rannte.
Sie hätte die Börse niemals erwischt, wenn der Junge sie ihr nicht förmlich in die Hand gedrückt hätte. Dann schlug er einen Haken und verschwand in der nächsten Gasse. Heute Abend würde er mit ein paar Kumpanen vor Yolantas Haus auftauchen, die Steine wurfbereit, falls sich der Handel als Betrug herausstellen sollte. Yolanta riss sich zusammen und eilte auf Agnes zu, die wie vom Donner gerührt dastand und dem Jungen nachblickte. Sie trug das Stoffbündel, das der dunkle Mann ihr übergeben hatte, noch immer auf den Armen.
„Keine Sorge, ich hab sie ihm abgejagt …“, begann Yolanta und prallte dann wie gegen eine Mauer. Das Bündel in Agnes’ Armen bewegte sich und krähte. Es war ein Kind.
Sie standen keine fünf Schritte voneinander entfernt. Ihre Augen trafen sich über das Kind hinweg. Was immer Yolanta noch hatte sagen wollen, blieb ungesagt. Unbewusst hatte sie sich selbst mit Agnes gleichgesetzt, hatte versucht, eine geistige Verbindung mit der Frau herzustellen, die sie einen halben Tag lang beobachtet hatte, weil sie wusste, dass sie ein gemeinsames Schicksal teilten: Pater Xaviers kühles, mörderisches Interesse.
Agnes mit einem Kind im Arm zu sehen versetzte Yolanta einen Schock. Ihre Hand mit der erbeuteten Börse sank herab. In diesen Augenblicken waren sie Gefährtinnen, Verbündete, Schwestern … war Agnes das Ziel, das Yolanta antrieb: wieder ein Kind im Arm zu halten, ihr Kind im Arm zu halten.
Agnes’ Augen weiteten sich, als wäre es tatsächlich möglich, Gedanken und Gefühle über Blicke zu transportieren.
Dann war der dunkle Mann heran, nach exotischen Gewürzen duftend und das Haar rot und gelb bepudert. Er nahm Agnes das Kind aus dem Arm und wiegte es hin und her. „Ay, nino, ay nino“, verstand Yolanta. Das Kind begann herzhaft zu brüllen, nun in Sicherheit in den Armen des Vaters.
„Wer sind Sie?“, flüsterte Agnes.
„Retten Sie sich“, hörte sich Yolanta sagen. „Der Teufel hat die Hand nach Ihnen ausgestreckt.“