Читать книгу Im Dunkel der Schuld - Rita Hampp - Страница 11
SECHS
ОглавлениеAls er in die stille Anwohnerstraße einbog, in der das kleine, gelb gestrichene Einfamilienhaus stand, krampfte sich etwas in seiner Brust zusammen. Sein Herz begann zu flattern. Das war doch nicht möglich. Dunkel. Das Haus war dunkel. Kaum war Maria in Baden-Baden, schien der Spuk vorbei zu sein. Also war es wirklich Maria gewesen?
Noch wagte er nicht, sich hundertprozentig sicher zu sein, denn in den vergangenen Wochen und Monaten hatte es immer wieder Tage – manchmal sogar mehrere hintereinander – gegeben, an denen alles unverändert geblieben war. Was ihn noch mehr in den Wahnsinn trieb, weil es unberechenbar war. Worauf konnte er sich noch verlassen?
Er hatte versucht, ein Muster zu erkennen, sich Tabellen angelegt, wann »es« geschah und wann nicht. Denn dass er selbst so unzuverlässig war und Licht und Wasser vergaß, konnte er dank seiner Checkliste ausschließen. Darauf vermerkte er jeden Morgen akribisch, wann er die Lichter gelöscht, das Bügeleisen ausgeschaltet, die Wasserhähne und die Heizung kontrolliert hatte, dass alle Fenster geschlossen waren, der Anrufbeantworter angeschaltet, die Stecker von Fernseher, Radio, Computer und Drucker gezogen und die Haustür zweimal abgeschlossen war sowie das Garagentor gesichert, die Gartenpforte ins Schloss gezogen, und dass auch die Anschlüsse für das Gartenwasser zugedreht waren.
Alles hakte er ab, mehrfach, erst danach fuhr er zur Arbeit und setzte auf dem Weg Maria bei ihren jeweiligen Putzstellen in der Stadt ab. Er kannte ihren Zeitplan, sie hatte kein Auto, der Bus fuhr zur Siedlung nur dreimal am Tag, es war also fast nicht möglich, zwischen Putzstellen und Deutschkursen herzukommen, um ihn zu sabotieren. Ein paarmal hatte er ihr sogar den Hausschlüssel abgenommen, um ganz sicher zu sein, dass nicht sie der Kobold war.
Es half alles nichts, die Ungewissheit blieb. Mal brannte bei seiner Heimkehr Licht und sprudelte das Wasser in der Küche, oder es lief der Fernseher. Ohne System. Es war zum Verrücktwerden.
Es war ein guter Einfall gewesen, Maria für ein paar Tage ganz aus der Schusslinie zu nehmen. Eine Woche sogar. Und dann gleich Paris, so weit fort! Ebba war wirklich großartig.
Trotzdem galoppierte sein Herz und brach ihm der Schweiß aus, als er das dunkle Haus betrachtete. Es hatte nichts zu bedeuten, redete er sich ein, noch nicht. Erst nächsten Freitag würde er wissen, ob es tatsächlich mit Marias Abwesenheit zusammenhing.
Bis dahin musste er wachsam sein. Wenn im Haus jetzt kein Licht brannte, bedeutete das nicht zwingend, dass drinnen alles in Ordnung war. Trotzdem konnte das Bügeleisen glühen, ein Wasserhahn tröpfeln, die Heizung warm oder die Sicherungen herausgedreht sein. Himmel! Vielleicht sollte er den Sicherungskasten ebenfalls mit einem Vorhängeschloss versehen, wie so vieles im Haus.
20.44 Uhr.
Zitternd schloss er die Haustür auf. Zweimal. Das war schon mal gut. Er ging hinein und stellte fest, dass die Heizkörper kalt waren. Dann zog er seine Schuhe aus, stellte sie nebeneinander auf die Matte und hängte den Mantel auf den Bügel. Gleich musste er sich durch die Liste arbeiten und die erforderlichen Negativzeichen anbringen. Erst wenn alles abgezeichnet war, konnte er ans Schlafengehen denken.
Er nahm das Klemmbrett aus der Aktentasche und trug die Uhrzeit ein.
20.52 Uhr.
In acht Minuten würde Maria anrufen. Sollte er ihr sagen, dass schon am ersten Abend ihrer Abwesenheit alles im Haus unauffällig zu sein schien? Sie würde wieder heulen, weil sie annahm, er verdächtige sie. Zu Recht.
20.53 Uhr.
Sein Zeitplan war durcheinander. Bis zum Anruf reichte es gerade, Gäste-WC und Küche abzuhaken. Und gegessen hatte er auch noch nicht.
21.00 Uhr.
Das Telefon schellte.
Pünktlich. Auch wenn es nur Ebba war, die sich am anderen Ende meldete. Sie klang distanziert, als wisse sie über alles Bescheid, war jedoch klug genug, das Thema zu übergehen. Sie gab den Hörer aber auch nicht an Maria weiter.
»Deine Frau braucht eine Auszeit«, sagte sie streng. »Ich richte ihr aus, dass es dir gut geht. Hast du meine Handynummer?«
»Warum? Maria soll mich anrufen. Und morgen soll sie bitte am Apparat sein.«
Ebba gab einen undefinierbaren Laut von sich und legte auf.
21.02 Uhr.
Er konnte sein Pensum noch im Zeitrahmen schaffen. Erleichtert nahm er sich die Liste vor, ging alles durch, danach machte er sich bettfertig, legte die Kleidung für den nächsten Tag bereit und schlief sofort ein, ohne die Liste ein letztes Mal geprüft zu haben.
Am nächsten Morgen klingelte der Wecker wie üblich um 5.00 Uhr.
Georg schreckte hoch. Wie hatte ihm dieser Fehler unterlaufen können! Er hatte nicht eingeplant, dass er heute zusätzlich Marias Aufgaben übernehmen musste. Wie sollte er es da pünktlich ins Büro schaffen? Gut, der Umweg zu Marias Freitags-Putzstelle in der Wohnung Leissmann fiel aus, aber trotzdem fehlte ihre ordnende Hand überall.
Hastig begann er seine Rituale im Bad und im Schlafzimmer. Das Frühstück musste ausfallen, das brachte ihm vierzehn Minuten. Die brauchte er dringend, um Dusche und Waschbecken zu putzen, den Küchenboden zu wischen und mit dem Staubsauger einmal durchs Haus zu gehen. Das Wohnzimmerfenster war heute an der Reihe. Samt Terrassentür. Alles Marias Bereich. Sein Vorsprung war bereits aufgebraucht, und er hatte noch keinen Punkt seiner eigenen Checkliste abgestrichen.
Schon jetzt war sein Hemd durchgeschwitzt. Das bedeutete, dass er, bevor er das Haus verließ, noch einmal duschen, sich umziehen und das Bad putzen musste.
Und so setzte sich das Unheil an diesem Tag fort.
Als er sein Auto endlich vor dem Bürogebäude in der Innenstadt parkte, betrug seine Verspätung einundzwanzig Minuten. Maria hatte am Anfang der Ehe noch mit ihm diskutieren wollen, dass es doch gleichgültig war, wann ein Freiberufler sein Büro aufschloss, aber sie hatte zum Glück schnell verstanden, dass Pünktlichkeit für seine Ordnung unabdingbar war.
Nicht nur die Verspätung machte ihm zu schaffen. Auch dieser Mensch im weißen Arbeitsoverall, der sich am Eingangsbereich des Gebäudes breitgemacht hatte und Plastikfolie auslegte. Alles war staubig. Nichts konnte man mehr anfassen; es gab keine Möglichkeit, er musste mit seinen sauberen Schuhen über die mit weißem Schleifstaub bedeckten Fliesen zur Treppe laufen. Der Mann rief ihm etwas nach, das wie »Lift benutzen« klang. Oder hatte er »nicht benutzen« gesagt?
Verwirrt und eilig stürzte er im zweiten Stock in den Waschraum, um sich die Hände zu schrubben.
Einer der Rechtsanwälte, der ebenfalls in dieser Etage ein Büro hatte, stand an einem der Waschbecken und fixierte ihn mit geröteten Augen.
»Wissen Sie, welche Malerfirma das im Erdgeschoss ist? Wer hat die überhaupt beauftragt? Unerhört, so ohne Vorankündigung, finden Sie nicht? Wenn sich einer meiner Mandanten die Kleidung deswegen ruiniert, möchte ich wissen, wen ich dafür belangen kann.«
Anwälte! Als gäbe es keine größeren Probleme auf der Welt. Georg fuhr sich mit einem Papiertuch über die Schuhe. Er fragte sich schon seit Betreten des Gebäudes, ob er sein Auto abgeschlossen hatte. Leider besaß er ein älteres Modell ohne elektronisches Schloss. Aber wenn er noch einmal zum Parkplatz ging und nachsah, würde es noch später.
Rumpelnd meldete sein Magen, dass er seit gestern Mittag nichts mehr gegessen hatte, und erinnerte ihn daran, dass Maria sonst jeden Morgen dafür sorgte, dass eine Lunchbox in seiner Aktentasche lag. Es war ein dummer Fehler gewesen, Maria wegzuschicken. Der ganze Verdacht gegen sie war bei Tag betrachtet doch lächerlich.
9.41 Uhr.
Bestimmt war sie schon in Frankreich unterwegs. Hoffentlich fuhr Ebba vorsichtig. Cabriofahrerinnen neigten dazu, die Geschwindigkeitsbegrenzung zu überschreiten. Ebba sowieso. Die setzte sich ständig über Vorschriften hinweg, das war schon früher so gewesen. Sie fand immer ein Schlupfloch. Sie hatte es bestimmt einfacher im Leben als er mit seinem Drang, immer alles richtig zu machen. Schon mit vier Jahren hatte sie einen solchen Mut und zugleich Entschlossenheit an den Tag gelegt, dass er sie nur bewundern konnte.
Es war ein Spätsommertag gewesen, und Papa hatte Rosie befohlen, auf den Apfelbaum zu steigen, um ihrem Bruder möglichst sorgsam reife Exemplare zuzuwerfen, die er in einen Korb zu legen hatte. Für jeden Apfel, der danebenfiel, sollte Ebba für zehn Minuten in die Truhe im Atelier. Bei jedem Fehlfang wäre er am liebsten in Tränen ausgebrochen, weil Ebba doch solche Angst vor dem Dunklen hatte. Er konnte sich anstrengen, wie er wollte – es gelang ihm einfach nicht, alle Äpfel zu fangen, und auch Rosie begann nach einer Weile zu schluchzen, weil sie sich auf dem Baum fürchtete und nicht nach unten zu schauen wagte – was die Trefferquote weiter verschlechterte. Vater saß mit einem Weinglas in der Hand dabei und zählte ungerührt mit. Bei Nummer sechs brach er das Experiment ab.
»Ebba, mitkommen«, befahl er, und Georg wunderte sich, dass die kleine Schwester ihm verschwörerisch zublinzelte und ihre Händchen in den Rocktaschen vergrub. Kein Mucks war danach aus der Truhe zu hören, was wohl auch den Vater erstaunte, denn unvermittelt hob er irgendwann den Deckel hoch und erwischte Ebba mit einer Taschenlampe in der Hand.
Seufzend schob Georg den Schlüssel in seine Bürotür. Wenn er nur ein wenig von ihrer Persönlichkeit abbekommen hätte … Er aber hatte nur gelernt, dass er sich im Leben anstrengen musste. Dass es nur dann zu ertragen war, wenn alles in geregelten Bahnen lief.
Die Tür klemmte.
9.54 Uhr.
Fast eine Stunde Verspätung. Drinnen klingelte das Telefon. Ihm wurde übel, weil er das Gespräch nicht entgegennehmen konnte. Auch der Anrufbeantworter sprang nicht an, es klingelte einfach weiter und weiter, während er immer nervöser versuchte, die Tür aufzustoßen. Schweiß rann ihm unangenehm den Rücken hinunter, wahrscheinlich roch er bereits nach Angst und Unwohlsein.
Noch ein Stoß, dann war es geschafft.
Fassungslos blickte Georg auf das Chaos in seinem Büro. Einbrecher. Jetzt also auch hier.
Hinter ihm pfiff jemand. Der Rechtsanwalt vom Ende des Gangs.
»Wie sieht es denn hier aus? Sie haben das Fenster über Nacht sperrangelweit offen gelassen, und das, obwohl die Warnungen vor dem Gewitter doch nicht zu überhören gewesen waren.«
»Gewitter?«
»Sagen Sie bloß, Sie haben das nicht mitbekommen. Es hat zwar nicht viel geregnet, aber mächtig gestürmt, ganz zu schweigen von Blitz und Donner. Da habe selbst ich es fast mit der Angst zu tun bekommen. Haben Sie wirklich nichts gehört?«
Georg wurde es heiß. Er hatte zum ersten Mal seit vielen Jahren, eigentlich zum ersten Mal überhaupt, früher Schluss gemacht, um Maria zu Ebba zu fahren. Aber er hatte das Fenster geschlossen. Ganz sicher. Zweimal kontrolliert und beim Wegfahren noch einmal hochgesehen. Oder doch nicht?
Er wischte sich über die Stirn und wusste nicht, wohin nun mit der besudelten, feuchten Hand.
»Grobe Fahrlässigkeit ist das – da wird die Versicherung kaum einspringen«, räsonierte der selbstgefällige Kerl hinter seinem Rücken, und Georg machte einen großen Schritt über den Papierwust am Boden in Richtung Schreibtisch und warf die Tür hinter sich zu.
Dann schloss er das Fenster und setzte sich inmitten des Chaos auf seinen Bürostuhl. Alles drehte sich, und sein Herz machte ihm mal wieder zu schaffen. So sehr, dass er seine Aktentasche öffnete und sich einen Stoß Nitro verabreichte.
Wie sah es hier nur aus! Er würde Stunden brauchen, um seine Ordnung wieder einigermaßen herzustellen. Ganz zu schweigen von seinem selbst gesetzten Tagespensum, das er nun unmöglich schaffen konnte. Er würde seine Pläne ändern und so lange im Büro bleiben müssen, bis alles wieder an Ort und Stelle und erledigt war, auch wenn das bedeutete, dass er nicht pünktlich nach Hause kam und dadurch womöglich Marias Anruf verpasste, denn die würde es bestimmt nicht im Büro versuchen.
Noch einmal eilte er hinaus zum Waschraum, um sich die Hände gründlich zu schrubben, dann ging es los, und außer einem Glas Wasser gönnte er sich nichts mehr, bis er fertig war.
Es war schon dunkel, als er endlich das Gefühl hatte, wieder im Lot zu sein.
19.24 Uhr.
Sein Magen knurrte seit Stunden, alles in ihm brannte und zog sich zusammen, er musste dringend auf die Toilette und brauchte noch dringender einen Tropfen zu trinken.
Erst jetzt gestand er sich das ein, jetzt, wo alles wieder perfekt war. Dass er es nicht pünktlich zur Post geschafft hatte, war verzeihlich, denn es reichte, wenn seine Briefe am Montag bei den Adressaten eintrudelten. Fünf Vorgänge hatte er trotz seiner Extraaktionen erledigen können, fünf wie jeden Tag.
Seine Hände klebten, sein Hemd roch muffig, und die Krawatte saß nicht mehr korrekt unter dem Adamsapfel. Was war das nur für ein Tag gewesen?
Ein letzter Gang zum Fenster. Ja, fest geschlossen. Vielleicht sollte er sich auch fürs Büro eine Checkliste anlegen.
Noch einmal vergewisserte er sich, dass sein Auto noch unten auf dem Parkplatz stand. Unvorstellbar, wenn er heute Morgen tatsächlich vergessen hätte abzuschließen und der Wagen nun gestohlen worden wäre. Der Passat hatte schon ein paar Jahre auf dem Buckel; es wäre also nicht der Verlust an sich gewesen, sondern vielmehr die unaussprechliche, undenkbare Aussicht, den Heimweg mit dem Taxi oder – noch schlimmer – mit einem öffentlichen Verkehrsmittel zurücklegen zu müssen. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins, würde er nicht ertragen können. Weder als Beifahrer in einem Auto noch als Fahrgast in Bus oder Bahn. Aus diesem Grund betrat er auch keine Aufzüge. Schon bei dem Gedanken drehte sich ihm der Magen um.
19.31 Uhr.
Gleich würde er zu Hause sein. Er packte seine Aktentasche, zog das Jackett über, nahm Mantel und Schlüssel, betrachtete dann aber seine klebrigen Hände und stellte alles wieder zurück.
Der Gang war leer. Um diese Uhrzeit war kein Mensch mehr im Büro, erst recht nicht freitags. Trotzdem schloss er ab. Vorsichtshalber. Es würde nur ein paar Minuten dauern, aber man konnte nie wissen. Schon gar nicht nach dem mysteriös geöffneten Fenster. Es war bestimmt jemand in seinem Büro gewesen, und zwar nicht der Reinigungsdienst; der kam nur einmal wöchentlich, montags.
Der Waschraum war dunkel, das Licht funktionierte aus irgendeinem Grund plötzlich nicht mehr. Er ließ die Tür zum beleuchteten Flur auf, wusch sich die wunden Hände, bis sie wie Feuer brannten, tupfte sie behutsam ab und ging wieder hinaus. Er stutzte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Etwas war anders als sonst. Richtig, der Zugang zur Treppe war mit einem rot-weißen Band abgesperrt, das sah er erst jetzt.
»Wegen Bauarbeiten gesperrt. Lebensgefahr. Benutzen Sie den Aufzug«, stand auf einem Schild, das an dem Band befestigt war. Auch das noch.
Argwöhnisch lugte Georg in die Tiefe. Komisch, eigentlich sah alles aus wie immer. Kein Anzeichen für einen Umbau. Nicht einmal die Malerfolie unten im Erdgeschoss konnte er entdecken.
Lebensgefahr? Wenn das mal nicht übertrieben war. Er würde es riskieren, sobald er seine Sachen geholt hatte. Wenn er ganz eng an der Wand entlang ging, konnte bei einer Steintreppe eigentlich nicht viel passieren.
Es musste jedoch einen Grund für das Schild geben.
Also doch der Lift?
Ausgeschlossen. Keine zehn Pferde würden ihn in die Kabine bekommen. Es ging einfach nicht. Niemals! Sogar Ebba sah das so, wenn auch aus anderem Grund. Sie litt seit der Kindheit an Klaustrophobie, ihm hingegen machte es Angst, einer Maschine so vollkommen hilflos ausgeliefert zu sein.
Aber hatte er eine Wahl?
Lebensgefahr!
Das Wort grub sich immer tiefer in seinen Kopf. Außerdem waren Anordnungen dazu da, befolgt zu werden. Er war nicht Ebba, die immer einen Ausweg fand. Er hatte gelernt, dass es für ihn das Beste war zu gehorchen.
Also würde er gleich den Aufzug nehmen müssen.
Schon bei dessen Anblick beschleunigte sich sein Puls, und ein Eisenring presste seinen Brustkorb zusammen.
Auf Zehenspitzen näherte er sich den offenen Türen. Es ist nur ein Lift, sagte er sich. Vielleicht sollte er sich erst einmal mit dem Ding auseinandersetzen, ehe er es später bediente. Sein Herz begann zu flattern. Nervös wischte er sich die Handflächen an der Anzughose ab. Am liebsten wäre er zurück in den Waschraum gelaufen, aber wenn das so weiterging, würde er es wirklich nicht bis zum 21-Uhr-Telefonat nach Hause schaffen.
Er begann zu zittern, weil er sich nicht entscheiden konnte, was er tun sollte.
Da hörte er ein Geräusch hinter sich und fuhr herum.
Ein Mann in blauem Overall stand hinter ihm, die Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen und ein Klemmbrett vor der Brust, das sein Namensschild verdeckte.
Von der Statur her konnte es der Maler vom Vormittag sein, aber was tat der noch hier, weit nach Feierabend? Nein, er täuschte sich. Der Maler hatte einen weißen Arbeitsanzug getragen.
»Gut, dass ich noch jemanden antreffe«, sagte der Mann und hakte etwas auf seinem Klemmbrett ab. »Sie müssen mir helfen, sonst werde ich nicht fertig.«
»Aber …«
Der Mann unterbrach ihn. »Sie sind Mieter hier?« »Ja, aber …«
»Welches Büro?«
Georg nannte ihm seine Daten, und der Mann schrieb sie auf und nickte zufrieden. »Sie sind verpflichtet, mich zu unterstützen.«
»W-wo steht das? W-wobei?«, stammelte Georg perplex.
Was wollte der Mann von ihm? Verpflichtet? Das hörte sich amtlich an.
»Dies ist ein Notfall.«
Notfall! Georg hob die Schultern. Was sollte das? Hatte sich heute alles gegen ihn verschworen?
»Haben Sie niemand and…«
»Gemäß den Vorschriften kann ich auch nicht warten, bis mir die Firma jemanden schickt. Aber so beruhigen Sie sich doch! Es geht ganz schnell, nur eine Überprüfung. Ich muss in den Aufzugraum oben und werde mich über die Sprechanlage bei Ihnen melden – in Ordnung?«
»Sprechanlage?«
Georg sah sich suchend um. Erlaubte sich da jemand einen Scherz mit ihm?
»Dort, im Bedienfeld im Lift, das runde Gitter.«
»Da gehe ich nicht rein!«
»Okay, ich werde laut genug reden.« Der Mann zog die Kappe tiefer ins Gesicht und kratzte sich am Hinterkopf. Georg machte einen Schritt vorwärts und konnte Pfefferminzatem riechen. Er hätte etwas dafür gegeben, dem Mann in die Augen schauen zu können, um zu eruieren, ob er ihm trauen konnte. Nun, den autoritären Bewegungen nach zu urteilen wusste der Mann, was er tat.
»Sie warten, bis der Lift wieder hier bei Ihnen hält, okay?«, befahl der Mann mit knappem Handzeichen, dann trat er in die Kabine, drückte den obersten Knopf und kehrte Georg den Rücken zu, während sich die Lifttür leise zischend schloss.
Stille.
Georg sah sich um. Und wenn er einfach davonging? Aber der Mann kannte seinen Namen. Wenn nun wirklich ein Notfall eintrat, würde man ihn verantwortlich machen.
Es dauerte nicht lange, da hielt der Lift wieder vor ihm und öffnete sich.
»Hören Sie mich?«, quäkte es leise aus dem Innern.
Georg machte einen Schritt zur Schwelle und beugte sich vor. »Ja.«
»Ich verstehe Sie nicht. Sie müssen näher ans Mikrofon kommen.«
Näher? Das würde bedeuten, den Aufzug betreten zu müssen.
Ganz langsam begann sich der Flur vor seinen Augen zu drehen. Er konnte da nicht reingehen. Aber er durfte die Aufforderung auch nicht ignorieren. Außerdem musste er noch seine Sachen aus dem Büro holen.
»Ich habe nicht den ganzen Abend Zeit. Jetzt melden Sie sich schon, dann kann ich Feierabend machen. Sagen Sie mir wenigstens: Ist mit dem Lift alles in Ordnung?«
»Scheint so«, sagte Georg.
»Wie bitte?«
»Scheint so!«
»Sie müssen auf den roten Knopf drücken und dann sprechen, sonst verstehe ich Sie nicht.«
Georg machte den Arm lang, aber er konnte die Leiste nicht erreichen. Sein Gedärm rumorte, als er einen ersten Schritt in den Kasten trat, dann machte er mutig noch einen. Die Türen waren ja geöffnet, es konnte nichts geschehen, solange er nichts berührte.
»Den roten Knopf!«
Zitternd näherte sich sein Zeigefinger der Taste. Und wenn sich die Türen schlossen und er nicht mehr hinauskam? Unsinn.
»Hören Sie, ich habe nicht den ganzen Abend Zeit. Drücken Sie endlich den Knopf! Laut Mietvertrag sind Sie dazu verpflichtet, auch wenn Sie den Lift vielleicht nie benutzen.«
Als könne er sich daran verbrennen, berührte Georg die Taste kurz und zog die Hand sofort wieder weg. Im selben Augenblick zischte es, und die Türen schlossen sich. Vor Schreck gelähmt sah er ihnen dabei zu, unfähig, sich mit einem Sprung in Sicherheit zu bringen.
»Nein!«, rief er. »Hallo, Sie haben die Türen zugehen lassen. Ich will hier raus!«
Nichts rührte sich. Der Lautsprecher schwieg.
Georg drückte den roten Knopf, ließ ihn nicht mehr los. »Hallo, hören Sie, helfen Sie mir!«
Nichts. Kein Rauschen, kein Krächzen, keine Stimme.
Georg hämmerte gegen die Türen. Der Aufzug hatte sich nicht bewegt, er stand also noch in der zweiten Etage. Vielleicht war doch noch jemand im Haus und bemerkte ihn.
»Hilfe, Hilfe!«
Die Stille wurde unerträglich.
Wieder drückte er den Knopf. Es klickte im Lautsprecher, und das Geräusch machte ihm mehr Angst als alles andere. Er war den Tränen nahe.
»Nein, nicht! Hallo, bitte.«
Aber da war nur noch Stille. Totenstille.
Sein Herz drohte zu zerreißen, glühend fuhr ihm die Angst in die Eingeweide, ein heftiges Würgen stieg in ihm hoch. Brechreiz schüttelte ihn, aber er gab nichts von sich, es wurde ihm nur übel, schrecklich übel.
Sein Arm wurde taub, dann bekam er keine Luft mehr. Das Nitro. Im Büro.
Unglaubliche Erschöpfung packte ihn. Langsam sackte er zu Boden, rappelte sich jedoch wieder auf, hämmerte an die Metalltüren, stocherte mit dem Schlüssel in dem kaum sichtbaren Schlitz zwischen den Türen, rutschte ab. Als Nächstes versuchte er erst mit dem Schlüsselbund, dann mit dem Bügel seiner Brille und schließlich mit den bloßen Fingernägeln, die Verblendung der Bedienleiste wegzureißen, probierte es immer wieder, bis ihm die Nägel abbrachen und das Fleisch darunter zu bluten begann.
Alles drehte sich, erst langsam, dann immer schneller. Er sank zu Boden, legte sich in den Schmutz, und es kümmerte ihn nicht. Er hatte das Gefühl, sein Kopf würde immer tiefer kreiseln, bis hinunter in den Keller.
Dann wurde alles um ihn dunkel.
Als er wieder zu sich kam, blieb er einen Augenblick lang still liegen und malte sich aus, er habe alles nur geträumt. Zaghaft sah er sich um, aber alles war noch da. Die matt schimmernden Türen, die Stille, die abgestandene Luft, die unerreichbar hohe Decke des Aufzugs, die glatte Verkleidung der Schaltleiste, der nutzlose rote Knopf.
Er wollte aufstehen, schreien, vielleicht sogar beten, doch er war zu nichts fähig. Alle Energie war aus ihm gewichen.
Die Stiche in der Herzgegend wurden stärker, ihm wurde kalt und immer kälter. Immer flacher ging sein Atem, bis ihn der Lebensmut verließ und er entkräftet und ergeben auf sein Schicksal wartete.
Einmal noch bäumte sich sein verängstigtes Herz auf, einmal noch wallte Panik hoch und griff nach ihm, schnürte ihm die Kehle zu, dann riss etwas in seinem Innern, und alles wurde schwarz.