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PROLOG

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14. Juni 1982

Schwarz. Alles schwarz.

Wie in einem Loch. Oder im Bauch von einem Walfisch. Oder im Wald von Hänsel und Gretel, nein, noch viel, viel schlimmer. Die konnten wenigstens etwas sehen: Mond und Sterne am Himmel und Kieselsteine auf dem Weg. Aber hier, in der doofen Kiste, ist gar nichts. Hier ist es einfach nur schwarz. Rabenschwarz.

Das ist schrecklich unheimlich.

Vor allem, weil man nie weiß, wie lange es diesmal dauert.

Sie ist schon ganz lange mutig gewesen und hat nicht geheult und nicht gekratzt oder geklopft oder geschrien wie früher.

Sie hat zwischendurch sogar geschlafen. Jedenfalls hat sie von Schmetterlingen und Kirschen geträumt. Das war schön.

Aber jetzt ist sie aufgewacht und liegt immer noch hier. Ganz lange schon.

Bestimmt sitzen die anderen in der Küche und essen Abendbrot und haben sie vergessen.

Ob sie wohl ganz leise rufen soll? Nur wie beim Spiel »Mäuschen, mach mal piep«?

Lieber nicht.

Keinen Mucks! Sonst werden Georg und Rosie wieder bestraft.

Wo sind die eigentlich alle?

Sie presst ihr Ohr ganz fest ans Holz. So still!

Ob sie noch im Krankenhaus sind? Rosies Bein hat vorhin ganz komisch ausgesehen.

Wie bei ihrer Puppe, der sie mal aus Versehen das Bein rausgedreht hatte. Sie hatte es nicht mehr reinbekommen. Papa hatte ihr helfen müssen und hatte sie deswegen in die Truhe gesperrt.

Wie jetzt auch. Aber nicht so lange.

Niemand ruft nach ihr, niemand.

Georg traut sich bestimmt nicht, Papa zu bitten, sie rauszuholen. Das gibt sonst neue Strafzeiten.

Rosie weint bestimmt schon.

Sie würde auch gern weinen, aber das darf sie nicht. Und sie wird es auch nicht tun. Schon wegen Papa. Wenn sie nicht weint oder schreit, findet er nichts zum Schimpfen und Bestrafen.

Keinen Mucks darf sie machen, sonst wird alles noch schlimmer.

Nicht weinen! Und nicht schniefen, das schon gar nicht. Das darf sie nicht.

Warum hört sie nichts?

Schlafen alle schon?

Oder sitzt Papa neben der Truhe und wartet, dass sie ein Geräusch macht, wie beim letzten Mal? Dann klebt er ihr zur Strafe bestimmt wieder mit dem ekligen Leukoplast den Mund zu. Das kann sie gar nicht leiden, weil man keine Luft kriegt, wenn man aus Versehen heulen muss und dabei die Nase verstopft. Außerdem tut es ganz schrecklich weh, wenn er das Pflaster später wieder abzieht.

Eigentlich ist es das Schlimmste, dass man nie weiß, welche Strafe kommen wird. Vielleicht muss sie auch nur ohne Essen ins Bett, wenn sie jetzt ruft. Das wäre eigentlich nicht schlimm. Das Bett ist warm und weich, Georg und Rosie würden sie besuchen kommen, und zur Toilette könnte sie auch gehen.

Iih, genau! Ganz nötig muss sie. Dringend!

Aber sie darf hier nicht reinmachen.

Sie muss die Beine zusammenpressen und am besten noch mit der Hand dagegendrücken. Dann kann man das ein bisschen länger aushalten.

Bisher hat Papa sie immer rechtzeitig rausgeholt. Sie ist doch sein Liebling. Seine kleine Malerin.

Sie darf keine Angst haben. Es ist nur die Truhe, in der sie liegt. Da passen keine Ungeheuer oder ekligen Tiere rein. Das hat sie doch schon ganz oft festgestellt. Es ist nur eine Truhe. Aber sie ist so dunkel …

Auch wenn sie die Augen ganz weit aufmacht, kann sie nichts sehen.

Wenn sie die Hand vor die Augen hebt, kann sie sie nicht sehen.

Ganz schwarz ist es hier.

Wie in einem Grab.

Mist, jetzt läuft ihr die Nase, und sie muss schniefen. Leise, leise, wie ein Mäuschen!

Wenn niemand daran denkt, sie herauszuholen, dann bekommt sie auch nichts mehr zu essen und zu trinken. Ein Apfel würde ja reichen. Oder eine Kirsche, Rosie hat doch vorhin genügend Kirschen gepflückt.

Nächstes Mal muss sie sich unbedingt welche in die Taschen stopfen.

Und einen Nagel mitnehmen. Mit dem könnte man vielleicht ein Loch ins Holz bohren. Dann wäre es nicht mehr so dunkel hier drin.

Irgendwie ist das ungerecht, dass immer sie in die Truhe muss. Papa weiß doch, dass sie sich so fürchtet. Wenn er sie hinterher rausholt, weint er oft selbst, weil sie ihn dazu gebracht hat, so böse zu ihr zu sein.

Weinen tut man doch nicht mehr, wenn man groß ist. Sie hat jetzt auch damit aufgehört. Nach dem Sommer kommt sie in die Schule, und ein Schulkind heult nicht.

Und sie hat auch keine Angst mehr.

Nur ein klitzekleines bisschen, aber nicht viel.

Ob sie wohl flüstern darf? Ganz leise »Mama« rufen?

Aber Mama ist bestimmt noch in der Kirche beim Beten. Oder sie denkt, dass sie schon im Bett liegt.

Ganz leise klopfen? Vielleicht ist die Uhr kaputt, oder Papa schläft oder …

Oder pfeifen?

Vielleicht hilft es, wenn sie sich eine gute Fee herbeiruft? Manchmal klappt das.

»Mach den Deckel auf, liebe Fee«, würde sie sich wünschen. »Und mach Rosie gesund. Und mach, dass Mama mehr Zeit für uns hat. Und dass Papa nicht so böse auf uns ist. Und dass Georg nicht immer so viel weinen muss.«

»Hallo, Fee, bist du da?« Es klingt so dumpf. Da kriegt man ja noch mehr Angst.

Pssst. War da was? War das der Flügel der Fee?

Nein, schade.

Hoffentlich kommt bald jemand. Nie mehr wird sie sich erwischen lassen ohne die Taschen voller Obst oder wenigstens einem Stück Brot.

Wenn es hier nicht so bi-ba-butzemann-dunkel wäre, hätte sie bestimmt weniger Angst.

»Hallo«, versucht sie etwas lauter zu rufen. Nicht zu laut, aber vielleicht hört Georg sie und versucht ihr zu helfen. Niemand kriegt die Truhe auf; nur Papa hat den Schlüssel. Vielleicht schläft Papa bald ein, dann könnte Georg ihm den Schlüssel stibitzen. Ach, lieber nicht.

Er soll nicht wegen ihr bestraft werden. Rosie auch nicht. Rosie soll nicht wieder auf den Fenstersims im Dachzimmer klettern müssen, um ganz lange das Gleichgewicht zu halten, ohne runterzufallen oder zu weinen. Arme Rosie. Ganz weiß ist sie dann immer im Gesicht.

»Mama«, ruft sie etwas lauter. »Georg! Rosie!« Und dann sogar: »Papa?«

Niemand antwortet. Sie bekommt auch den Deckel nicht auf, obwohl sie ganz fest dagegendrückt.

»Hallo!« Jetzt schreit sie, so laut sie kann. »Hallo!«

Aber alles bleibt still, totenstill, und irgendwann - irgendwann kann sie einfach nicht mehr.

Im Dunkel der Schuld

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