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ZEHN

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Freitag, 25. Dezember 2008

»Wie war’s?« Schlaftrunken rappelte sich Jörg von der Couch hoch, als Ebba kurz vor Mitternacht heimkam. Auf dem Beistelltisch stand sein halb volles Rotweinglas, daneben lagen der aktuelle Thriller von Val McDermith, in dessen letztem Drittel ein Lesezeichen steckte, sein Handy, sein Laptop, einige Straßenkarten und Reiseführer über die Schweiz, eine aufgerissene Packung Erdnüsse. Vor der Couch standen seine Hausschuhe. Ebbas Laune sank auf den Nullpunkt. Überall in ihrer Wohnung waren seine Hinterlassenschaften verteilt, und das störte sie, denn damit drang er zu tief in ihre Privatsphäre ein. Nirgends hatte sie in ihrer eigenen Wohnung mehr einen Ort, der ihr ganz allein gehörte.

Das hatten sie früher einmal anders vereinbart: Sogar seine Zahnbürste sollte er eigentlich jeden Morgen mitnehmen, hatten sie ausgemacht. Früher. Eigentlich. Inzwischen war es unübersehbar, dass er mehr Nächte bei ihr als in seinen eigenen vier Wänden verbrachte. Was hauptsächlich daran lag, dass sich Ebba bei ihm in der mit Plüsch, Antiquitäten und alten Familienfotos vollgestopften Drei-Zimmer-Wohnung, in der außerdem jederzeit seine Tochter auftauchen konnte, nicht wohl fühlte. Fast vierzehn war Lisa jetzt, eigenwillig und beneidenswert offen und fröhlich, auch wenn sie wohl beschlossen hatte, die Geliebte ihres Vaters zu ignorieren.

Ebba schnürte es den Hals zu. Jörg war wirklich zauberhaft, aber inzwischen wurde ihr die Beziehung zu eng, zu selbstverständlich, zu alltäglich. Warum nur hatte sie sich darauf eingelassen, dass er sich über die Feiertage bei ihr einnistete, sogar heute, als sie gar nicht da gewesen war? Wie herrlich wäre es, jetzt in eine leere, aufgeräumte Wohnung zu kommen, sich wortlos und spontan mitten in der Nacht in die Badewanne legen zu können und ungestört vor sich hin zu sinnieren und zu verarbeiten, was vorhin in Freiburg auf sie eingestürmt war. Sie machte sich schreckliche Sorgen um ihre Mutter, aber das Allerletzte, was sie jetzt wollte, war, diese Sorgen mit Jörg zu teilen. Jörg sollte für die schöne Seite des Lebens stehen. Dunkle Familiengeschichten machte sie besser mit sich allein aus.

»Erzähl doch, wie ist es gelaufen? Wie geht es deiner Mutter?«, drängte Jörg, strampelte die Flauschdecke fort und setzte sich auf. Er fuhr sich durch die halblangen schwarzen Locken. Er war bestimmt der attraktivste, klügste, humorvollste und zärtlichste Mann auf der Welt, jeder Tag mit ihm war einmalig. Aber heute, jetzt und hier, hätte sie ihn am liebsten weggebeamt.

Was ging es ihn an, wie der Weihnachtstag in Freiburg gewesen war?

»Nicht gut«, murmelte sie und lief an ihm vorbei ins Schlafzimmer, zog sich aus und ging zur Badewanne, um das Wasser einzulassen. Schon stand er hinter ihr, umarmte sie, küsste ihr den Nacken, und Ebba musste sich zusammennehmen, um ihn nicht mit einem gezielten Griff abzuwehren.

Sie machte sich los, und es war ihr schon zu viel, ihm nun erklären zu müssen, dass sie – zumindest für den Rest der Nacht – allein sein wollte. Es war unfair, das wusste sie selbst. Immerhin hatte Jörg ihr eigentlich über Weihnachten eine gemeinsame Wellnesswoche in einem Luxushotel in der Schweiz geschenkt und das Ganze wegen ihr und ihrer Familie so kurzfristig absagen müssen, dass er auf den enormen Stornokosten sitzen geblieben war.

Dabei war nach dem grauenhaften letzten Weihnachtstreffen in Freiburg ausgemacht worden, dass es gemeinsam verbrachte Festtage in der Restfamilie Seidel nicht mehr geben sollte. Ohne Georg und Maria hatten sich Ebba und Rosie in der Wohnung ihrer Mutter im vergangenen Jahr extrem unwohl gefühlt, zumal ihre Mutter noch später als üblich von ihrem Betkreis heimgekehrt war. Gerade mal zwei Stunden hatten sie miteinander verlebt, und auch die waren von Anspannung und Tränen geprägt gewesen. Die Trauer um Georg war noch zu frisch und steigerte den Büßergedanken ihrer Mutter ins Unerträgliche.

Keine Treffen mehr an Weihnachten, hatten Rosie und Ebba daraufhin beschlossen, und ihre Mutter hatte erleichtert zugestimmt. Wahrscheinlich hatte sie sich ausgemalt, wie es wäre, die Betrunde nun nicht mehr vorzeitig verlassen zu müssen, nur um ihre Töchter zu sehen.

Doch dann war alles anders gekommen. Als Ebba anrief, um sich in den Weihnachtsurlaub mit Jörg zu verabschieden, hatte Frieda Seidel einen Heulkrampf bekommen und nicht mehr aufhören können.

»Aber du betest doch eh lieber«, hatte Ebba ihr hilflos entgegengehalten. Das Weinen am anderen Ende war noch heftiger geworden, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, als alle Pläne über den Haufen zu werfen, Rosie zu überreden, ebenfalls zu kommen, und sich schließlich wie üblich am ersten Feiertag in ihr Cabrio zu setzen und nach Freiburg zu fahren.

Ebba war erschrocken, als sie ihre Mutter blass, mit trockenen Lippen, stumpfen Haaren und trüben, rot geweinten Augen vor sich sah. Keine Spur von der beherrschten, korrekt gekleideten Dame. Sie hatte seit dem letzten Jahr stark abgenommen, auf ihrem viel zu weiten Rock gab es einen großen, eingetrockneten Teefleck, die Bluse hatte einen schmutzigen Kragen, die Strickjacke war schief zugeknöpft. Was Ebba am meisten erschreckte, war, dass ihre Mutter mit keinem Wort den Betkreis erwähnte und auch keine Anstalten machte, die Wohnung für die nächsten Stunden zu verlassen. Im Gegenteil, sie klammerte sich zitternd an sie und hörte nicht mehr auf zu weinen.

»Georg ist seit fast zwei Jahren tot«, versuchte Ebba sie zu trösten.

»Georg?«, entgegnete die Mutter schluchzend. »Damit muss man sich abfinden. Ich habe so viele Seelenmessen für ihn abhalten lassen wie nur möglich, und ich stelle mir vor, dass es ihm im Himmel endlich gut geht und dass ihm dort jemand sagt, welch ein perfekter Mann, Sohn und Bruder er war.«

Sie schnäuzte sich und ließ sich auf das grüne Ledersofa fallen, während sie ihren Kopf senkte und ihr Kinn schon wieder verdächtig zu beben anfing.

»Was ist los, Mama? Hast du dich mit dem Betkreis verkracht?«

Ihre Mutter zuckte zusammen. »Ach, Kind«, stöhnte sie, »verkracht – wenn es so einfach wäre.«

Mehr war nicht aus ihr herauszubekommen, selbst die verbindliche Rosie schaffte es nicht, die Stimmung zu drehen. Aber sie merkten, dass das Zusammensein ihrer Mutter guttat, und so blieb auch Ebba an diesem Abend länger als gewöhnlich.

Sie war höchst ungern heimgefahren, eigentlich nur, weil sie sich Jörg gegenüber wegen des verpatzten Urlaubs verpflichtet fühlte, und das ärgerte sie auch wieder. Sie würde sich in Zukunft mehr um ihre Mutter kümmern, nahm sie sich fest vor, und sie würde versuchen, mit Jörg wieder auf die Basis von vor zwei Jahren zurückzukehren. Versuchen? Nein, sie musste es tun, sonst würde sie ersticken.

Sie tauchte im heißen Schaumbad unter und war froh, dass er so rücksichtsvoll war, sie allein zu lassen. Allmählich spürte sie, wie sich ihr Körper entspannte, auch wenn ihr Kopf nicht abschalten konnte. Immer wieder durchlebte sie die Szenen mit ihrer Mutter, ohne das Rätsel für deren Depression lösen zu können. Depression? Es war mehr gewesen als das. Verzweiflung? Auch nicht. Furcht! Aber wovor? Und warum fand sie nicht einmal in der Kirche mehr ihren Frieden, wie es doch ihr ganzes Leben hindurch der Fall gewesen war? Sie schien seit geraumer Zeit nicht mehr außer Haus gegangen zu sein, der Kühlschrank war leer gewesen, sogar von ihren geliebten Kräutertees hatte es nur noch einige Krümel gegeben.

Rosie hatte sich zum Glück bereiterklärt, ihre Heimfahrt um zwei Tage zu verschieben – die Geschäfte in Schleswig liefen so gut, dass sie es wagen konnte, den Laden etwas länger geschlossen zu halten, und zum neuen Jahr würde sie sogar eine Vertreterin einstellen können. Übernächste Woche würde dann Ebba erneut nach Freiburg fahren und nach dem Rechten sehen, hatten sie vereinbart.

Auf Dauer ging das natürlich nicht. Am besten war es wohl, mit Friedas Pfarrer zu sprechen. Vielleicht wusste der, was vorgefallen war und wie man es aus der Welt räumen konnte. Es handelte sich gewiss nur um ein Missverständnis, das ihrer Mutter die Teilnahme an dem Betkreis vergällt hatte. Frieda Seidel konnte doch ohne diesen Kreis nicht existieren.

Was Ebba besonders Angst machte, war diese diffuse Furcht in Friedas Andeutungen, die ihr bekannt vorgekommen war. Sie hatte sie an Georgs wirre Worte und sein Unbehagen in seinen letzten Lebenstagen erinnert.

Ebba tauchte ein letztes Mal unter, aber es war alles andere als angenehm; im Gegenteil, sie fror im warmen Wasser, als trieben keine Schaumwölkchen auf der Oberfläche, sondern Eisschollen.

Im Dunkel der Schuld

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