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ZWEI

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Nebelbänke hingen in der Rheinebene, tiefe Wolken schmiegten sich wie Hermelinmäntelchen um die mit Raureif überzuckerten Höhen des Schwarzwalds, an den Rändern der gefährlich glitzernden Autobahn lag Matsch, die Menschen in den überholenden oder überholten Autos sahen frustriert und gestresst aus.

Ebba war froh, früher losgefahren zu sein, obwohl es ihr schwergefallen war, sich von Jörg loszureißen. Knapp ein halbes Jahr kannten sie sich jetzt; er hatte zur Eröffnung ihrer Galerie eine große Fotoreportage in mehreren Kunst- und Freizeitmagazinen veröffentlicht, und sie waren danach in Kontakt geblieben, der sich stetig vertieft hatte.

Gestern war er zum ersten Mal über Nacht geblieben, und es hatte ihr überraschend gutgetan. Schade nur, dass der Morgen dann so schrill begonnen hatte.

Um eine ähnliche Situation künftig zu vermeiden, hatten sie noch vor dem Frühstück die Schlafzimmertür aus den Angeln gewuchtet und an die Wand gelehnt. Der Hausmeister würde sie nach den Feiertagen zu den anderen Türen in den Keller schaffen. Dann hatte er sie liebevoll in den Arm genommen und ihr ins Ohr geflüstert, sie brauche sich keine Sorgen zu machen, er werde ihr so viel Zeit lassen, wie sie benötige.

»Mit dieser Nacht sind wir zu einem Marathon angetreten, Liebes«, murmelte er in ihr Haar, und es tat gut, ihm zu glauben, auch wenn ihr alles viel zu schnell und unwirklich vorkam. Konnte Liebe wirklich unkompliziert sein? Gab es einen Pferdefuß, den sie übersehen hatte? Hätte sie überprüfen sollen, was er ihr über sich erzählt hatte? Aber warum sollte er sie anlügen? Er war früher Enthüllungsjournalist mit Leib und Seele gewesen, hatte darüber sträflich seine Familie vernachlässigt und sich nach der Scheidung auf freie Fotoreportagen für Lifestyle-Magazine konzentriert, und er liebte seine halbwüchsige Tochter Lisa, die jedes zweite Wochenende bei ihm verbrachte. Sie wusste, wo er wohnte, sie sah seine Arbeiten in diversen Hochglanzzeitschriften, sie kannte sein Auto, seine Telefonnummer und seit dieser Nacht auch das Muttermal auf seinem Rücken, das wie eine kleine Spinne aussah.

Ebba reihte sich in die Abbiegespur zur Stadtmitte ein und zwang sich, sich auf die Stunden zu konzentrieren, die vor ihr lagen. Hoffentlich ließ Mutter sie mit ihrer ewigen Beterei in Ruhe. Hoffentlich kam Rosie pünktlich. Hoffentlich stellte Georg mit seinem Ordnungsfimmel nicht wieder die ganze Wohnung auf den Kopf. Aber seine Maria kam ja mit, die mit unglaublicher Sanftmut all seine Schwächen und Zwänge ertrug.

Beim Einparken am menschenleeren Volkshauser Klosterplatz verkündeten mächtige Glockenschläge, dass es Mittag war. Ihre Mutter wartete bestimmt schon, damit sie zum nächsten Gottesdienst und danach nahtlos in ihren Betkreis kam. Beten war ihr Lebensinhalt, so lange Ebba zurückdenken konnte. Nie war ihre Mutter da gewesen, wenn sie sie gebraucht hatten, stattdessen hatte sie sich in der Kirche die Knie wundgescheuert. Nach dem Vorfall war sie nach Freiburg gezogen und hatte eine sehr ansehnliche kleine Drei-Zimmer-Dachwohnung mit Balkon und Münsterblick gefunden. Wenn sie nur das Beten abgelegt hätte, dem sich alles andere unterzuordnen hatte.

Prustend zerrte Ebba die Klappkiste mit den Vorräten vom Beifahrersitz und schleppte sie zum Eingang, klingelte und hievte, als die Tür aufging, ihre Last zum Aufzug. Prüfend überflog sie die Zutaten für das Festmenü, die sie mitgebracht hatte: die Bio-Gans, die sie schon gestern gefüllt hatte, dazu Blumenkohl, Wirsing und Rotkohl, als Vorspeise Rote-Bete-Carpaccio mit Ziegenfrischkäse und Feldsalat, als Nachtisch sizilianische Orangen. Seit ihrer Jugend kochte sie gern – erst, um zu überleben, dann jedoch hatte sich Leidenschaft entwickelt.

Die Lifttüren gingen auf. Ebba drückte den Knopf zur fünften Etage und schubste die Kiste in die Kabine, dann beobachtete sie, wie sich die Türen schlossen, bevor sie leichtfüßig die Treppen hinauflief.

Oben wartete ihre Mutter in Hut und elegantem Mantel. Neben ihr stand ein Korb mit einer abgedeckten Schüssel darin. Ohne Begrüßung tippte sie auf ihre Armbanduhr.

»Elisabetha, schade, dass du so spät bist. Ich muss los. Hier ist der Schlüssel. Tut mir leid, dass ich dir nicht helfen kann.«

Ebba gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Wann bist du zurück?«

»Vielleicht gegen sechs.«

»Mama! Kein Mensch kann sechs Stunden am Stück beten. Jetzt kommen wir doch nur einmal im Jahr …«

»Genau. Und für die restlichen 364 Tage hat Georg seine Maria, Rosie ihre Bücher, du die Galerie, und ich – ich habe eben meinen Betkreis. Das ist mein Leben. Wir sind dort eine große Familie. Ich kann sie nicht im Stich lassen. Niemand von ihnen hat noch Angehörige. Wir haben eine kleine Andacht geplant und anschließend eine Weihnachtsfeier.« Sie machte eine Kopfbewegung zum Korb. »Ich bin diesmal für den Nachtisch zuständig. Ich hätte euch auch eine Schüssel Mousse au Chocolat gemacht, aber das willst du ja nicht.«

»Die Gans ist um sechs Uhr fertig. Pünktlich.«

»Du weißt doch …«

»Ja. Für dich gibt es natürlich Gemüse. Drei Sorten.«

»Du bist ein Schatz. Ich kann nichts versprechen, aber vielleicht bin ich etwas früher da.«

Ebba glaubte ihr kein Wort, zwang sich jedoch ein Lächeln ab. Dann brachte sie die Vorräte in die zweckmäßig eingerichtete kleine Küche und öffnete alle Zimmertüren. Am Garderobenspiegel im Flur hielt sie inne, um ihre Frisur zu bändigen. Hoffnungslos. Als stünde sie unter Strom. Dabei ging es ihr doch wirklich gut nach dieser Nacht. Schnell noch ein wenig rosa Lippenstift; die Farbe passte gut zu den weißblonden kurzen Haaren. Sie war dennoch nicht zufrieden mit ihrem Aussehen. Zu klein, zu dünn, zu blass. Wer nicht wusste, dass sie neunundzwanzig war, hielt sie mit ihren zierlichen 1,62 Metern manchmal für einen Teenager. In der Tat würde sie leicht in Kinderkleidung passen.

Ebba schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse und warf einen Blick ins Wohnzimmer. Der Tisch war nicht gedeckt, es gab keinen Weihnachtsschmuck wie bei ihr zu Hause auch nicht. Sie hatten nur einmal versucht, Weihnachten wie alle anderen zu feiern, und das war gründlich schiefgegangen. Das brauchte kein Mensch noch einmal. Aber Kerzen, schönes Geschirr, Servietten, Tafelsilber – das gehörte sich für einen Feiertag. Später. Maria würde ihr bestimmt dabei helfen und wieder beklagen, wie kahl diese Wohnung war. Kein Nippes, keine Bilder, keine Blumen, keine Kissen, keine Teppiche, keine Tischdecken, keine Fotos. Nur Kruzifixe über jeder Tür. Jedes Möbelhaus sah heimeliger aus. Dies hier war ganz offensichtlich eine Wohnung, die hauptsächlich zum Schlafen gebraucht wurde. Den Rest des Tages verbrachte Frieda Seidel in der Kirche.

Ebba ging zurück in die Küche und schaltete den Herd ein, konzentrierte sich ganz auf ihre Handgriffe. Wie üblich vergaß sie darüber die Zeit, und so schreckte sie hoch, als es klingelte.

Maria stand allein vor der Tür. Auf ihren langen, pechschwarzen, glatten Haaren schimmerten Schnee- oder Regentropfen, das gewohnte breite Lachen lag auf ihrem runden Gesicht, und ihre schwarzen Augen blitzten, als sie ihre Arme ausbreitete.

» Merry Christmas! Frohe Weihnachten, Ebba!«

Schweigend umarmte Ebba ihre mollige Schwägerin, die nach frisch gewaschener Wäsche und warmem Kuchenteig roch. Maria war genau das Gegenteil von ihr; sie bestand nur aus Gefühl und Freundlichkeit.

Und wie sie plapperte! Wie ein kleiner Wasserfall, aus dem die Worte so rund wie Murmeln kullerten.

»Georg nimmt die Treppe, wie immer. Oh, es riecht wonderful! Ich würde meiner Familie so gern ein Rezept schicken, aber ich fürchte, sie würden in ganz Manila keine deutsche Gans finden.«

»Wie war die Fahrt?«

Maria wurde ernst. »Nicht gut.« Sie warf einen sorgenvollen Blick zurück zum Treppenhaus. »Er ist im Augenblick etwas nervous – nein, wie sagt man? Angespannt.«

»Komm, ich helf dir aus dem Mantel. Was meinst du mit angespannt?«

»Well, er glaubt, dass etwas nicht stimmt, und dann …« Sie stockte kurz, um nach einem Wort zu suchen. »Dann gibt er mir Schuld.« Maria fuhr sich über die Augen, danach lächelte sie wieder. »Das wird wieder okay. Vielleicht zu viel Arbeit im Moment. Vielleicht …«

Draußen im Treppenhaus war ein erstickter Laut zu hören. Maria unterbrach sich und eilte, gefolgt von Ebba, zur Wohnungstür zurück.

Mit bläulichen Lippen und schwer atmend lehnte Georg neben der Tür, den Mantel sorgfältig gefaltet über dem Arm, die Krawatte für seine Verhältnisse skandalös weit gelockert. Zitternd wischte er sich mit seiner rissigen roten Hand den Schweiß von der Stirn.

»Fünf Stockwerke«, flüsterte er und drückte sich mit halberhobenen Armen in den schmalen Flur, »sind etwas viel für mein Herz. Lasst mich bitte durch.«

Er hängte seinen Mantel über einen Bügel, strich ihn glatt und verschwand im Bad, um sich die Hände zu schrubben.

»Wenn du Hilfe brauchst, ruf mich an, Maria, hörst du?«, wisperte Ebba. »Jederzeit! Oder sollte man gleich mit Georg reden?«

»Oh, no, no, bloß nicht. Ebba, please! Bitte!«

Der Küchenwecker rappelte.

»Komm in die Küche, da ist sowieso gemütlicher als hier im Flur.«

»Kann ich helfen?«

»Deckst du den Tisch?«

»Und wenn du bist hier fertig, dann ich wische schnell Boden.«

»Nicht nötig.«

»Oh, du weißt doch! Ich habe nicht umsonst fünf Putzstellen.«

Maria war wirklich das Beste, was ihrem sauberkeitsbesessenen Bruder hatte passieren können, auch wenn es ein Reizthema zwischen den Eheleuten war, dass die Frau eines Steuerberaters es nicht nötig hatte, den Dreck fremder Menschen wegzuwischen. Mit dem eigenen Geld finanzierte sie sich ihre Deutschkurse, und das nötigte Georg, dem »Sparstrumpf«, wiederum Respekt ab.

Ebba drehte die noch blasse Gans auf den Rücken, stach mit einem spitzen Messer in die Flanken, sah die mitgebrachten Gewürze durch und entschied sich, den Beifuß dieses Mal wegzulassen. Stattdessen würde sie etwas Orangenschale zugeben.

Mit angewiderter Miene kam Georg in die Küche und riss das Fenster auf.

»Die ganze Wohnung riecht nach verbranntem Fett«, meckerte er, während er den Kühlschrank öffnete und die Vorräte inspizierte, um sie sodann seufzend nach Haltbarkeitsdatum und Größe zu ordnen. Gleich würde er dasselbe mit dem Vorratsschrank machen und Nudeln, Reis und Zucker umschichten. Dabei schimpfte er weiter. »Warum machst du nicht mal was anderes? Etwas Kaltes würde doch auch reichen.«

»Weil eine Familie Rituale braucht.«

»Welche Familie? Du vielleicht.«

Ebba verzichtete darauf, auf die Uhr zu sehen. Wie viele Minuten hatte es diesmal gedauert, bis Unfrieden ausbrach? Vielleicht sollte sie den Traum von heiler Familienwelt tatsächlich begraben. Vielleicht sollte sie akzeptieren, dass die Seidels auseinanderdrifteten. Vielleicht sollte sie aufhören, ihre Angehörigen einmal im Jahr zusammenzutrommeln. Auch noch hier in diese kleine Wohnung, in der man sich nicht aus dem Weg gehen konnte.

Wozu hatte sie damals diese Schuld auf sich geladen? Doch nur, um die Familie zu retten. Was hatte sie jetzt davon? Eine Mutter, die weiterhin flüchtete, einen Bruder, der mit sich selbst genug zu tun hatte, und …

Wieder klingelte es.

»Das muss Rosie sein. Dann war der Zug pünktlich.«

Ebba schob den Bräter zurück in den Ofen, schlängelte sich an Georg vorbei, der inzwischen das Gewürzregal durcharbeitete, und ging zur Tür. Sie verübelte es ihrer großen Schwester immer noch, so weit fortgezogen zu sein. Schleswig, die Schlei und die Ostsee mochten im Sommer vielleicht für Wassersportler reizvoll sein, aber über die Hälfte des Jahres war es doch trostlos da oben, gleichgültig wie flach es auch war. Kürzlich hatte Rosie auch noch die Buchhandlung »Eulennest« gekauft, in der sie bisher angestellt gewesen war. Sie würde also nie mehr zurückkommen.

Immerhin folgte Rosie der Einladung noch treu und brav jedes Jahr, auch wenn jeder wusste, wie schwer ihr das fiel. Da sich ihre Mutter weigerte, Freiburg zu verlassen, hatten sie keine andere Wahl, als sich im südwestlichsten Zipfel der Republik zu treffen.

Ebba erschrak, als sie ihre Schwester sah. Seit dem letzten Weihnachtsfest hatte sie noch weiter an Gewicht verloren und es offenbar auch aufgegeben, einen guten Friseur zu finden. Eine jugendliche Glitzerspange hielt die hellen Strähnen zu einem Pferdeschwanz zusammen. Weil sie blass und ungeschminkt war, sah sie magenkrank aus. Sie wirkte älter als vierzig, dabei hatte sie erst kürzlich ihren einunddreißigsten Geburtstag gefeiert. Fast unmerklich zuckte ihr Mund, als sie das Gewicht auf den anderen Fuß verlagerte, um Ebba an ihren braunen Lodenmantel zu drücken und ihr die Haare glatt zu streichen. Leider roch sie kein bisschen nach Wind und Meer, sondern nach Mottenkugeln und Bücherstaub.

Aber ihr Lachen machte alles wett; es verwandelte ihre blasse, unscheinbare Schwester jedes Mal in eine unwiderstehlich attraktive junge Frau. Noch einmal fuhren ihre Hände über Ebbas Kopf.

»Deine Haare, also wirklich! Regst du dich schon wieder auf? Lass sie doch wachsen! Dabei siehst du glücklich aus. Wie läuft die Galerie?«

»Besser als erhofft. Ich habe mit dem Standort ein Riesenglück gehabt. Warum kommst du heute Abend nicht mit und siehst sie dir an? Du kannst bei mir übernachten.«

Rosie rang ihre Hände und wurde rot, wie immer, wenn sie nicht wusste, wem sie es recht machen sollte.

»Mama wäre enttäuscht. Sie ist doch viel zu oft allein.«

»Ist sie nicht!«

»Ach, komm, meinst du den Betkreis? Der ist doch kein Ersatz für Familie oder Geborgenheit. Wenn sie wenigstens ein Haustier hätte! Ein Kätzchen würde schon reichen.«

»Sie hätte gar keine Zeit dafür.«

»Ach, Ebba, sei nicht so hart mit ihr. Ich glaube, es ist für sie wichtig, wenn ich bei ihr bleibe. Wenigstens für diese eine Nacht.«

Ende der Diskussion.

Ebba ging zurück in die Küche und hackte auf dem Wirsing herum, während Georg und Maria Rosie begrüßten.

Dann übernahmen Maria und Georg es, den Tisch zu decken. Rosie kam zu ihr in die Küche und gähnte herzhaft.

»Trinkst du einen Kaffee mit? Ich habe die Valium zwar schon um kurz vor sieben genommen, aber irgendwie steckt sie mir noch in den Gliedern.«

Sie warf ihren Mantel über den Stuhl, zupfte an ihrem braunen Schlabberpulli und bückte sich umständlich, um den Inhalt der unteren Küchenschränke zu inspizieren.

»Vergiss es. Da ist nur Kräutertee.« Georg war hinter ihnen aufgetaucht, und Ebba bemerkte seinen verkniffenen Gesichtsausdruck, mit dem er Rosies ausgestrecktes steifes Bein betrachtete.

Rosie blickte liebevoll lächelnd zu ihm hoch und richtete sich mit einem winzigen, unbewussten Stöhnen auf. »Klar. Ich hätte dran denken müssen und Kaffee mitbringen sollen. Meine Schuld.«

Ebba hämmerte noch heftiger auf dem Schneidbrett herum. Nein, es war ihre Schuld. Sie hätte daran denken müssen! Das Essen war ihre Idee gewesen, sie hatte allen gesagt, dass sie für alles sorgen würde. Sie war die Starke. Wenn sie einen Fehler beging, wurde immer jemand bestraft. Und meistens traf es Rosie.

Es hörte nie auf. Und es kam immer wieder hoch. Jedes Jahr an Weihnachten. Ausgerechnet Weihnachten. Dabei hatte sie diesen Termin für die alljährliche Familienzusammenkunft mit Bedacht gewählt. Sie alle hatten sich doch immer insgeheim nach dem Fest gesehnt.

In ihren Schläfen begann es zu pochen. »Hat jemand eine Kopfschmerztablette für mich?«, fragte sie.

Stille. Genauso gut hätte sie nach einer Bombe oder einem Joint fragen können. Tabletten einzunehmen war im Haushalt Frieda Seidel tabu. Selbst Rosie würde ihrer Mutter nie verraten, dass sie es nur mit Valium nach Freiburg schaffte.

Es dauerte eine Sekunde, bis sich die kollektive Schockstarre löste, Maria wieder mit dem Staublappen über die Möbel fuhr und Georg die Wassergläser wie Soldaten auf dem Esstisch aufstellte.

Rosie seufzte kurz und hinkte zu ihrer Reisetasche. »Ich habe was für euch«, verkündete sie gut gelaunt. »Schaut. Ich hoffe, ich habe das Richtige getroffen.«

Ebba ließ das Messer sinken. Nicht schon wieder! Sie hatten abgemacht, sich nichts zu schenken. Alle hielten sich daran, nur Rosie mal wieder nicht.

Zugegeben, das Prachtbuch über den Louvre war wunderschön. Bei Maria löste der Bildband über die Philippinen einen Schwall Tränen aus, und Georg murmelte verlegen Dankesworte, als er die extra pflegende Handcreme auspackte, die Rosie in Dänemark für ihn besorgt hatte.

Ebba jedoch blieb der Dank im Hals stecken. Sie wusste, dass Rosie eine Reaktion erwartete. Irgendeine Regung. Ein Lächeln, eine Umarmung, ein liebes Wort. Einen Ausdruck von Freude. Aber es ging nicht. Gefühle zu zeigen war etwas für schwache Menschen wie Maria, die sich kaum mehr beruhigen konnte. Man kam nicht sehr weit im Leben, wenn man anderen zeigte, wie es in einem aussah. Auch Jörg hatte schon ein paarmal irritiert gewirkt, wenn sie nach außen kühler reagierte, als er es sich wohl wünschte oder erwartete.

Ihr Kopf stand inzwischen lichterloh im Kreuzfeuer von Hammer und Amboss. Es dröhnte und klopfte, als würde ihr Schädel gleich explodieren.

Ebba legte das Buch auf einen Stuhl und presste ihre Finger gegen die Schläfen, massierte kreisend in den Schmerz hinein, doch der ließ sich nicht bändigen und breitete sich immer weiter aus, fuhr ihr in den Nacken, zog ihre Schultermuskeln zusammen. Und es wurde nicht besser, als ihr Blick auf Rosie fiel, die mit bebender Unterlippe gegen die Tränen kämpfte.

»Du hast es schon, oder? Es ist erst letzten Monat auf den Markt gekommen, deshalb dachte ich, du freust dich …«

Gleich würden alle Dämme brechen. Ebba rang sich ein Lächeln ab. »Doch, sehr schön, Rosie, aber wir wollten uns nichts schenken. Ich habe auch nichts für dich.«

»Ach, das ist es! Ich dachte schon, du freust dich nicht. Lass gut sein, Ebba, ich schenke doch gern, das weißt du. Du musst deswegen kein schlechtes Gewissen haben.«

Die Schmiede in ihrem Kopf bekam Unterstützung von mehreren Presslufthämmern, die jeden einzelnen Nerv bloßlegten. Vor ihren Augen begann es zu flimmern, sie musste sich setzen. Ganz kurz nur.

»Ist der Tisch gedeckt? Mama kommt gleich, dann können wir anfangen«, hörte sie sich sagen, und es wunderte sie, wie beherrscht das klang. Ganz und gar nicht nach jemandem, der gleich zu Boden gehen würde.

Energisch stützte sie ihre Hände auf die Knie und stand auf, streckte das Kreuz durch, ging ans noch offene Fenster und machte ein paar tiefe Atemzüge. Die kalte Luft tat gut. Sie musste sich beruhigen. Vielleicht fand sie irgendwo eine Tinktur oder einen Balsam, den sie auf die Schläfen reiben konnte. Solche Hilfsmittel ließ Frieda Seidel gelten. Aber Ebba wollte das Wort Kopfschmerz nicht noch einmal in den Mund nehmen. Schon gar nicht nachher im Beisein ihrer Mutter, denn das konnte weit Schlimmeres auslösen.

Nein, sie würde gar nichts sagen und sich nichts anmerken lassen. Man musste funktionieren, wie immer – auch an diesem Tag des Jahres.

Im Dunkel der Schuld

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