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Aber Frieda konnte es nicht.

Sie wusste ja selbst nicht, wie alles begonnen hatte und warum sie Bruno – ausgerechnet ihn – so vergöttert hatte, bis er unweigerlich zu dem wurde, den sie zum Schluss alle, alle miteinander …

Diese Schuld, die die nächste nach sich zog wie eine Spirale, trieb sie alle unaufhaltsam hinab in die Hölle.

Herr, vergib uns.

Aber sosehr sie sich auch bemühte, ihre herumwirbelnden Gedanken an die gewohnten tröstlichen Gebete und Psalmen zu ketten – diesmal war es zu spät. Die Erinnerungen an die Anfänge ließen sich nicht mehr zurückdrängen.

Wie Brocken von Erbrochenem stiegen die Worte in ihr hoch, ließen sie würgen und sich dann doch hinausspeien.

Erleichterung brachte das nicht, aber vielleicht konnte sie auf diese Weise auf Verständnis hoffen – oder wenigstens auf Trost, den sie doch genauso nötig hatte wie ihre Töchter, wenn nicht sogar nötiger.

Was hatte sie im Leben nicht alles erdulden müssen, viel mehr als ihre Kinder. Denn die waren wenigstens miteinander und mit einer Mutter aufgewachsen, die sie liebte. Sie selbst aber war von Anbeginn verdammt gewesen.

»Ein Mädchen, nur ein Mädchen.«

Das war alles, was Clemens Hansen zu sagen hatte, als er sie das erste Mal erblickte. Dann hatte er sich abgewandt und das Zimmer verlassen, in dem sie unter großem Leid geboren worden war und ihr Leben gegen das ihrer Mutter eingetauscht hatte. Aber sie konnte doch nichts dafür. Nie!

Clemens Hansen sah das anders. Er stellte ein Kindermädchen ein und kümmerte sich fortan nicht mehr um sie. Kein liebes Wort, keine Ermunterung, kein Lachen, schon gar kein Stolz. Seine Familie war nun die Wurstfabrik, in der blutige Schweinehälften mit Fett, Schwarten und Gewürzen zu teuren Pasteten verarbeitet wurden.

Als er kurz vor ihrem siebzehnten Geburtstag seinen ersten Herzinfarkt bekam, besann er sich darauf, dass er ein Kind, eine Erbin, hatte, nahm Frieda von der Schule und zwang sie, in seinem Betrieb zu arbeiten. Es war ihm gleichgültig, dass sie sich vor Fleisch und Wurst ekelte. Zwei Jahre lang musste sie alle Arbeitsplätze in der Firma durchlaufen und sich anstrengen. Sie sollte Chefin werden, sollte selbst Hand anlegen können, Mixturen probieren, Marketing organisieren, über Land fahren und das beste – sprich günstigste – Fleisch einkaufen.

Aber sie konnte es nicht. Sie übergab sich mehrmals am Tag, litt unter Migräne, die Clemens nicht als Krankheit akzeptierte, wurde immer dünner.

Irgendwann verstand er, dass sie seinen Anforderungen nicht genügen würde, und der Funke Interesse in seinen Augen wich der früheren ausdruckslosen Verachtung. Also wählte er den Sohn eines befreundeten Großschiachters aus und beschloss, die beiden zu verheiraten. Frieda, oder »Friedchen«, wie er sie herablassend nannte, wurde nicht gefragt.

Zur gleichen Zeit stellte er für sich einen Chauffeur ein, Bruno Seidel.

»Ich war vom ersten Tag an von ihm fasziniert. Er war früher ganz anders, als ihr ihn kennt. Natürlich war er älter als ich, sehr viel älter, fast so alt wie mein Vater. Damals schon Mitte vierzig. Er sah gut aus, immer noch blond, sportlich, groß. Er hatte die Welt gesehen und erzählte mir von Paris, Madrid, Mailand, München, Hamburg, Bremerhaven. Manches stimmte, vieles war erfunden, aber das erfuhr ich erst später. Er hat uns alle getäuscht, denn er war gar nicht der weltgewandte Mann, als den er sich selbst gern sah.«

Frieda schluckte trocken und wurde still. Sollte sie wirklich alles erzählen? Den Kindern den letzten Respekt vor ihrem Vater nehmen?

Natürlich war es Elisabetha, die nicht lockerließ.

»Wer war er dann?«, fragte sie drängend. »Sag es uns, Mama, wenigstens heute.« Und Frieda wurde klar, dass es diesmal kein Ausweichen geben konnte. Heute, an jenem Tag, an dem sie ihren Sohn zur letzten Ruhe hatte begleiten müssen, heute war es an der Zeit zu reden. Auch wenn es schwerfiel, und Frieda sich unwillkürlich an die Brust griff und das schwere Kreuz in ihre Hand gleiten ließ. Viel Kraft gab es ihr leider nicht. Ob sie um eine Pause bitten und sich zum Abendgebet zurückziehen sollte? Ihre Kinder waren leider nicht so gläubig, wie sie es gern gesehen hätte, nur Maria bekreuzigte sich oft und betete voller Inbrunst mit, wenn es sich anbot.

»Mama, bitte!«

Nein, sie würde nichts über die Kriegsjahre berichten, in denen Bruno mit gerade mal siebzehn zur Wehrmacht kam und als hübscher junger Mann sofort in den Innendienst der Luftwaffe abkommandiert wurde. Auch würde sie nicht erzählen, dass er später in Gefangenschaft geriet und Ende der 1940er-Jahre trunksüchtig und depressiv zurück in die fremd gewordene Heimat kam, wo es ihm schwerfiel, Fuß zu fassen. Immer und immer wieder hatte sie sich seine Geschichten anhören müssen, wenn er sein Selbstmitleid ertränkte und redselig wurde. Ein Wunder, dass er damals den Führerschein behielt. Und ein zweites Wunder, dass er zur Stelle war, als Clemens Hansen einen Chauffeur suchte.

»Er war schon immer ein begnadeter Maler gewesen, aber davon konnte er natürlich nicht leben«, sagte sie stattdessen und hoffte, niemand würde tiefer in die Vergangenheit dringen wollen. »Er hatte sich nach dem Krieg mit Gelegenheitsjobs wie zum Beispiel als Strumpfverkäufer über Wasser gehalten, dann aber auch eine Zeit lang als freiberuflicher Grafiker gearbeitet. Ich weiß nicht, ob ihr euch noch an Fotos und Plakate von früher erinnern könnt, auf denen dieses geschwungene ›m‹ in lateinischer Schrift für Milchwerbung zu sehen war. Das hat euer Vater entworfen. Leider ohne Vertrag, und so sah er überall, wenn er über Land fuhr, seinen Schriftzug, hatte aber nur ein paar D-Mark dafür als Lohn bekommen. Das ärgerte ihn lange Zeit – zu Recht.«

»Hat er nie versucht, Tantiemen einzuklagen?«

Wieder war es Elisabetha, die alles genau wissen wollte. Woher das Mädchen das nur hatte?

Frieda schüttelte den Kopf. »Dass das möglich gewesen wäre, ist ihm erst viel, viel später aufgegangen, als er schon erfolgreicher Maler war. Da brauchte er das nicht mehr.«

»Stimmt«, unterbrach ihre Jüngste sie wieder. »Geld war ja das Einzige, was wir immer genug hatten. Er wurde Chauffeur und heiratete die Tochter des Chefs. Wie praktisch.«

»Ganz so einfach war es nicht. Ich war ja noch minderjährig und mein Vater wollte partout seine Fabrik in kundige Hände geben. Der passende Bräutigam war schließlich schon ausgesucht. Eine Woche nach meinem einundzwanzigsten Geburtstag sollte die Hochzeit stattfinden.«

Frieda schloss die Augen, weil der Ekel wieder in ihr hochstieg. Kurt hatte der feiste Kerl geheißen, er hatte Finger wie Bockwürste und fast weiße, dicke Lippen gehabt, die wie ungebrühte Bratwürste kalt auf ihrem Hals und ihrem Ausschnitt lagen und sich an ihrer Haut festsogen. Mehrmals war ihr in seinem nach Tierblut, Majoran und verwesenden Fleischresten riechenden Mercedes schlecht geworden, und immer hatte sie ihre Beine verkrampft zusammengepresst, wenn sich seine breiten Hände grob einen Weg unter ihren Rock zu bahnen versuchten.

Und dann war da Bruno gewesen, der über der Garage in einer kleinen Wohnung hauste und im Sommer Tisch und Stühle auf ein seitliches Rasenstück trug, Rotwein trank, die neuesten Schlager im Radio abspielte und dazu Landschaften malte, die es in Wirklichkeit gar nicht geben konnte, so geheimnisvoll und farbenprächtig waren sie. Sie glichen japanischen Stillleben, zeigten Berge, Wasserfälle, kleine Farbtupfer, von denen man nicht wusste, ob sie Menschen oder Blumen darstellten, wolkige Himmel, in denen einarmige kleine Männer schwebten.

Immer öfter zog es sie zu ihm und zu seinen Geschichten, die in ihrer Poesie den Bildern nicht nachstanden.

»Mama, ich bitte dich. Wann soll das gewesen sein? So schnell kann sich ein Mensch nicht zum Negativen ändern. Du hast ihn so rosig sehen wollen, stimmt’s?«

»Glaubt mir bitte, er war wirklich anders. Gut, er hat immer schon getrunken, aber nicht so viel wie später.«

Jedenfalls nicht in ihrer Gegenwart. Oder hatte Elisabetha recht? Verklärte sie ihn? Es gab ja auch damals schon die dunklen, brutalen Seiten an ihm, die fordernden, dominierenden, keinen Widerspruch duldenden. Wie zum Beispiel an jenem Abend, als sie ihre Unschuld verlor. Aber das würde sie ihren Kindern nicht offenbaren, diese Erinnerung gehörte nur ihr allein.

Obwohl ihr Vater ihr den Umgang mit Bruno längst verboten hatte – oder vielleicht gerade deswegen –, war sie an jenem Abend zu ihm geschlichen. Es war eine warme Sommernacht. Das Glitzern in seinen Augen, mit dem er sie im Schein der kleinen Öllampe von Kopf bis Fuß angesehen hatte und das später zum Alarmzeichen für sie wurde, war ihr betörend männlich vorgekommen. Ja, hier war ein anziehender erwachsener Mann, der sie, die kleine, schüchterne, unscheinbare Frieda Hansen, begehrte. Ein Schauer erfasste sie, als er ihre Hand nahm und mit seinen harten Fingern von der Handinnenfläche über die empfindliche Ellbogenbeuge zur Achselhöhle und dann fordernder an ihre Brust strich, wie er zudrückte, bis sie erschrocken und vor Schmerz aufschrie, wie das Glitzern in seinen Augen zunahm, er noch einen Schluck aus der Weinflasche trank und sie dann an sich zog, kompromisslos, sodass Gegenwehr außer Frage stand. Wie er seinen harten Mund auf den ihren presste, wie eine Hand ihren Kopf festhielt, während die andere ihr das Kleid erst aufknöpfte, dann mit einem Ruck aufriss, wie seine Hand ihre Unterwäsche beiseiteschob, sich ihren Weg bahnte, bis sie wieder vor Schmerzen aufschrie, wie er ihr befahl, still zu sein, um den Vater nicht zu wecken, wie er sie ins Gras legte, nein, warf, wie er sich über sie legte, sie mit seinem Gewicht fast erstickte, und sie dann immer gewalttätiger kniff und presste und kratzte, sie auf den Bauch drehte, ihr den Mund zuhielt und in sie eindrang, kurz, heftig, rücksichtslos. Wie er danach wortlos aufstand, die Hose schloss, die Weinflasche griff und zur Treppe zu seinem Zimmer ging, sie mit dem gleichen leeren Gesichtsausdruck wie ihr Vater liegen ließ wie ein Stück …

Frieda erschrak, als sie sich selbst stöhnen hörte, und sie zwang sich zurück in die Gegenwart, in der drei Augenpaare sie erschrocken anstarrten.

»Nein, wirklich«, beeilte sie sich, die anderen mit einem Lächeln zu beschwichtigen. »Er war früher anders. Da gab es noch keinen Schnaps. Ja, ich glaube immer noch, dass nur der Alkohol ihn so verwandelt hat.«

»Sag bitte nicht, dass er keine Schuld hatte – alles, aber das bitte nicht.«

Woher hatte Elisabetha nur diesen scharfen Verstand und diese Kämpfernatur?

»Wie auch immer – wir kamen uns näher, und ich wurde schwanger. Alles hätte schön werden können, aber mein Vater …«

Schon wieder musste sie eine Pause einlegen.

»Wir brauchten damals seine Einwilligung zur Hochzeit, denn ich war mit zwanzig noch nicht volljährig. Er war entsetzt, als er hörte, dass es nichts mehr zu diskutieren gab, weil Georg unterwegs war. Er richtete uns eine große Feier aus, aber gleich danach starb er.«

Mit Tränen in den Augen sprang Rosie auf. »Oh, wie furchtbar für dich! Es war bestimmt das Herz wie bei Georg, oder?«

Frieda zögerte. Sie durfte nicht lügen, aber die ganze Wahrheit wollte sie ihren Kindern nicht zumuten. Sie ignorierte also Rosies Frage und fuhr möglichst ausdruckslos fort: »Der Rest ist schnell erzählt. Bruno erbte als mein Mann alles, das war damals noch so. Er verkaufte die Fabrik und kaufte uns das Haus in Baden-Baden. Er war mit meinem Vater öfter hier gewesen, und es hatte ihm gut gefallen. Das Casino, die Thermalquellen, das gute Essen …«

»Und das Trinken!«

»Ebba, bitte, reiß dich zusammen. Mami will ihre Geschichte erzählen, und du unterbrichst sie ständig und machst alles nieder. Manchmal bist du genau wie Papa.«

»Das nimmst du zurück!«

»Kinder, bitte. Ich bin ja gleich fertig. Vielleicht war es der Ortswechsel, der mir so zu schaffen machte, dass ich den Boden unter den Füßen verlor, ich weiß es nicht. Ich kannte niemanden hier, ich war einsam, saß mit Georg in dem Riesenhaus weitab von der Stadt, hatte keinen Führerschein, war auf euren Vater angewiesen, der sich tagelang in sein Atelier verkroch, um zu malen. Irgendwann lief ich mit Georg im Kinderwagen in die Stadt, ging in eine Kirche und traf auf Pfarrer Müller – könnt ihr euch noch an ihn erinnern? Georg empfing von ihm später die erste heilige Kommunion. Nein, ich sehe schon, da wart ihr noch zu klein. Nun, jedenfalls sorgte die Gemeinde rührend für mich, sie richteten einen Fahrdienst zu den Gottesdiensten und sonstigen Zusammenkünften ein, sie nahmen mich wie ein Familienmitglied auf, während zu Hause … Nun, das wisst ihr selbst am besten.«

»Ja, da tobte der Bär. Papa schwankte hin und her zwischen ungestörter Einsamkeit im Atelier, wo ihn schon das Sirren einer Mücke ausrasten ließ, und den ausschweifenden Feiern mit seinen sogenannten Freunden. Saufkumpane trifft es wohl eher.«

Diesmal widersprach Frieda nicht.

Und wieder war es die kalte Verachtung in seinen Augen, an die sie sich mit aller Deutlichkeit erinnerte. Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr hatte sie gehofft, in diesen Augen noch einmal jenes glitzernde Begehren der ersten Nacht zu sehen, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich wahrgenommen worden war. Seit jener Nacht war sie süchtig gewesen nach diesem Ausdruck.

Sie hatte alles erduldet und entschuldigt, in der Hoffnung, seinen Respekt noch einmal zurückzuerlangen, sie hatte ihn gewähren lassen, hatte versucht, ihm alles recht zu machen, aber sie hatte es nicht vermocht. »Ich kann nicht, ich kann nicht« war sodann ihr Leitspruch geworden, der sich immer tiefer in ihre Seele eingefressen hatte, bis er zu einem Teil ihres Selbst geworden war.

Erst nach seinem Tod, in Freiburg, hatte sich das geändert. Im Betkreis zum Heiligen Grab war sie als vollwertiger, wichtiger Mensch aufgenommen worden, hier gehörte sie hin, hatte ihren Platz gefunden.

Und deshalb drängte sie Elisabetha nun zum Aufbruch, obwohl sie die Enttäuschung der drei jungen Frauen sehr gut nachvollziehen konnte. Viel hatte sie nicht preisgegeben, viel weniger, als ihre Kinder und vor allem Maria sich erhofft hatten. Aber was nutzte es, alte Geschichten auszugraben? Es wühlte nur die Schuld auf, die niemand abtragen konnte und für die sie einmal bitter würden büßen müssen.

Ganz besonders herzlich verabschiedete sie sich an diesem Abend von ihrer Schwiegertochter, die zum nächsten Weihnachtsfest schon nicht mehr in Deutschland sein würde. Georgs Vermögen aus dem Erbteil seines Vaters würde die Hausschulden decken und ihr in Manila über die Runden helfen.

»Du machst alles richtig«, bestärkte sie Maria, die sich wie ein Kind an sie klammerte und heftig weinte. »In Heidelberg wärst du allein, und das ist nicht gut. Vor allem nicht, wenn in der Heimat eine Familie wartet, zu der man gehört. In einer intakten Familie hat man am ehesten die Chance, dass die Trauer vergeht und man irgendwann wieder glücklich wird.«

Und während sie das aussprach, konnte sie es kaum erwarten, in den Schoß ihrer eigenen neuen Familie heimzukehren, um für Trost und Frieden zu beten.

Im Dunkel der Schuld

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