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ACHT

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Mittwoch, 11. April 2007

»Wer ist Thomas?«, flüsterte Frieda Seidel und bohrte Ebba ihren Ellbogen in die Rippen.

Ebba schreckte aus ihren Gedanken hoch, die so gar nicht in eine Friedhofskapelle passten. Immer noch hatte sie es ihrer Mutter nicht verziehen, was sie ihnen angetan hatte. Ein Familiengrab! Was für eine Schnapsidee! Georg an der Seite seines Vaters. Und Frieda, Rosie und sie selbst sollten eines Tages folgen. Aberwitzig. Sie hatte es nicht fassen können, als ihre Mutter ihr nach Georgs Tod am Telefon gestand, was sie vor vielen Jahren angerichtet hatte.

»Ich konnte nicht anders«, hatte Frieda am anderen Ende gejammert. »Hätte ich ein Einzelgrab genommen, wäre das verdächtig gewesen. Und allein will ich nicht neben ihm liegen. Auf keinen Fall. Nicht neben Bruno. Das kann keiner von mir verlangen. Nicht nach allem, was er mir …«

Ihre Stimme hatte begonnen, sich vor Panik zu überschlagen, sodass Ebba sie schnell unterbrach. »Schon gut! Niemand muss Papa Gesellschaft leisten. Georg erst recht nicht. Sein Platz ist in Heidelberg bei seiner Frau.«

»Wenn Maria in ihre Heimat zurückkehrt, wie sie es mir gestern gesagt hat, wäre er ganz allein. Wer soll sich dann um ihn kümmern?«

»Wir können ihn einäschern lassen.«

»Niemals!«

»Und wer soll das Grab in Baden-Baden pflegen? Ich vielleicht?«

»Sei nicht so herzlos, Elisabetha. Es ist dein Bruder.«

»Im Grab von Papa. Ich geh da nicht hin.« Erst in diesem Augenblick war ihr klar geworden, dass sie es schon bei dessen Beerdigung hätte merken müssen: Brunos letzte Ruhestätte war viel zu überdimensioniert gewesen für ein Einzelgrab.

»Dann beauftrage den Friedhofsgärtner. Ich bezahle das.«

Ebba hatte die Augen verdreht. »Es geht nicht ums Geld, Mama!«

Und dann hatte ihre Mutter die Keule herausgeholt. »Aber du bist es uns schuldig.«

Schuldig, schuldig, schuldig, das Wort war wie eine Billardkugel in ihrem Kopf herumgeschossen. Es begann in ihrem Schädel zu pochen, zu kratzen, zu kreischen. Schuldig! Schuldig!

Ebba hatte das Telefon genommen und war ans Fenster getreten, um in den Regen zu sehen und ihre Fassung wiederzuerlangen. Niemand war schuld. Sie hatten keine andere Wahl gehabt.

»Aber wieso ein Familiengrab, Mama?«, versuchte sie es ein letztes Mal, obwohl sie sich eingestehen musste, dass die Schlacht bereits verloren war.

»Ihr seid ja nicht mitgekommen zum Trauergespräch. Ich konnte nicht ablehnen, als der nette Bestatter vorschlug, wenigstens im Tode alle friedlich vereint zu sein. Er war ganz erschüttert von unserem Schicksal, und dass euer Vater so unversöhnt in den Tod …«

»Du hast es ihm verraten?«

Ebba wäre fast der Hörer aus der Hand gefallen. Niemand redete über die Vorkommnisse, niemals. Sie waren weggeschlossen, verboten, tabu. Nichts davon durfte jemals nach außen dringen.

»Ich konnte nicht anders, es hätte mich sonst zerfressen. Außerdem war er nett.«

»Nett!«

»Die schönste Lage, die wir für euren Vater haben finden können, war die große Grabstelle, und da machte der Mann eben den Vorschlag. Ich konnte nicht anders, als zuzustimmen. Ich nahm ja an, dass ich die Nächste sein würde. Wer hätte denn ahnen können …« Der Rest ging in geschluchztem Gemurmel unter. Psalmen wahrscheinlich, der eintönigen Wiederholung nach zu urteilen.

Ebba hatte ein letztes Mal tief Luft geholt. »Trotzdem, Mama, du durftest nicht ohne unser Wissen bestimmen, dass wir unser Grab mit Vater teilen sollen.«

Maria, die etwas abseits gesessen hatte, war herbeigesprungen und hatte sie zittrig am Arm gepackt. »Familiengrab? In Baden-Baden?«, flüsterte sie mit Blick auf das Telefon. »Sag ja. Dann Georg hat eine Heimat.«

Ebba hatte die Hand an den Hörer gehalten.

»Sein Platz ist in Heidelberg, wo du lebst.«

Maria hatte den Kopf geschüttelt. »Ich werde nach Hause gehen. Ich vermisse meine Familie.«

Einen wahnwitzigen Augenblick lang schoss Misstrauen in Ebba hoch. War es doch Maria gewesen? Hatte ein Komplize Georg in den Tod gelockt, während sie selbst für das beste Alibi der Welt gesorgt hatte?

Immer noch bohrte sich jetzt der Ellbogen in ihre Rippen. Ebba seufzte leise und riss sich zusammen. Ihr Blick streifte ihre Schwägerin, die wie ein Häuflein Elend neben ihr auf der Bank der Kapelle kauerte. Niemals im Leben hatte dieses friedfertige Wesen etwas Böses geplant.

Inzwischen war es amtlich, dass Georg ohne fremdes Zutun an seinem Herzfehler gestorben war, den er von Geburt an gehabt hatte. Es war alles gründlich untersucht worden. Fast zwei Wochen hatte es gedauert, bis die Staatsanwaltschaft seine Leiche freigegeben hatte, deshalb konnten sie ihn erst jetzt, nach Ostern, beerdigen.

Die polizeilichen Ermittlungen auf der Büroetage hatten nur ergeben, dass er Tage vor seinem Tod nervös gewesen war. Wie es aussah, hatte er sich weit mehr Arbeit aufgehalst, als ein einzelner Mensch bewältigen konnte. Er hätte längst jemanden einstellen müssen, aber er hatte alles allein schaffen wollen. Also war es ihm wohl über den Kopf gewachsen.

Stress führte schnell zu Selbstüberforderung und dann zu einer übergroßen Erschöpfung. Vielleicht hatte er sich deshalb in die Wahnvorstellung geflüchtet, jemand wolle ihm etwas Böses antun. Dazu kam sein schwaches Herz, das derart angegriffen gewesen war, dass sein Tod für den Rechtsmediziner keine Überraschung war. Trotzdem hatte die Polizei in alle Richtungen ermittelt, sie hatte das Haus auf den Kopf gestellt, aber keinen Hinweis auf fremdes Eindringen gefunden, sie hatte das Büro auseinandergenommen und den Lift, in dem er zu Tode gekommen war, vom TÜV überprüfen lassen. Es gab keine Anhaltspunkte auf Fremdbeteiligung.

Es würde auf ewig ein Rätsel bleiben, warum er einen Aufzug betrat, vor dem er sich sein Leben lang gefürchtet hatte.

Schicksal hatte der Hauptkommissar mit dem skeptischen Blick es genannt, obwohl man ihm ansehen konnte, dass er mit dem Ergebnis nicht zufrieden war. Aber es gab nun mal keine anderen Erkenntnisse.

»Thomas. Dort, der Kranz!«, wisperte ihre Mutter. Das Harmonium setzte ein, und der Pfarrer trat in feierlicher silbern- und golddurchwirkter Robe nach vorn und erhob mit großer Geste die Arme.

Ebba konzentrierte sich auf den dunklen Sarg und den Blumenschmuck. Iris und Narzissen in den Thujengestecken, dazwischen in einem Kranz ein paar rote Rosentupfer. Irgendwie erinnerten die Farben sie an Franz Marcs Bild mit den zwei Katzen, und ihre rein persönliche Abneigung gegen den Künstler verstärkte sich.

Eine Narzisse hatte sich aus dem Gesteck auf Georgs Sarg gelöst und war zu Boden gefallen, und Ebba musste sich beherrschen, um nicht aufzuspringen und sie wieder an Ort und Stelle zu stecken, wie es Georg getan hätte.

Der Arme. Was hatte er nur für ein erbärmliches Leben gehabt! Wie in einem Hamsterrad war er auf der vergeblichen Suche nach makelloser Perfektion zusammengebrochen. Perfektion, wie er sie erstrebt hatte, gab es nicht. Er war von klein auf zum Scheitern verurteilt gewesen.

Der Ellbogen ihrer Mutter war unerbittlich.

»Was denn?«

Frieda machte eine Kopfbewegung. »Der Kranz mit den roten Rosen. Die Schleife.«

Ebba folgte dem Blick. »Für Georg – dein Thomas«, stand auf dem breiten Taffband.

Ebba hob die Schultern. »Kenn ich nicht«, flüsterte sie und sah sich um. Nein, da war niemand. Kein Schulkamerad, kein Kollege, kein Studienkommilitone, kein Nachbar, kein Freund, kein Thomas. Niemand. Georg wurde so einsam beerdigt, wie er gelebt hatte.

Als der Sarg an der pompösen Pyramide aus rotem Marmor, auf der bislang nur Brunos Name stand, in die Grube gelassen wurde, verschwamm Ebba für einen Augenblick alles vor den Augen. Noch steckte ein frisches Holzkreuz mit Georgs Namen in der Erde, bald würde sein Name unter dem seines Vaters auf dem Stein angebracht werden. Sie zwinkerte, sah in den blauen Himmel, in Rosies versteinertes Gesicht, dann den schmalen Weg zur Kapelle zurück, um sich abzulenken.

Da war dieser Kerl wieder, der ihr schon letzte Woche aufgefallen war, als sie mit dem Bestatter zum Grab marschiert war. Sie selbst hatte gar nicht mehr gewusst, wo es sich befand. Niemand hatte sich je darum gekümmert. Ihre Mutter »konnte« aus Freiburg nie fort, für Rosie war es allemal zu weit, Georg passte der Weg hierher nicht in seine komplizierten Zeitpläne – und sie selbst? Ihr hätte sich der Magen umgedreht, wenn sie nur den Namen Bruno Seidel auf dem Stein hätte lesen müssen.

Und jetzt sollte Georgs Name danebenstehen.

Unvorstellbar.

Der Kerl in dem grünen Overall dort drüben war ihr unangenehm aufgefallen, weil er an jenem frühen Morgen mit einer halb vollen Schnapsflasche herumgefuchtelt hatte. Ebba war beim Anblick der schlanken, klaren Glasflasche so übel geworden, dass sie davongestürzt war und die weiteren Regularien des Begräbnisses erst später im Büro des Beerdigungsunternehmens hatte besprechen können.

Wenigstens hielt sich dieser Fremde abseits, und eine Schnapsflasche schien er diesmal nicht bei sich zu haben. Vielleicht hatte er sie schon ausgetrunken. Wieder tauchten vertraute, verhasste Bilder vor ihrem geistigen Auge auf, und sie packte ihre Mutter und Maria fest an den Armen und biss die Zähne zusammen, um die Erinnerungen abzuschütteln.

Mit einem leisen Schmerzlaut löste sich ihre Mutter aus dem Griff und rieb sich durch den dünnen Mantel den Arm. Dann machte sie eine ausladende Handbewegung. »Die Aussicht ist doch wirklich schön, oder? Hier werden es die beiden gut haben.«

Nichts gab es mehr zu sagen, und so wandten sie sich stumm ab und gingen langsam zum Parkplatz. Maria stieg in Ebbas Zweisitzer, Rosie und ihre Mutter hatten sich ein Taxi bestellt. Da es Ebba schon bei dem Wort Leichenschmaus schlecht wurde, hatten sie verabredet, sich in ihrem Apartment auf ein paar belegte Brote zu treffen. Frieda wollte möglichst bald nach Freiburg gebracht werden, um pünktlich zum Abendgebet des Betkreises zurück zu sein, und Rosie wollte unbedingt am nächsten Morgen den ersten Zug nach Schleswig nehmen, denn sie wollte die Buchhandlung gerade in den Osterferien auf keinen Fall länger als drei Tage am Stück geschlossen halten.

Kein Wort über Georg. Kein Wort, wie sehr sein Tod sie alle schmerzte. Kein Wort, wie sehr sie seinen Unfall bedauerten und mit seiner Witwe mitfühlten. Kein Wort, wie erbärmlich sein Leben gewesen war. Und auch kein Wort über die merkwürdigen Vorkommnisse vor seinem Tod, die Ebba nicht aus dem Kopf gehen wollten.

Nur Konversation über die Worte des Pfarrers, die für Ebba unerträglich gewesen waren. Der Geistliche hatte Georg doch gar nicht gekannt. Wie konnte er dann von einem viel zu kurzen, glücklichen Leben reden? Von Schicksal, das man erdulden müsse?

Und wie schafften es Rosie und ihre Mutter, über Aussichtslagen, Verkehrsprobleme und die Schönheiten der Philippinen zu sprechen? Irgendwann konnte Ebba das selbstbezogene Getue nicht mehr hören. Ihr tat Maria leid, die wortlos und blass immer tiefer in der Couch versank.

Sie setzte sich neben ihre Schwägerin und legte den Arm um ihre Schulter.

»Er war ein guter Mensch. Sein Leben lang hat er sich bemüht, perfekt zu sein«, sagte sie leise.

Rosie streckte ihr steifes Bein vor und massierte es routiniert. Man sah ihr an, dass sie wieder Schmerzen hatte, aber wie immer versuchte sie es zu verbergen. Ein verspanntes Lächeln huschte über ihr ungeschminktes Gesicht.

»Georg war der beste Bruder, den man sich nur wünschen konnte. Er hat sich wirklich immer bemüht, der Arme …«

Maria beugte sich vor. »Was ist eigentlich mit deinem Bein?«

»Hat er dir das nicht erzählt?« Rosie hielt in der Bewegung inne und strich sich eine dünne Haarsträhne hinters Ohr.

Maria schüttelte den Kopf. »Wenn ich nach früher oder nach eurer Kindheit fragte, sagte er immer, es war nichts.«

»Genauso ist es.«

»Aber ihn hat doch etwas gequält! Vielleicht eine Erinnerung?«

Man konnte es nicht sehen, nur erahnen, wie Rosie und ihre Mutter erstarrten. Auch Ebba ertappte sich dabei, dass sie unbehaglich auf der Couch herumrutschte. Kein Wort würde über früher verloren werden, niemals. Die Vergangenheit war beerdigt, tiefer, als jedes Grab sein konnte. Niemand durfte daran kratzen, sonst würde sich der Deckel heben, und die Schuld würde sie alle verschlingen. Zum ersten Mal begriff Ebba in Ansätzen, warum ihre Mutter ihr Heil in Gebeten suchte, und sie beneidete sie, dass sie einen Ausweg gefunden hatte. Gott hatte alles gesehen, ihm musste man nichts beichten, nichts erklären, ihn konnte man um Erlösung anflehen und hoffen, dass er vergab. Aber ihr, Ebba, würde niemals vergeben werden. Sie musste büßen, jeden Tag, jede Stunde, mit jeder Erinnerung, die sich in ihre Gedanken schlich, sosehr sie sich auch bemühte, sie zu unterdrücken.

Ebba schluckte trocken. Sie musste stark sein, sonst würden diese Vorwürfe ihre Seele vergiften. Dabei hatte sie es doch nicht für sich allein getan. Es hatte damals keinen Ausweg gegeben. Schluss mit den Selbstvorwürfen.

Georg war tot. Und dies hier war vielleicht die letzte Gelegenheit, über die näheren Umstände zu sprechen.

»Wir müssen nicht so weit zurückgehen, Maria«, antwortete sie ihrer Schwägerin, bevor Rosie oder ihre Mutter wieder ein belangloses Thema anschnitten. »Erzähl uns doch bitte, was in letzter Zeit geschehen ist. Hat sich Georg die Sachen wirklich nur eingebildet, oder hast du auch etwas beobachtet?«

Maria hob sachte die Schultern. » I don’t know « , entfuhr es ihr auf Englisch, und sie schüttelte den Kopf. »Also, Ebba, das die Polizei hat mich schon so oft gefragt, und ich mich natürlich auch. Ich weiß es einfach nicht. Alles schwirrt in meinem Kopf. Manchmal habe ich gedacht: Meine Güte, ich war die Letzte, die aus dem Haus ging – habe ich wirklich das Licht brennen lassen? Man macht viele Dinge automatisch, ohne nachzudenken. Hast du dich noch nie gefragt, ob du das Bügeleisen ausgemacht hast? Georg fragte das ständig, ich habe kontrolliert ständig und irgendwann gar nicht mehr gewusst, ob und was ich getan habe. Wenn das so wäre weitergegangen, hätte ich noch an meinem Verstand gezweifelt. Wenn ich nur wüsste, warum er so geworden ist. Als little boy, sorry – als Kind –, war er damals auch schon so? Ist etwas geschehen, das ihn so unsicher gemacht hat? Warum musste er immer alles kontrollieren? Hat es etwas mit Rosie zu tun? Mit Rosies Bein vielleicht? Das hat er immer so komisch angeguckt.«

Rosie nahm ihr Wasserglas und vertiefte sich in die aufsteigenden Kohlensäurebläschen, und Frieda faltete die Hände.

Alarmiert gab sich Ebba einen Ruck. Maria hatte ein Anrecht darauf, zumindest einen kleinen Blick in die Vergangenheit ihres Mannes werfen zu können, um ihn wenigstens im Nachhinein besser zu verstehen. Sie musste ihr helfen, sie musste sie wenigstens an einem der bedeutenden Vorkommnisse teilhaben lassen, damit sie alles besser verstehen konnte. Selbst wenn es schwerfiel, die ungewohnten Sätze zu formulieren, und sich eigentlich alles in ihr sträubte, auch nur diese eine Geschichte aus dem heiligen Schweigegelübde zu entlassen.

Der große Garten ist besonders im Frühsommer ein Traum. Die unüberschaubare, leicht abschüssige Wiese ist voller bunter Wildblumen, Bienen summen, Schmetterlinge schaukeln unentschlossen von Blüte zu Blüte, ein leichter warmer Wind biegt die langen Grashalme, es duftet nach Heu und Kamille. Längst ist der Sandkasten am Haus uninteressant, Ebba und Rosie haben sich Hand in Hand davongemacht, die Weiten des Grundstücks zu entdecken, auch wenn das eigentlich nicht gestattet ist. Aber wen stört es schon. Mama ist in der Kirche, und Papa hat sich in sein Atelier verkrochen, und das bedeutet, dass er frühestens am Abend hervorkommen wird. Dann wird es zwar wieder ungemütlich werden, aber die Zwischenzeit haben sie zu nutzen gelernt. Irgendwann hören sie das Gartentor quietschen und halten erschrocken den Atem an. Auch am anderen Ende des Grundstücks ist alles still, so als versuchte Georg, der offensichtlich beim Heimkommen nicht aufgepasst hat, das verbotene Geräusch ungeschehen zu machen. Vergeblich.

»Kinder, hierher!«

Diesem Befehl darf sich niemand widersetzen. Mit klopfendem Herzen und immer noch an der Hand der Schwester, trippelt Ebba in Richtung Atelier.

Bruno Seidel steht in der offenen Glastür, in einer Hand eine schlanke Flasche, in der anderen seinen Gürtel.

»Wer von euch war am Tor?«

Georg wirft seinen Schwestern einen alarmierten Blick zu.

»Ich«, sagt er.

»Lüg nicht! Ich seh deinen Schwestern an, dass sie etwas ausgefressen haben.«

Ebba macht sich los und verkriecht sich hinter Rosie. Sie will nicht wieder in die Truhe. Da fürchtet sie sich. Es ist so dunkel da drinnen. Sie hat den Nagel nicht dabei, mit dem sie beim nächsten Mal ein Loch ins Holz bohren will. Deshalb will sie nicht in die Truhe. Nie weiß man, wann man wieder raus darf oder ob man vielleicht darin vergessen wird. Sie wird einfach ganz schnell weglaufen, wenn Papa sie packen will, auch wenn er dann morgen wieder so schrecklich weint und ihr sagen wird, dass sie schuld sind, wenn er mal stirbt.

Georg guckt ganz komisch und sieht zu Boden.

»Aber ich war es wirklich«, sagt er. »Ich habe nicht aufgepasst, Papa, entschuldige bitte.«

Papa bekommt einen glasigen Blick und wird ganz rot. »Du widersprichst mir? Du stellst dich vor deine Schwestern? Willst sie beschützen, hä?«

Georg greift sich an den Hals. »Ich, ich …«, stottert er. Seine Lippen werden weiß, und die Ader an seiner Schläfe quillt wie ein blauer Wurm auf, während ihm Tränen in die Augen steigen.

Ebba würde gern seine Hand halten, aber sie traut sich nicht, weil dadurch bestimmt alles noch schlimmer wird.

»Papa, wir haben nichts Böses gemacht, und Georg war auch nicht mit Absicht laut. Wir wissen doch, dass du beim Malen deine Ruhe brauchst«, versucht Rosie mal wieder zu vermitteln.

Die Augen des Vaters irren umher, dann beginnt er zu grinsen.

»Na schön«, brummt er. »Ihr könnt es wiedergutmachen. Die Kirschen sind reif.«

Rosie beginnt zu zittern. »Papa, bitte, nein! Ich fall bestimmt runter.«

»Georg wird dafür sorgen, dass dir nichts geschieht.«

Es dauerte eine Weile, bis Ebba begriff, dass jemand schrie.

»Hör auf! Aufhören, bitte! Ebba, um Himmels willen!«

Rosie krümmte sich in ihrem Sessel, ihre Mutter stand mit betretenem Gesicht neben ihr, und Maria liefen die Tränen über die Wangen.

»Es wird Zeit, dass Maria es erfährt.«

Aufgebracht schnaubte Rosie: »Wozu soll das gut sein? Das sind alte Geschichten, die zu nichts führen. Es ist außerdem meine Geschichte, und ich will nicht, dass du sie erzählst.«

»Schluss jetzt, Kinder, ich kann diese Schauermärchen nicht mit anhören. Das kann so nicht gewesen sein. Bruno war kein schlechter Mensch, nur ein wenig unbeherrscht. Er hat euch nie so behandelt, wie du ihm das jetzt unterstellst, Elisabetha.«

Ebba vergaß ihre mühsam antrainierte Selbstbeherrschung.

»Ach ja? Kein schlechter Mensch? Mama, wie lange willst du dich noch selbst belügen? Woher willst du wissen, dass er uns nie etwas getan hat? Du warst doch ständig in der Kirche!«

Sie würgte, als müsse sie an dem Wort Kirche ersticken. Wie sehr hatte sie dieses Wort früher gehasst! Es stand sinnbildlich für dieses jämmerliche, traurige, Angst einflößende Alleingelassenwerden. Im Stich gelassen werden traf es noch besser. Ja, genauso hatte sie sich gefühlt, wenn ihre Mutter das Gebetbuch nahm und in die schwarzen Schuhe schlüpfte, um zum täglichen Kirchgang aufzubrechen, der Stunden um Stunden dauerte. Im Rückblick kam es ihr vor, als habe ihre Mutter zwischen Frühstück und Nachtgebet nichts anderes getan, als unsichtbar zu sein und ihre Kinder schutzlos der Willkür ihres unberechenbaren Ehemannes auszusetzen.

»Ständig!«, wiederholte sie und erschrak darüber, wie viel Hass in ihrer Stimme lag. Sie wollte das nicht. Sie wollte sich nicht von ihren Gefühlen überrollen lassen. Sie musste sich beherrschen, zurücknehmen. Ruhig atmen. Die Angst wegatmen, die ihr plötzlich – wie früher in der Truhe – die Luft abschnürte. Bloß nicht daran denken!

»Du warst ständig in der Kirche. Tagelang!«, spie sie noch einmal aus, weil sie das Gefühl hatte, sonst ersticken zu müssen. Es war genug, genug!

»Ich habe nur für unser aller Wohl gebetet.«

»Hat leider nicht geklappt. Kannst du dich wirklich nicht mehr erinnern, wie sich Rosie das Bein gebrochen hat?«

»Sie ist vom Baum gefallen. Allein.«

»Rosie, erzähl du’s ihr.«

Rosie schüttelte den Kopf und sah zu Boden. »Es hat gereicht, dass sich Georg jeden Tag Vorwürfe gemacht hat, wenn er mich humpeln sah. Jetzt müssen wir Mama nicht auch noch damit belasten. Es ist vorbei«, murmelte sie.

»Sag es! Sonst tue ich es.«

Rosie schossen Tränen aus den Augen. »Ebba, das ist nicht fair.«

»Wie du willst. Hör gut zu, Mama: Papa zwang Rosie auf den Baum, wohl wissend, dass sie, wahrscheinlich schon seit er sie als Baby an den Füßen gepackt und aus dem Fenster gehalten hatte, Angst vor Höhe hatte. Er machte sich einen Spaß daraus, uns zu quälen. Er wusste, dass sie nicht allein runterkommen konnte. Also sollte sich Georg unter den Baum stellen und sie auffangen. Schaffte er es nicht, würde er mich in die Truhe in seinem Atelier sperren. Das war eine Strafe, die Georg ganz besonders fürchtete, weil er sich die Schuld gab, wenn Rosie und ich litten. An dem Tag hatte er sich also wieder einmal alle erdenkliche Mühe gegeben, uns zu beschützen, aber es half nichts. Rosie war zu schwer für ihn. Sie stürzte in seine ausgebreiteten Arme, er fiel hin, und sie brach sich dabei das Bein so unglücklich, dass es bis heute steif blieb.«

»Das kann nicht stimmen. Das hättet ihr mir doch gesagt.«

Es gab Momente, da hatte Ebba Lust, ihre Mutter zu packen und so lange zu schütteln, bis sie in der Realität angekommen war.

»Kannst du dich wirklich nicht mehr an den Tag erinnern?«

»Rosie war mit Georg und deinem Vater im Krankenhaus, als ich heimkam. Es lag ein Zettel auf dem Küchentisch.«

»Und wo war ich?«

»Das … Das ist so lange her. Das weiß ich nicht.«

»Papa wusste es auch nicht mehr. Dass er mich in der Truhe in seinem Atelier vergessen hatte, fiel ihm erst am nächsten Morgen wieder ein. Und Georg, der ohne Abendessen als jämmerlicher Versager ins Bett geschickt worden war, begann spätestens an diesem Tag, sich selbst zu hassen und alles zu versuchen, es Papa recht zu machen. Fehlerlos, damit uns nie wieder so etwas passieren würde.«

Ebba machte eine Pause und wog ihre nächsten Worte ab. Sie wollte niemandem durch unbedachte Äußerungen wehtun, und bislang hatte sie, wie ihre Geschwister, wortlos resigniert und akzeptiert, dass ihre Mutter den Kopf in den Sand steckte. Aber irgendwann musste das doch aufhören! Spätestens jetzt, da Georg tot war. Vielleicht war dies genau der richtige Augenblick für ein Körnchen Wahrheit, nur ein winziges Körnchen in der Wüste des Schweigens, Wegsehens und Verdeckens.

»Du, Mama, du hattest am nächsten Morgen ein blaues Auge. Er war kein schlechter Mensch, nein? Meine Güte. Gibt es eigentlich kein Gebot, dass man sich nicht selbst belügen darf?«

Ihre Mutter stand auf, hielt sich die Hüfte und ging schwerfällig zur Fensterfront, aus der sie lange hinausschaute.

»Hat er … Hat er euch angefasst?«, hauchte sie gegen die Glasscheibe und verkrampfte ihre Hände.

In Ebba wallte Wut hoch, weil ihr mit einem Mal klar wurde, dass ihre Mutter auch das nicht gesehen hätte, dass sie ihre Kinder auch in solcher Not alleingelassen hätte.

»Man kann Kinder auch anders misshandeln, Mama. Mit Liebesentzug, mit seelischen Grausamkeiten und mit Wegsehen. Das gilt übrigens für beide Elternteile.«

Langsam, als täten ihr alle Glieder weh, drehte sich Frieda Seidel um. Ihr Blick irrte über ihre Kinder und ihre Schwiegertochter hin zu einem imaginären Punkt auf dem Fußboden. Dann seufzte sie.

»Was ist nur los mit dir, Elisabetha?«, sagte sie leise. »Deine Unterstellungen kann ich nicht akzeptieren. Bruno war stark und hart, gewiss. Er war wie mein Vater. Strenge schadet niemandem. Wenn er euch so behandelt hätte, wie du es jetzt behauptest, wäre ich eingeschritten. Aber ihr habt nie etwas verlauten lassen. Das bedeutet doch …«

Schweigen legte sich über den Raum, sekundenlang, minutenlang.

Schweigen. Die Familienkrankheit, dachte Ebba. Es ist zwecklos. Selbst wenn ich es anspreche, hört mir niemand zu.

Das Schweigen wurde immer dicker, türmte sich zu einer Mauer, undurchdringlich, unerbittlich.

Bis sich Maria über die Augen fuhr und sich ihre sanfte Stimme an der unsichtbaren Wand brach.

»Ich ahne, was Georg gequält hat«, sagte sie bedächtig. »Warum ihr redet nicht weiter? Ihr erstickt, nein, das ist das falsche Wort. Ihr, ihr erfriert ja. Mir ist auch schon ganz kalt. Mama Frieda, eine muss Anfang machen. Erzähl. Erzähl von dir. Von früher, von ganz früher. Als du Kind warst. Erzähl, und dann ihr, Rosie und Ebba. Ich möchte genauer verstehen, was mit Georg los war. Tut mir favour – den Gefallen, bevor ich in die Heimat zurückkehre. Es ist meine letzte Chance, mehr über meinen Mann zu erfahren. Bitte. Mama Frieda, bitte.«

Im Dunkel der Schuld

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