Читать книгу Im Dunkel der Schuld - Rita Hampp - Страница 16
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ОглавлениеMontag, 2. Februar 2009
»Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld, tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen! Wasche meine Schuld von mir ab, und mach mich rein von meiner Sünde! Denn ich erkenne meine bösen Taten, meine Sünde steht mir immer vor Augen. Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist.«
Frieda Seidel stand am Küchenfenster und sah sehnsüchtig zum Turm des Münsters. So nahe, und doch unerreichbar für sie. Wie hatte das alles nur angefangen? Wann? Warum?
Sie presste die gefalteten Hände an ihr Kinn.
»O mein Jesus, verzeih uns unsere Sünden! Bewahre uns vor dem Feuer der Hölle! Führe alle Seelen in den Himmel, besonders jene, die deiner Barmherzigkeit am meisten bedürfen.«
Wenn sie nur inbrünstig genug um ihren Seelenfrieden bat, würde das Brennen ihrer Schuld nachlassen. So war es immer gewesen, von jeher. Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln, denn das hieße ja, an Gott zu zweifeln. Und Gottes Erbarmen war grenzenlos.
Warum nur hatte er ihr diese Prüfung auferlegt? Sie hatte doch bereut, jeden Tag, hatte Buße getan, wo immer es nur ging. Sie hatte gebetet, sich auf Wallfahrten die Knie aufgescheuert. Die letzten Jahre hatte es auch ganz danach ausgesehen, als habe Gott ihr verziehen, auch wenn sie sich selbst niemals verzeihen würde. Er hatte es gut mit ihr gemeint, hatte ihr eine neue Heimat gegeben, hatte ihr helfende Hände zur Seite gestellt. Sie hatte sich aufgehoben gefühlt im Betkreis. Sie hatte gedacht, nein, sich inbrünstig gewünscht, sie sei – zumindest auf Erden – davongekommen.
Falsch, falsch. Es war wohl Teil der Prüfung gewesen, sich zwischen ihren Mitschwestern und Mitbrüdern wie in einer neuen Familie zu fühlen. Sie hatte gehofft, alles abstreifen zu können, nur die Zusammenkünfte mit ihren Kindern hatten ihr jedes Jahr aufs Neue aufgezeigt, dass alles ein Trugschluss war, dass sie ihre Schuld nicht tilgen konnte.
Dann war zuerst Georg gestorben, danach hatte das Unheil in ihrem eigenen Umfeld begonnen, leise, schleichend, wie Radioaktivität, die man nicht sah, nicht fühlte, nicht schmeckte, nicht roch. Aber sie war da, vergiftete die Blicke ihrer Vertrauten, die ihr plötzlich auswichen, deren Augen über sie hinweg irrlichterten, wenn sie sie direkt ansehen wollte. Es war etwas im Gange, das sie nicht fassen konnte.
»Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte, und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit. Wasche mich rein von meiner Missetat, und reinige mich von meiner Sünde … «
Die vertrauten Glocken begannen zu läuten, und ihr schossen Tränen in die Augen. Sie war so einsam, so verlassen! Was sollte sie bloß tun?
Oder bildete sie sich alles nur ein vor lauter schlechtem Gewissen? Niemandem hatte sie ihre Sünden kundgetan, selbst im Beichtstuhl war ihr Mund verschlossen gewesen. Also konnte auch niemand wissen, was sie getan hatte. Sie und die Kinder. Eigentlich mehr die Kinder. Elisabetha im Besonderen. Aber sie hatte mitgemacht, hatte nichts unternommen, um das Unheil abzuwenden, hatte gebetet, statt einzugreifen.
» Mea culpa, mea culpa … «
Sosehr sie sich auch an die Brust klopfte – nichts tat sich, nichts löste den Knoten in ihrem Innern, der immer stärker und schwerer wurde.
Heute war Mariä Lichtmess. Der Tag, an dem man die Kerzen weihte. Es war traditionell eine ergreifende, andächtige Zeremonie. Ob sie es wagen sollte, sich hinzuzugesellen? Sie konnte sich vielleicht unbemerkt ganz hinten in die letzte Reihe setzen.
Aber wenn der Herr Pfarrer sie entdeckte? Er sah neuerdings ebenfalls durch sie hindurch, seit der Sache mit dem selbst gemachten, mit einer neuen Gewürzmischung verfeinerten Müsli beim Adventsfrühstück, nach dem es allen schlecht geworden war außer ihr, weil sie an diesem Tag nichts davon gegessen hatte. Der reine Zufall, aber es hatte ihr niemand geglaubt.
Es hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Seitdem war sie nicht mehr in der Kirche gewesen.
Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass sie dem Haus Gottes über einen so langen Zeitraum fernblieb. Es hätte auch nichts genutzt, sich in eine andere Kirche oder Kapelle zu schleichen, denn sie fühlte sich nirgends mehr willkommen, es war ihr, als habe Gott sie nach all den Jahren zwischen all den Gebeten, die sie gen Himmel geschickt hatte, entdeckt und sich von ihr abgewandt.
»Mit lauter Stimme schrei ich zum Herrn, laut flehe ich zum Herrn um Gnade. Ich schütte vor ihm meine Klagen aus, eröffne ihm meine Not. Wenn auch mein Geist in mir verzagt, du kennst meinen Pfad. Auf dem Weg, den ich gehe, legten sie mir Schlingen …« Ihre Stimme machte nicht mehr mit, sie erstickte in all den ungeweinten Tränen, die ihr in den Hals stiegen. »… Vernimm doch mein Flehen, denn ich bin arm und elend«, brachte sie noch heraus, dann verstummte sie.
So konnte sie nicht weiterleben. Sie musste Gewissheit haben, ob Gott sie noch erhörte. Sie würde eine Kerze anzünden und sich in seine Hand begeben. Ja.
Hastig bekreuzigte sie sich, schlüpfte in ihren Wintermantel und eilte aus der Wohnung, ohne ihr Äußeres noch einmal im Spiegel überprüft zu haben. Sie wusste auch so, dass sie zum Erbarmen aussah. Sie hatte es Weihnachten in Elisabethas Augen gesehen und sich geschämt. Aber wie konnte man sich elegant kleiden, wenn man in der Seele fror?
Vor dem Eingangsportal begann ihr Herz zu klopfen. Freudige Erwartung oder schreckliche Angst? Sie zögerte, ließ ihre Hand über der massiven Metallklinke schweben, dann drückte sie sie nieder und zog die Tür auf. Weihrauch, Orgelklänge, vertrautes Stimmengemurmel aus der Nische, in der sich der Versammlungsraum befand. Auf Zehenspitzen huschte Frieda an der halb geöffneten Tür vorbei und bildete sich ein, dass die Stimmen für einen Moment innehielten, als habe man sie entdeckt. Doch das konnte nicht sein, sie hielt sich weit entfernt, im dämmrigen Teil des Mittelgangs.
»Vernimm doch mein Flehen, denn ich bin arm und elend«, schoss es ihr wieder durch den Kopf, dann hatte sie den Seitenaltar mit den Kerzen erreicht. Gedämpft klickte ihr Geldstück im Opferkasten, sie nahm eine Kerze und hielt den noch weißen Docht in die Flamme einer anderen.
Ein zaghaftes Züngeln, dann erlosch die kleine Flamme, und die der Spenderkerze auch.
Frieda bekreuzigte sich.
»Herr, ich rufe zu dir. Eile mir zu Hilfe; höre auf meine Stimme, wenn ich zu dir rufe. Wie ein Rauchopfer steige mein Gebet vor dir auf; als Abendopfer gelte ich vor dir, wenn ich meine Hände erhebe …«
Schwere Schritte kamen näher, verharrten, dann umhüllte sie der vertraute Geruch nach Pfeifentabak und saurem Wein.
Frieda beugte sich tiefer über die gefalteten Hände, die immer noch die dünne Kerze umschlossen.
»Komm, Tröster, der die Herzen lenkt, du Beistand, den der Vater schenkt; aus dir strömt Leben, Licht und Glut, du gibst uns Schwachen Kraft und Mut«, flehte sie halblaut.
»Amen«, erwiderte Pfarrer Claus, und seine breite Hand legte sich auf ihre dünnen, kalten Finger. Ruhig nahm er ihr die Kerze ab, zündete sie an und steckte sie in das Meer der Flammen.
Dann fasste er sie am Arm. »Wir sollten miteinander reden«, sagte er. »Komm mit mir nach draußen, lass uns ein paar Schritte gehen.«
Frieda schluckte schwer. Er führte sie aus der Kirche? War sie hier wirklich nicht mehr willkommen? Aber hieß es nicht, dass Gott jedem half, wenn er nur ehrlich bereute?
Verwirrt folgte sie ihm durch das Portal hinaus. Er lenkte sie zum Pfarrhaus nebenan, in sein Arbeitszimmer, wo er sich an einer kleinen Kaffeemaschine zu schaffen machte.
»Ich mache mir Sorgen um dich, Frieda«, begann er. »Auch deine Tochter Ebba hat kürzlich angerufen und mich um Rat gefragt, wie man dir helfen kann. Du wendest dich von uns ab. Ich habe das Gefühl, du bist auf dem falschen Weg. Du gehst verloren, wenn du ihn weiter beschreitest.«
»Aber es ist doch umgekehrt!«
»Beichte, Frieda, erleichtere dich. Dann wird es dir besser gehen.«
Frieda setzte sich an das niedrige Besprechungstischchen und betrachtete den Pfarrer, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Er war groß und stattlich, seine glatten Wangen glänzten rosig. Man sah ihm an, dass er die badische Küche liebte. Seine fast schwarzen Augen konnten gütig blicken, sie konnten sich aber auch auf den Grund der Seele bohren. So wie jetzt.
Sie zog ihren Mantel fester um sich und schob die Kaffeetasse unberührt fort.
»Das mit dem Müsli«, begann sie. »Ich kann nichts dafür. Ich habe die gleichen Zutaten wie immer genommen.«
Sein Blick bohrte sich tiefer in sie hinein, aber sie würde nicht sagen, dass sie ein neues Gewürz ausprobiert hatte. Das konnte nicht der Grund gewesen sein, warum so vielen Menschen übel wurde. Es war doch nur eine Prise gewesen, und sie hatte es aus vertrauenswürdiger Quelle erhalten, vom einzigen Menschen, der ihr seit einiger Zeit zuverlässig half und auch jetzt noch zu ihr hielt.
»Es geht nicht um die Sache mit der Vergiftung.«
»Vergiftung?«
»Wie soll man es sonst nennen, wenn über zwanzig Personen mit einem Male Unwohlsein packt, wenn sie an Durchfall und Erbrechen leiden, wenn zwei von ihnen sich sogar mit Kreislaufbeschwerden ins Krankenhaus begeben müssen …«
»Aber man hat nichts gefunden. Ich habe nichts Böses getan!«
»Vorher soll schon ein Sandkuchen von dir merkwürdig bitter geschmeckt haben, sodass alle ihre Stücke liegen gelassen haben. Zum Glück, muss man jetzt sagen. Frieda, sprich dich aus.«
»Ich … Ich kann nicht. Ich kann nichts dafür. Ich kann mir das selbst nicht erklären.«
»Ich glaube nicht, dass du uns mit Absicht etwas Böses wolltest. Aber es kommt eben eines zum anderen. Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie sich von dir abwenden. Kannst du dir das erklären?«
»Was denn?«
»Weißt du nichts von – den Gerüchten?«
»N-nein!«
Frieda verknotete ihre Finger und hob den Blick nach oben, in die Ecke, in der das Kruzifix hing.
»Ich rufe zu Gott, dem Höchsten, zu Gott, der mir beisteht. Er sende mir Hilfe vom Himmel; meine Feinde schmähen mich. Gott sende seine Huld und Treue.«
»Amen«, sagte der Herr Pfarrer wieder, obwohl sie sicher war, dass sich ihre Lippen diesmal nur lautlos bewegt hatten. Wieder blickte er in ihr Innerstes, und sie fühlte sich schuldig, obwohl es dafür nicht den geringsten Grund gab. Sie hatte niemanden vergiftet. Trotzdem wurde ihr heiß, und der Pullover kratzte plötzlich, als würden sich seine Fasern gegen sie aufstellen.
Voller Unbehagen bewegte sie ihre Schultern, doch das machte es nicht besser. Die eigentlich so vertrauten schwarzen Augen wandten sich von ihren ab, saugten sich an ihren gefalteten Händen fest, die sie zusammenpresste, um zu verbergen, wie sehr sie zitterten.
»Man stellt Fragen, Frieda, sehr unangenehme. Mir ist überhaupt nicht wohl dabei, diese Fragen an dich weiterzugeben. Andererseits verlangen sie Antworten, die nur du geben kannst.«
Fragen? Eine unaussprechliche Furcht stieg in ihr auf, nicht greifbar durchdrang sie ihre Gedanken, ihr Herz und ihre Seele. Eiseskälte breitete sich in ihr aus, die sie so ruhig machte, wie man wohl nur in der Stunde des Todes werden konnte. Nicht einmal das Ticken der Wanduhr vernahm sie mehr, nur noch das Rauschen des Blutes in ihren Ohren und das Hämmern ihres Herzschlags.
Sie wollte die Fragen nicht hören, aber sie konnte sich auch nicht die Ohren zuhalten. Sie hatte doch alles in ihrer Macht Stehende getan, um die Schuld abzutragen, die sie mit ihrer Geburt auf sich geladen hatte. Die sich durch die Enttäuschung ihres Vaters über sie verstärkt hatte und schließlich auch ihm keinen Ausweg mehr ließ. Sie hatte versucht, wenigstens bei ihrem Ehemann alles richtig zu machen, und hatte, als dies nicht gelang, ihre Seele in Gottes Hand gelegt, so inbrünstig, dass sie auf diese Weise das Wohl ihrer Kinder aus den Augen verlor, wenn sie Elisabethas und Rosies letzte Äußerungen richtig interpretierte.
Aber das waren ihre ureigensten, geheimen Seelenqualen, die sie allein mit sich und Gott ausmachen musste. Es gehörte zu ihrem persönlichen Fegefeuer, dass niemand etwas von ihren Nöten ahnte.
Was waren es dann für Fragen, die hinter ihrem Rücken kursierten? Welche Gerüchte? Warum hatte Gott kein Erbarmen? Sie vermochte nicht noch mehr Leiden zu schultern. Sie war am Ende. Es konnte doch nicht Gottes Wille sein, sie zu vernichten. Oder doch?
Pfarrer Claus setzte sich auch an das Tischchen und breitete seine warmen Hände über ihren klammen, bebenden Fingern aus. Sie schämte sich abgrundtief, als eine Träne auf seinen behaarten Handrücken tropfte, und sie entzog sich ihm und nestelte ein Taschentuch aus der Manteltasche.
»Wollen wir morgen weiterreden?«
Entsetzt schüttelte sie den Kopf. Das würde bedeuten, dass sie eine ganze Nacht im Höllenfeuer der Ungewissheit schmoren müsste.
Sie nahm allen Mut zusammen. »W-was sagt man denn?«, hauchte sie.
Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme, ließ sie aber nicht aus den Augen.
»Nach diesen merkwürdigen Vorkommnissen mit dem Müsli und dem Kuchen fragt man sich, woran eigentlich dein Mann gestorben ist.«
Bruno? Es ging um Bruno? Entsetzt fuhr Frieda auf. Damit hatte sie nicht gerechnet. Nie und nimmer, und es lief ihr augenblicklich heiß und kalt über den Rücken. Ihr Mund wurde trocken, und sie musste ein bösartiges Kratzen im Hals wegräuspern, ehe sie antworten konnte.
»Das ist dreizehn Jahre her.« Ihre Stimme krächzte, als sei sie mit dieser Ausflucht nicht einverstanden. »Es war ein Unfall.«
Pfarrer Claus legte den Kopf schief und brummte. »Hmmm.«
Lieber Gott, er glaubte ihr nicht. Was sollte sie noch sagen? Das mit dem Unfall war die reine Wahrheit.
»Frieda, es heißt, er habe den Unfall nachts um eins bei Eisregen selbst verursacht, noch dazu betrunken. Stimmt das?«
»Das … Das ist falsch.«
»Hast du ihn fahren lassen? Habt ihr euch vielleicht gestritten? Oder hat er sich ohne dein Wissen heimlich ans Steuer gesetzt? War es so?«
Frieda fasste hilfesuchend an ihren Anhänger, doch diesmal spendete er ihr keinen Trost. Im Gegenteil. Ihr war, als täte sich der Boden auf und als sähe sie direkt in die Hölle.
Nicht viel anders stellte sie sich das Jüngste Gericht vor, denn der Pfarrer wusste Sachen, die niemand, niemals …
Sie begann zu zittern und hob ihre Augen wieder zum Kruzifix, aber der Allmächtige sah genauso strafend zu ihr herab wie der Pfarrer.
»Besuchst du sein Grab regelmäßig?«
Sie konnte nicht mehr schlucken, so schnürte es ihr die Kehle zusammen, und sie war unfähig, etwas zu erwidern.
Schon traf sie die nächste Frage. »Und wie war das mit deinem Sohn? Hast du nicht gesagt, dass ihr euch beim letzten Zusammentreffen gestritten und euch nie mehr versöhnt habt?«
Georg? Sie gaben ihr Schuld am Tod ihres eigenen Sohnes? Frieda sprang auf, griff sich erneut an die Brust und suchte in ihrem dröhnenden Kopf nach einen Gebet, das ihr Linderung verschaffen konnte. Es fiel ihr keines ein. Nicht ein Wort vermochte sie zum Himmel zu schicken, außer einem panischen: »O mein Gott, o mein Gott, hilf mir, hilf mir.«
Es gab kein Erbarmen. Nicht für sie. Sie war verdammt.
»Sterben«, stammelte sie und taumelte mit einem wimmernden Laut rückwärts, während der Pfarrer protestierte und etwas von »dableiben« und »Gewissen erleichtern« rief.
Nein, nein, nein!
Fort, nur fort.
Die Dämonen der Vergangenheit sammelten sich über ihr, fletschten ihre Zähne und stießen auf sie hernieder, während sie unter starken Hüftschmerzen davoneilte. Heim, nur heim!
Außer Atem erreichte sie ihre Wohnung, schloss zitternd zweimal von innen ab und sank noch an der Tür erschöpft auf die Knie.
Immer noch kam ihr kein Gebet in den Sinn, dafür stand jene entsetzliche Szene an Brunos letztem Tag wieder vor ihren Augen. Aber sie wollte nicht daran denken. Sie hatte nichts dafür gekonnt. Sie hatte nichts getan! Elisabetha war es gewesen!
Und doch, sie hätte es verhindern können, wenn sie nur stärker gewesen wäre. Sie hätte es genauso verhindern müssen wie den Tod ihres Vaters, die Zunahme von Brunos Brutalität und … Halt, nein, niemals hätte sie sich Bruno zur Wehr setzen können. Einmal hatte sie es versucht, an jenem Tag, als sich Rosie das Bein gebrochen hatte. Sie hatte ihm Vorwürfe gemacht, ihm sogar angedroht, ihn zu verlassen, aber er hatte nur gegrinst und sie mit einem einzigen Schlag auf den Steinboden in der Küche gestoßen. Abgesehen von einem vorübergehenden blauen Auge hatte sie seitdem diese entsetzlichen Schmerzen in der Hüfte und chronisches Kopfweh, das von Jahr zu Jahr schlimmer wurde.
Die Konsequenz wäre gewesen fortzulaufen, doch das war für sie vollkommen unmöglich. Bruno hätte sie niemals gehen lassen, bestimmt hätte er ihr und den Kindern etwas angetan. Zuzutrauen wäre es ihm gewesen. So konnte sie nichts tun, außer beten, dass das Leben einigermaßen erträglich blieb und Bruno die Kinder nie wieder quälen würde.
Jetzt erkannte sie, dass sie auch darin versagt hatte: Sie hatte mit ihrer Passivität zugelassen, dass aus Georg ein unglücklicher Pedant auf der ewig unerfüllten Suche nach Liebe und Anerkennung geworden war. Sie hatte sein Unglück nicht verhindern, ihn nicht trösten oder stärken können, hatte sie doch selbst nie ein Rezept für ihre eigenen, ganz ähnlichen Verwundungen gefunden.
Erst nach Brunos Tod war sie hier in Freiburg zur Ruhe gekommen, aber nun war auch das vorbei. In den Augen des Pfarrers hatte vorhin ebenfalls jener altbekannte Ausdruck gelegen, den sie bei ihrem Vater und ihrem Ehemann hatte aushalten müssen. Wie erbärmlich man sich unter diesem Blick vorkam, konnte kein Mensch ermessen, der ihm niemals ausgesetzt gewesen war.
Sie kauerte sich zusammen, umschlang ihre Knie und schaukelte vor und zurück wie ein unglückliches Kind. Tränen rollten ihr über die Wangen und den Hals hinab, und sie konnte nicht mehr aufhören, sich mit der Vorstellung zu geißeln, dass sie allein es war, die die schwere Schuld der Familie Seidel aushalten und die Konsequenzen dafür tragen musste.
Immer tiefer sank sie in sich zusammen, griff sich an den Kopf, als könne sie sich vor den Teufeln schützen, die immer zahlreicher auf sie niederfuhren und sie piesackten.
Über Stunden verharrte sie in dieser Haltung, legte sich irgendwann, ohne etwas zu essen, in ihren Kleidern aufs Bett, schloss die Augen und betete, der Herr möge ihrer Qual ein gnädiges Ende setzen und sie endlich zu sich nehmen.