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EINS

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Montag, 25. Dezember 2006

Etwas Schweres lag auf ihrer Brust. Es hinderte sie daran, sich zu rühren, sich auf die Seite zu rollen, richtig zu atmen. Ebba schnappte nach Luft. Ein tiefes Brummen stülpte sich über ihren Kopf, verschloss ihre Ohren wie Watte, sperrte sie ein in ihre Urängste, lähmte sie.

Nichts hatte sie entgegenzusetzen, das Einzige, was ihr noch blieb, war so zu tun, als träume sie nur. Bloß nicht die Augen öffnen und wieder im Dunkeln liegen. Nicht schreien. Brav sein. Still sein!

Der Druck verlagerte sich von ihrer Brust auf ihren Hals, dann auf die Stirn, dann war er mit einem Mal fort. Jemand rüttelte sie leicht, und wenn sie sich anstrengte, konnte sie durch den dicken Wattemantel etwas hören.

»Ebba, Ebba!«

Sie traute sich nicht zu antworten, denn sonst würden die anderen noch schlimmer bestraft werden.

»Ebba!«

Das war nicht die Stimme ihres Vaters!

Verwirrt hob Ebba den Kopf und blinzelte. Schwarze Locken, azurblaue Augen, die sie besorgt musterten, dann ein zärtliches Lächeln – Gott sei Dank! Es war Jörg, Gino, wie sie ihn am liebsten nennen würde, weil sie nicht glauben konnte, dass er bei seinem Aussehen wirklich keine italienischen Vorfahren hatte.

»Wwas …«

»Schschscht«, machte er und legte die Hand auf ihren Mund, ganz sacht nur, aber es war zu viel. Augenblicklich kehrte die Panik zurück. Sie musste würgen. Sie unterdrückte den über Jahre im Kampfsport antrainierten Reflex, seine Hand mit einem geübten Hebelgriff zu fixieren und zu drehen, bis er vor Schmerzen stöhnen würde, stemmte sich aber kraftvoll gegen ihn, strampelte sich mit den Beinen frei und stieß dabei einen Schrei aus.

Er ließ sich auf den Rücken fallen und betrachtete sie verwundert. »Was war das denn?«

»Nie wieder – machen!« Mehr bekam sie nicht heraus, und sein Lächeln wich Ratlosigkeit.

»Was ist los? Wir hatten doch so eine wunderbare … «

Ebba setzte sich auf und versuchte sich zu beruhigen. Sie war in ihrer Wohnung, in Sicherheit. Niemand konnte ihr etwas antun oder sie irgendwo einsperren.

Ihr Blick wanderte vom integrierten offenen Badbereich mit der frei stehenden Wanne, neben der ihr Hayashi-Anzug mit dem braunen Gürtel am Haken hing, zur riesigen Fensterfront vor ihrem Bett, vor der sich ein grauer Morgen anschickte, das nasskalte Wetter der letzten Tage noch zu überbieten. Schneegriesel, Nieselregen, überfrierende Nässe – mal wieder Baden-Badener Weihnachtswetter wie aus dem Bilderbuch.

Was kümmerte es sie? Sie musste erst am Mittag los, und bis dahin würde sie …

»Alles in Ordnung?«

Sie nickte und ließ sich in die Kissen zurückfallen. Dann streckte sie die Arme nach ihm aus. Wenn sie sich zusammennahm und es gezielt zuließ, war es nicht schlimm, wenn er sich auf sie legte, im Gegenteil. Aber das Gewicht seines Arms auf ihrer Brust vorhin im Schlaf hätte ihr fast den Verstand geraubt.

Sie musste mit ihm reden, ihm Verhaltensregeln nennen. Aber sie hatte Angst davor, denn es waren viele, und vielleicht würde er deswegen die Beziehung abbrechen, die doch gerade erst begonnen hatte.

Sie spürte, wie sich ihre Brustwarzen aufstellten, als er ihr die schweißnasse Seidenjacke aufknöpfte, als seine warmen Fingerspitzen leicht wie eine Feder über ihre Kehle, die Halsbeuge, die Brüste strichen, sich den Weg hinab suchten, innehielten … Sie wünschte sich inständig, er möge weitermachen, keine Fragen stellen, sondern sie einfach weiter liebkosen. Lustvoll drehte sie den Kopf zur Seite und … Nein! Vorbei die prickelnde Versuchung, den Kopf auszuschalten, nur noch Gefühl zu sein.

Die Tür! Er hatte die Tür zwischen Schlaf- und Wohnzimmer geschlossen.

»Nein!«

»Ebba, beruhige dich.«

Aber sie wollte sich nicht beruhigen, denn schon schwoll das Brummen in ihrem Kopf an. Sie musste etwas tun, sofort! Keuchend wand sie sich aus der Umarmung, wankte zur Tür und stieß sie auf, dann blieb sie stehen, um die Weite des riesigen Penthouses, die Aussicht, die Luft zum Atmen zu spüren, zu schmecken und zu sehen.

Das Vibrieren in ihren Ohren wurde leiser, Jörgs Stimme verständlich. Eisig kalt fühlte sich nun der nasse Stoff auf ihrer Haut an. Sie schlang die Arme um sich, wie um noch einen winzigen Aufschub zu bekommen.

Nachdenklich heftete sie ihren Blick auf die Tür zum Schlafzimmer, die einzige, die sich noch im Apartment befand. Sie hatte sie eigentlich nur für ihre Gäste hängen lassen, damit diese ohne Hemmungen die sonst vor Blicken ungeschützte offene Toilette hinter dem Schlafbereich benutzen konnten. Wenn sie sich im riesigen Wohnraum aufhielt, konnte diese eine Tür auch vorübergehend einmal geschlossen sein. Eine Wohnungstür gab es ja auch. Aber wenn sie im Bett oder in der Badewanne lag, musste sie alles überblicken können. Alles musste offen sein, auch Vorhänge oder Rollläden an den Fenstern waren indiskutabel.

Er musste es erfahren. Wenigstens einen winzigen Teil. Sie musste es ihm endlich sagen, sonst würde es nie aufhören.

Vertraute sie sich ihm aber an, würde er keine Ruhe geben. Er würde wie bei ihrer ersten Begegnung wieder nachfragen, womöglich auf eigene Faust versuchen, die wahre Ursache herauszufinden. Das galt es unbedingt zu verhindern. Niemand durfte die Wahrheit erfahren, absolut keine Menschenseele. Niemals. Unter keinen Umständen. Das hatten sie sich geschworen in jener Nacht.

Sollte sie die Beziehung also lieber beenden wie die anderen zuvor? Schluss machen? O nein, nicht mit ihm. Alles stimmte diesmal.

Glucksendes Lachen kam aus seiner Richtung, und auch ohne zum Spiegel zu sehen, wusste sie, warum: Ihre Haare standen nach allen Seiten ab, wie immer, wenn sie sich aufregte. Automatisch hob sie die Hände und strich sich über den Kopf.

»Bitte«, begann sie und musste noch einmal ansetzen, weil sich ihre Kehle wie ein Reibeisen anfühlte. »Es ist mir todernst: Mach das bitte nie wieder, hörst du? Nie wieder!«

Im Dunkel der Schuld

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