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SIEBEN
ОглавлениеSonntag, 25. März 2007
So einfach war es doch nicht, die Sorgen hinter sich zu lassen, selbst in Paris nicht, obwohl sich Ebba viel Mühe gab, Maria auf andere Gedanken zu bringen.
Sie hatten Galerien rund um das Centre Pompidou sowie im Bastille-Viertel abgeklappert, zwei unvergessliche Stunden im Musée d’Orsay verbracht, hatten im Café Les Deux Magots einen Milchkaffee geschlürft, in der Brasserie Flo deftig gespeist und waren zum Abend hin über die frühlingshaften Boulevards gebummelt.
Trotzdem wollte sich keine unbeschwerte Stimmung einstellen. Ebba konnte immer noch nicht glauben, was Maria über die merkwürdigen Einbildungen ihres Bruders berichtet hatte. Maria sollte ihren eigenen Ehemann in den Wahnsinn treiben wollen, indem sie Wasserhähne aufdrehte und den Fernseher laufen ließ? Das war ebenso lächerlich wie die Vorstellung, ein Einbrecher könne regelmäßig sein Unwesen im Haus treiben, wenn sie nicht daheim waren. Lag es an Georg, dem vielleicht allmählich die Kontrolle entglitt, ohne dass er es merkte?
Das bereitete Ebba erhebliches Kopfzerbrechen. Hinzu kam, dass er sich nicht meldete. Sie hatte pünktlich angerufen, aber er hatte nicht abgenommen. Sie hatte es zehn Minuten später versucht, und wieder und wieder, sowohl zu Hause als auch im Büro, dessen Nummer Maria ihr in Panik diktiert hatte – kein Lebenszeichen, weder am Freitag noch am Samstag.
Maria hatte beide Nächte kaum geschlafen, und auch Ebba war jedes Mal wach geworden, wenn sich ihre Schwägerin auf der durchgelegenen Matratze herumwälzte. So viel zur Bequemlichkeit französischer Betten.
Natürlich hatte sie es heute ab sieben Uhr stündlich bei Georg probiert – vergebens. Freunde, die nach dem Rechten sehen konnten, hatten sie nicht, wie Maria mit zitterndem Kinn gestand. Was war das für ein einsames Leben, nur die beiden, putzend, wischend, Listen abstreichend! Ebba unterdrückte erst leichte Ungeduld, dann leise Verärgerung.
Warum nahm ihr Bruder nicht ab, verdammt noch mal? Ging ihre Uhr nicht genau? Wollte er ihr beibringen, nicht um eine Minute vor oder zwei Minuten nach, sondern exakt mit dem Glockenschlag anzurufen? Mit welchem? Dem ersten oder dem letzten? Sie wollte sich den Parisaufenthalt nicht von irgendwelchen Ordnungsspielchen verderben lassen.
»Mona Lisa im überfüllten Louvre oder ein träumerischer Halt im Garten von Auguste Rodin? Wonach steht dir der Sinn?«, fragte sie gegen Mittag betont munter, aber es half nichts.
Gleich würde Maria mit ihren Tränen den Kaffee versalzen.
Seufzend schlug Ebba ihren Terminkalender auf und ging die Verabredungen der nächsten Tage durch. Eigentlich war es mehr Kontaktpflege, nur bei ein oder zwei Treffen konnte am Ende ein Kauf herausspringen. Nichts, was sich nicht verschieben oder via Telefon und Internet erledigen ließe.
»Montmartre können wir uns sparen, alles voller Touristen«, murmelte sie vor sich hin. »Notre Dame muss sie gesehen haben, und den Eiffelturm eigentlich auch.«
Wenigstens den Rest des Sonntags sollten sie noch halbwegs sinnvoll verbringen. Und wenn Georg heute Abend immer noch nicht …
Maria schnüffelte in ihr Taschentuch. »K-kannst du’s bitte noch einmal versuchen? Vielleicht etwas ist passiert. Sein Herz, du weißt doch …«
Und ob Ebba das wusste. Hundert Szenen wirbelten ihr wie auf Kommando durch den Kopf.
Georgs Schwimmversuche, die mit blauen Lippen und ebenso blauen Fingerkuppen endeten, seine Schnappatmung, wenn Papa ihn zwang, mit dem Fahrrad in Rekordzeit Einkäufe in der Stadt zu erledigen und wieder die Anhöhe zu ihnen hinaufzuradeln. Seine ständige Müdigkeit, die Papa ihm als Schwäche auslegte und austreiben wollte. Die Ader an seiner Schläfe, die zu zerspringen drohte, wenn er sich anstrengte.
Schon früh hatte sie gelernt, dass sie von ihrem großen Bruder keine Hilfe erwarten durfte, sondern ihn im Gegenteil beschützen musste.
So war es bis heute.
Ebba sah auf die Armbanduhr und kramte ein paar Euro aus der Tasche.
»Also gut«, sagte sie. »Wir essen noch eine Kleinigkeit, dann gehen wir zum Hotel, checken aus und fahren zurück. Wenn wir gut aus Paris rauskommen, brauchen wir für die Strecke fünf Stunden. Du wärst also gegen neunzehn Uhr in Heidelberg, okay?«
Marias Strahlen entschädigte sie für vieles. Außerdem – niemand hinderte sie daran, morgen zurückzukommen. Vielleicht sogar mit Jörg. Es war ja wirklich keine Weltreise.
Sie schafften es bis kurz vor der Tagesschau, und als Ebba vor dem Haus parkte und die dunklen Fenster sah, sprang Marias Angst, die sie während der Fahrt mit Musik und Anekdoten aus dem Kunstbetrieb hatte besänftigen wollen, mit voller Wucht auf sie über. Im Geiste sah sie ihren Bruder seit Tagen in der Badewanne liegen, blau angelaufen, oder im Fernsehsessel sitzen, mit offenem Mund und fragendem Blick in den toten Augen.
»Schnell, schnell«, trieb sie Maria an und drängte ungeduldig nach ihr ins Haus. Schon am Briefkasten neben der Tür stutzte sie. Die Samstagszeitung steckte noch! Sie stieß ihre umständliche Schwägerin zur Seite, machte Licht und rannte durch alle Räume.
»Georg, Georg!«, schrie sie dabei, und Maria ließ sich von ihrer Panik anstecken und folgte schluchzend.
Aber Georg war nicht da. Alles war penibel aufgeräumt, sogar der Mülleimer unter der Spüle war blitzsauber, wie Ebba feststellte, als sie ein Papiertaschentuch entsorgen wollte, mit dem auch sie sich ein paar Tränen fortgewischt hatte. Tränen der Erleichterung allerdings, weil es keine Leiche gab. Vielleicht war ihr Bruder spazieren gegangen. Vielleicht machte er spontan einen Ausflug, sein Auto stand ja nicht in der Garage. Vielleicht – ja, vielleicht war etwas mit Mama, und er war nach Freiburg gefahren!
Bebend wählte Ebba die dortige Telefonnummer. Ihre Mutter kam nach dem zweiten Klingeln an den Apparat.
»Georg? Nein, den habe ich seit Weihnachten weder gehört noch gesehen«, sagte sie mit weinerlicher Stimme. »Du kennst ja seine Regeln. Er will sich Ostern melden, da kann ich doch nicht vorzeitig anrufen, obwohl ich mich sehr nach einem versöhnenden Wort sehne.«
Ebba verdrehte die Augen. Natürlich könnte Mama ihn anrufen – wo war das Problem? Sie wollte nicht, hatte nie gewollt und sich immer hinter ihrem ewigen »ich kann nicht« versteckt.
Aber das gehörte nicht hierher. Wo konnte Georg sein? Sollte sie bei der Polizei anrufen oder sich zuerst in den Krankenhäusern nach ihm erkundigen? Dann fiel ihr das Naheliegende ein.
»Kann es sein, dass er arbeitet?«
Maria machte Kuhaugen. »Heute? Never. Sonntag ist Tatorttag.«
Wieder sah Ebba zur Decke. Georgs Regeln! Fluch oder Segen – das würde sich gleich herausstellen. Konnte es sein, dass Georg ohne Maria alle Richtlinien über Bord warf? Oder war er – wie sie insgeheim befürchtete – mittlerweile so desorientiert, dass er im Büro saß und nicht mehr nach Hause fand? Wer sich ausdachte, dass jemand Fremdes oder gar die eigene Ehefrau ihn in den Wahnsinn treiben wollte, der war vielleicht ernsthaft krank.
»Aber hier ist er nicht«, stellte sie fest und schob ihr Kinn vor. »Wir fahren zu seinem Büro – und bitte keine Einwände.«
Im Nachhinein fragte sich Ebba manchmal, ob es nicht besser gewesen wäre, sich erst an die Polizei zu wenden und eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Aber wahrscheinlich hätten die Beamten sie ebenfalls zunächst zum Büro geschickt; es wäre ihnen also nicht erspart geblieben, Georg zu finden.
Dass etwas nicht stimmte, hatte sie sofort geahnt, als sie Georgs Wagen einsam auf dem riesigen Parkplatz hinter dem Bürokomplex sah. Im gesamten Gebäude brannte kein Licht, und das konnte nur bedeuten, dass er nicht etwa in seine Arbeit vertieft war, sondern vermutlich gesundheitliche Schwierigkeiten hatte.
Sie hatte die Polizei gerufen, die den Hausmeister kommen ließ, der ihnen Zutritt zum Gebäude verschaffte. Im Eingangsbereich roch es nach frischer Farbe, ansonsten war alles still. Zu still.
Als sie Georg im zweiten Stock zwischen den geöffneten Türen des Aufzugs fanden, nahm Ebba ihre Schwägerin gerade noch rechtzeitig in den Arm, um ihr den schlimmsten Anblick zu ersparen.
Ihr Magen krampfte sich zusammen, während sie auf ihren toten Bruder blickte, der mit blutverkrusteten Fingerspitzen und starrem Blick zusammengekrümmt dalag und sich nicht gegen die Türen wehren konnte, die im Rhythmus einer unhörbaren Melodie immer wieder zugleiten wollten, aber von der Lichtschranke daran gehindert wurden und mit einem dumpfen Seufzen auseinanderfuhren, ohne seinen toten Körper zu berühren.
Wie betäubt stand sie mit Maria da, erlebte wenig später das Erscheinen der Kriminalpolizei und des Rechtsmediziners, der Polizeifotografen und Kriminaltechniker, als betrachte sie eine Szene in Georgs geliebtem »Tatort«.
Maria saß irgendwann in einem Abstellraum in der Nähe von Georgs Büro und trank ein Glas Wasser, in dem jemand ein Beruhigungsmittel aufgelöst hatte. Sie war zu keiner Aussage fähig. Also gab Ebba Auskunft, so gut sie es mit dem Aufzug im Blickfeld konnte.
Der Mediziner sah irgendwann hoch und schüttelte den Kopf. »Den Todeszeitpunkt würde ich grob auf Freitagabend legen, kurz vor Mitternacht. Ich kann keine äußeren Anzeichen eines unnatürlichen Todes feststellen«, sagte er. »Wir obduzieren ihn.«
Ebba schluckte. Unnatürlicher Tod? Wer sollte Georg denn etwas zuleide tun wollen, und warum?
Hatte sein Tod mit den Sabotagefällen zu tun? Aufgeregt informierte sie die Polizei über die merkwürdigen Vorfälle, aber auch darüber, dass Georg in erster Linie seine Frau verdächtigt hatte und diese, seit sie Georg das letzte Mal lebend gesehen hatten, ununterbrochen bei ihr gewesen war.
Etwas anderes kam ihr allerdings sehr merkwürdig vor. »Er hatte Angst vor Aufzügen«, berichtete sie dem Hauptkommissar, einem korpulenten Mittfünfziger mit misstrauisch zusammengezogenen dunklen Augenbrauen. »Niemals wäre er freiwillig in einen Lift gestiegen.«
Der Ermittler nickte. »Ich habe mich auch schon gefragt, was er da wollte. Seine Aktentasche und sein Mantel befinden sich noch im Büro, und das hatte er abgeschlossen und trug den Schlüssel bei sich. Wir werden den Aufzug untersuchen lassen. Gehen Sie nach Hause. Wir melden uns, wenn es etwas Neues gibt oder wenn wir noch Fragen haben. Können Sie die Nacht bei Ihrer Schwägerin bleiben?«
Natürlich konnte sie das. Wieder und wieder fragten sie sich in den nächsten Stunden, was wohl passiert war. Offenbar hatte Georg Überstunden gemacht, aber warum? Das sah ihm gar nicht ähnlich. Und dann die Sache mit dem Lift.
Aber sosehr sich Ebba auch den Kopf zerbrach – sie fand keine Antwort.
Auch Jörg, den sie angerufen hatte und der sofort zu ihnen gekommen war, wusste keine plausible Erklärung. Er nahm Ebba in den Arm, gab Maria eine gut verträgliche, schnell wirkende Schlaftablette, und saß den Rest der Nacht wie ein Fremdkörper auf dem beigefarbenen Kunstledersofa in Georgs sterilem Eichenholz-Wohnzimmer.
Ebba fror erbärmlich. Grund dafür war nicht nur die Anspannung, sondern auch die Nachtabsenkung, die das Haus auf 15 Grad auskühlen ließ. Auch abends waren es nie mehr als 18 Grad. Der weiße Fliesenboden und das Fehlen von Gardinen, Decken, Kissen oder Teppichen ließen den Raum noch mehr wie eine Kühlkammer wirken.
Jörg kochte in der blitzblanken Küche einen Tee und suchte die Schränke nach etwas Essbarem ab.
»Knäckebrot, fettarmer Joghurt und ein Stück Gurke, mehr finde ich nicht«, stöhnte er. »Soll ich den Pizzadienst rufen?«
Ebba schüttelte den Kopf. »Nimm mich lieber in den Arm«, bat sie und war schon fast getröstet, als sie sich in seinen flauschigen Rollkragenpullover kuschelte, der nach seinem Rasierwasser und nach Terpentin roch. Sie schnupperte noch einmal und verzog das Gesicht.
»Wonach riechst du denn? Was hast du am Wochenende gemacht?«
Er lachte lautlos und hätte mit dem Grübchen im schwarzen Dreitagebart glatt als italienischer Filmschauspieler durchgehen können.
»Lisa wird nächsten Monat zwölf. Da ist Rosa so was von megaout oder uncool oder wie das gerade heißt. Weiße Wände, hellblaue Polster – das ist jetzt in. Was macht also der böse Scheidungspapa an seinem unverhofft freien Wochenende? Er streicht das Mädchenzimmer in seiner Wohnung um, während seine Geliebte ohne ihn durchs frühlingshafte Paris flaniert. Oh, entschuldige, ich wollte nicht herzlos sein.«
Er strich ihr sanft über den Kopf und murmelte: »He, deine Haare! Völlig elektrisch.«
Ebba machte sich steif. »Das waren sie schon immer. Das elektrische Kind haben sie mich früher genannt. Es war schrecklich für mich, als ich klein war.«
»Erzähl.«
Ebba schüttelte den Kopf. »Da gibt es nicht viel zu sagen. Ich habe mich ja nicht sehr verändert. Damals war ich noch durchscheinender, fast wie ein Albino. Die Leute wurden still und starrten mich an, sobald ich einen Raum betrat. Wie ich das gehasst habe! Und weil ich mich aufregte, standen mir die Haare zu Berge, und alle fingen an zu lachen. Allen voran mein Vater. Manchmal zwang er Georg, sich hinter mich zu stellen, die Hände seitlich an meinen Kopf zu halten und dann langsam nach oben zu heben. Meine Haare gingen mit, und alle lachten noch lauter. Ich kam mir vor wie ein Zirkuspferd, und Georg weinte, weil er nicht wollte, dass ich mich schämte. Immerzu wurde er gegen uns ausgespielt. Ständig forderte mein Vater von ihm, er solle beweisen, dass er kein Versager ist. Aber je mehr er den Befehlen gehorchte, umso erbärmlicher fühlte er sich. Vielleicht ist er deshalb so geworden, wie er heute ist. War.«
Jörg sah sie mitfühlend an. »Dein Vater … Wie ist er eigentlich gestorben?«
»Bitte, Jörg, ich will nicht darüber reden.«
»Aber warum denn nicht? Was ist damals geschehen?«
»Was geht dich mein Vater an? Warum bohrst du schon wieder in der alten Geschichte herum? Ausgerechnet heute, wo Georg … O mein Gott. Ich kann es noch gar nicht …« Ebba schlug sich die Hand vor den Mund. »Ich habe Mama noch gar nicht informiert, und Rosie auch nicht.«
Jörg zog sie an sich. »Lass sie schlafen. Morgen früh ist Zeit genug.«
»Wie lange kannst du bleiben?«
Er sah zur Uhr und zögerte. »Solange du mich brauchst.«
»Red keinen Unsinn. Du hast doch Fototermine ausmachen wollen.«
Er sah erleichtert aus. »Kommst du allein klar?«
»Natürlich.«
»Sicher? Aber wir könnten noch zusammen frühstücken. Ich fahre gleich los und besorge alles. Was für eine Kaffeemaschine hat dein Bruder eigentlich? Pads, Kapseln oder …«
»Pfefferminztee.«
»Autsch.«
Dankbar strich Ebba ihm über den Arm. Bei all dem Schmerz, der sie in immer größeren Wellen überschwemmte, war sie in diesem Moment mehr denn je davon überzeugt, den Richtigen getroffen zu haben. Er machte ihr Mut, glaubte an sie und konnte ihr Trost spenden. Und, was noch wichtiger war: In seiner Gegenwart fühlte sie sich sicher. Zum ersten Mal in ihrem Leben.