Читать книгу Im Dunkel der Schuld - Rita Hampp - Страница 8
DREI
ОглавлениеEs dauerte trotzdem nicht mehr lange.
Im Nachhinein kam es Ebba vor, als hätten alle nur auf irgendeinen noch so kleinen Auslöser gewartet.
Diesmal geschah es, als ihre Mutter zur Tür hereinkam. Ebba stand gerade außer Sichtweite der Küche, was sie nur ungern tat, wenn etwas in den Töpfen köchelte. Maria war beim Staubsaugen an den Esstisch gestoßen und hatte aus Versehen eines von Georgs soldatisch aufgereihten Gläsern umgeworfen, dass es kaputtging und sie laut zu schluchzen begann. Was Georg mit Wortfetzen quittierte, aus denen maßlos angestaute Wut sprach.
»Absicht – Sabotage – seit Monaten schon – jetzt auch hier – lüg nicht«, zischte er, und Ebba war hinzugeeilt, weil sie dachte, er würde seine Frau gleich ohrfeigen. Rosie stand abseits, rang ihre Hände und murmelte etwas von »keine Absicht«, »es ist doch Weihnachten.«
Gleich würde das Pulverfass hochgehen.
Ebba machte ein paar Schritte ins Esszimmer und sammelte die Scherben zusammen. «Aufhören, alle!«, fuhr sie ihre Geschwister an, während draußen die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. »Maria, hol einfach den kleinen Handfeger. Georg, würdest du bitte still sein? Niemand will dir etwas Böses. Das bildest du dir ein. Und Rosie, bitte! Setz dich am besten schon auf deinen Stuhl.«
Mit einem Ohr lauschte sie in die Küche. Und da hörte sie es auch schon: Die Ofentür schnappte zu. Sie merkte, wie sich ihr die Haare aufstellten.
Drei, vier große Schritte genügten, und sie stand neben ihrer Mutter, die sich noch im Mantel an der Gans zu schaffen machte.
Rosie war ihr gefolgt und hielt sie am Arm fest. »Nicht, Ebba, nicht aufregen. Sie meint es nur gut …«
Ebba schüttelte die Hand ab.
»Was hast du getan?«, schnappte sie und versuchte, einen Anflug von Panik niederzuringen.
Ihre Mutter drehte sich lächelnd zu ihr um. »Nichts. Nur etwas Wasser. Man riecht bis draußen, dass die Gans gleich anbrennt.« Sie stockte, und ihr rechtes Augenlid flatterte etwas. »Und eine Prise Beifuß. Eine Gans muss nach Beifuß riechen.«
»Das ist mein Essen!«
Frieda Seidels Lippen wurden schmal, und sie knöpfte sich den Mantel auf. »Nicht so laut, Elisabetha, benimm dich bitte.«
»Du isst die Gans doch gar nicht. Was soll das?«
»Nichts kann ich dir recht machen.«
»Wirst du bitte endlich akzeptieren, dass ich aus gutem Grund selbst koche und dass ihr nichts an meinen Töpfen zu suchen habt? Man kann schon wütend werden, wenn das nicht beachtet wird.«
»Diese Regeln stellst nur du auf.«
»Du weißt, warum.«
Ihre Mutter senkte den Kopf. »Ich kann doch nicht ahnen …«
»Nun streitet euch nicht. Es ist Weihnachten!«
»Rosie, halt dich da raus. Es geht einfach nicht, wenn ihr hinter meinem Rücken etwas ans Essen tut. Die Gans ist jedenfalls verdorben.«
»Du übertreibst. Du gehst ja auch ins Gasthaus zum Essen.«
»Nur in wenigen Ausnahmen. Wenn ich nicht sicher bin, was im Essen ist, kriege ich keinen Bissen herunter. Das weiß jeder hier. Erinnert ihr euch nicht mehr an die Regenwürmer und …«
Georg stürzte mit aufgekrempelten Ärmeln aus dem Bad herbei.
»Aufhören!«, rief er und schüttelte sich die Hände trocken. »Bitte, nicht wieder die alten Geschichten. Ebba, es waren Beifuß und Wasser, okay? Davon geht die Welt nicht unter.«
Ebba verschränkte die Arme und blitzte ihn wütend an, während sich ihre Mutter an die Hüfte fasste und humpelnd im Schlafzimmer verschwand.
»Ach ja? Davon geht die Welt nicht unter? Sehr interessant. Ich werde dich bei Gelegenheit daran erinnern.«
Rosie klatschte in die Hände. »Niemand meint es böse, nicht wahr? Können wir uns einfach an den Tisch setzen und friedlich sein? Es ist Weihnachten! Ebba, was gibt es als Vorspeise? Rote Bete und Feldsalat? Darf ich dir beim Servieren helfen?«
Unschlüssig sah Ebba von einem zum anderen, dann betrachtete sie den festlich gedeckten Esstisch, auf dem Maria gerade die Kerzen anzündete, und es kam ihr vor, als blickte sie direkt in den brodelnden Krater eines Vulkans.
Sie biss die Zähne zusammen. Vielleicht hatte Georg recht. Vielleicht hatte sie überreagiert. Es war nur Beifuß gewesen, nichts sonst. Es wäre schön, wenn sie es schafften, diesen Abend mit Anstand durchzustehen. Sie wünschte sich so sehr, dass ihre Familie endlich Frieden fand. Dazu musste jeder seinen Beitrag leisten, auch sie.
»Na gut. Georg, würdest du dann bitte die Gans tranchieren?«
Ihr Bruder betrachtete eingehend seine rissigen Hände. »Willst du das wirklich?«, fragte er mit leisem Entsetzen in der Stimme.
Maria rettete die Situation, indem sie ihn sanft zur Seite nahm, in ihrer Handtasche kramte und ein Paar Einmalhandschuhe hervorzauberte.
Rosie drehte das Radio mit dem Glockenläuten lauter, und Georg streifte die Plastikhandschuhe über und folgte Ebba in die Küche. Mit gerunzelter Stirn machte er sich daran, den Vogel kunstvoll und akkurat zu sezieren. Während Ebba die Teile in den Ofen zurückschob, pellte er sich aus den Handschuhen und verschwand im Bad, wo man ihn gleich darauf stöhnend die Finger schrubben hörte.
Ebba schmeckte die Gemüsesorten ab, dann gab sie Rosie das Zeichen, die Vorspeise aufzutragen. Der Kräutertee für ihre Mutter war aufgebrüht, in den schlanken Gläsern perlte das Mineralwasser, und sie selbst schenkte sich den mitgebrachten Rotwein ein und schwenkte die samtige Flüssigkeit andächtig in dem hohen, bauchigen Glas.
Ihre Mutter hatte sich in der Zwischenzeit umgezogen und trug nun ein dunkelblau schimmerndes Seidenkleid, auf dem die Kette mit dem Perlenkreuz gut zur Geltung kam. Naserümpfend schüttelte sie den Kopf.
»Für einen Abend könntest du wirklich auf Alkohol verzichten. Du weißt doch, was er anrichten kann«, sagte sie leise und faltete mit großer Geste die Hände, bevor Ebba etwas erwidern konnte.
»Mama, bitte«, versuchte sie es noch, aber es war zu spät.
»Wir haben Schuld auf uns geladen und müssen Buße tun«, begann ihre Mutter eindringlich. »Georg, Rosie, Ebba, faltet die Hände, schließt die Augen und betet mit mir um Gnade und Erlösung, denn wir haben gesündigt.«
Die Einzige, die mitmachte, war Maria. Die Schwestern tauschten beunruhigte Blicke aus, und Georg wurde bleich, während sich seine Lippen leicht bläulich färbten. Seine Augenhöhlen schienen plötzlich riesengroß zu sein, und die Nase wurde spitzer. Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn, und er musterte angestrengt seine rissigen Finger.
»Unsere Schuld, unsere große Schuld«, murmelte Frieda unverdrossen, als merke sie nicht, dass es nicht mehr lange dauern würde.
»Amen«, unterbrach Ebba sie. »Lasst uns anfangen, ehe alles kalt wird.«
»Vergebung. Wir müssen um Vergebung bitten«, beharrte ihre Mutter. »Ich konnte nicht verhindern, Schuld auf euch zu laden, und deshalb ist es genauso auch meine …«
Krachend flog der Stuhl nach hinten, als Georg aufsprang und sich schwer auf die Tischplatte stützte. Es sah aus, als wolle er die Tafel umwerfen oder als sammelten sich schreckliche, tödliche Worte in ihm, an denen er entweder ersticken oder die er ihnen gleich wie einen Speer entgegenschleudern würde.
Rosie begann zu wimmern und krümmte sich, Frieda ergriff das Kreuz auf ihrer Brust und hob es hoch, als wolle sie einen Vampir vertreiben, und Maria stand langsam auf, als könne sie dadurch verhindern, was sich anbahnte.
»Es ist genug, Mama«, sagte Georg leise. »Wir wissen es, wir denken Tag und Nacht daran. Wir brauchen deine Gebete und deine Ermahnungen nicht. Niemand wird uns die Last nehmen, und wenn du noch so viel betest. Wir alle sind uns seit damals einig, dass niemand jemals darüber ein Wort verliert. Ich habe dich gestern am Telefon gebeten, uns damit in Ruhe zu lassen. Aber du …«
»Ich hätte deinem Wunsch gern entsprochen, aber ich kann doch nicht …«
»Ich kann nicht, ich kann nicht … Ich habe es satt, mir das länger anzuhören. Mein Leben lang hat mich dieses ›ich kann nicht‹ verfolgt. Ich sage dir eines, Mama: Du hättest sehr wohl gekonnt. Es wäre als Mutter sogar deine Pflicht gewesen, uns zu retten und zu beschützen. Wer hätte es sonst tun sollen?«
»Georg, bitte. Mama hat getan, was sie konnte, aber sie war eben schwach. Sie hat doch am eigenen Leib …«
»Entschuldige nicht alles und jeden, Rosie. Es wäre nie so weit gekommen, wenn sie gehandelt hätte, anstatt immer nur zu jammern. Es hätte gereicht, dem Pfarrer einen Hinweis zu geben, anstatt sich in Psalmen und Bibelstellen zu wälzen. Weißt du eigentlich, was du uns angetan hast, Mama?«
Ebba schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Jetzt ist es genug. Du hast deine Meinung gesagt. Alles Weitere, was dir noch auf der Zunge liegt, wird dir später leidtun, Georg. Hör auf. Es bringt nichts. Es ist Vergangenheit. Wir müssen sehen, wie wir anständig weiterleben. Jetzt und heute und morgen. Also setz dich hin und iss.«
Georg aber blieb stehen. Er schwankte leicht, und Ebba sah ihm an, dass ihm das Herz wieder zusetzte. Maria hielt schon das kleine Fläschchen bereit, das er gleich brauchen würde. Es würde sein wie immer. Er würde im Bad verschwinden und nach ein paar Minuten wortlos zurückkommen und sich zu ihnen setzen, und sie würden über ihre beruflichen Pläne, Urlaubswünsche und Wohnorte reden, als sei nichts geschehen, und alles würde gut sein.
Aber diesmal dachte Georg nicht daran. Er streckte die Hand nach seiner Frau aus und ging mit ihr aus dem Zimmer, aus der Wohnung, aus dem Haus. Ohne ein Abschiedswort verließ er sie, und eine düstere Ahnung befiel Ebba, es könne vielleicht für immer sein.