Читать книгу IM FADENKREUZ - Robert Blake Whitehill - Страница 8

Kapitel 2

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Tote Männer sollen in Frieden ruhen. Sie erzählen keine Geschichten. Sie geraten bald in Vergessenheit, trotz der tiefen Furchen in ihren Grabsteinen. Ben Blackshaw, seit den letzten vier Monaten der Welt entschwunden, war eigenartig nervös. Das sollte nicht so sein. Er sollte so etwas wie diese Unruhe, die über seine Haut kroch und ihm die Nackenhaare aufstellte, nicht spüren. Aber die Schrift war nun mal an der Wand und er erkannte die Handschrift wieder.

Der Winter im Greenwich Village war hart und kalt gewesen. Weihnachten und Neujahr waren an Ben vorübergegangen, mit wenig mehr als einem leeren Verlangen nach Menschen und Orten, die entweder zu weit entfernt lagen oder von denen er durch Tod und Zeit getrennt war. Sein Heimweh grenzte an Depression. Er hätte sich noch schlechter gefühlt, wenn die Arbeit nicht seine Tage und große Teile seiner Nächte beansprucht hätte. Er konnte nicht schlafen, war stets erschöpft. Er war nicht aus New York. Das Schnitzen neuer Vorlagen für die Wachsformen, die für seine ungewöhnlichen Aufträge nötig waren, genügte nicht, um ihn von dem Gefühl abzulenken, ein Fremder weit hinter den feindlichen Linien einer fremden Stadt zu sein. Ben war von Smith Island in der Chesapeake Bay und doch war Manhattan anders als jede Insel, die er je gekannt hatte. Es war überhaupt nicht wie zuhause.

Die Frühlingskälte hielt sich mit eisigen Krallen in den Schatten zwischen den alten Fabrikgebäuden fest. Die meisten Gebäude in der Gegend waren schon vor langer Zeit zu luftigen oder zugigen Räumlichkeiten umgebaut worden, je nachdem, ob man Makler oder Mieter war. Nun waren sie hochwertiger Wohnraum oder trendige, minimalistische Großraumbüros mit ums Überleben kämpfenden Einzelhandelsgeschäften auf der Fußgängerebene. Es war so früh am Tag, dass nichts geöffnet hatte.

Ben schleppte sich durch Vierundzwanzig-Stunden-Tage in einem unausgebauten Keller eines heruntergekommenen Gebäudekomplexes, der von den hungrigen Bauunternehmen geschmäht wurde, wegen einer belastenden Menge an ungeklärten Besitzansprüchen, gepfefferten Steuerrückständen, die niemand zahlen wollte, Gerichtsverfahren, Bauvorschriftsverstößen und Problemen mit der Bauordnungsbestimmung. Ein gesamtes fünfstöckiges Gebäude, dass unter Papierkram begraben war. Wäre er am Leben, hätte man Ben einen Besetzer genannt. Heute war er ein Geist.

Das hätte er zumindest sein sollen. Nun, im Gegensatz zu den vielen Toten, für die er selbst verantwortlich war oder deren Ableben er während des ersten Golfkrieges und auf anderen Einsätzen beobachtet hatte, anders als der Tote, der er eigentlich sein sollte, verspürte er Furcht. Das fasste es ganz gut zusammen. Ein flaues Gefühl im Bauch. Er hatte Angst.

Er war von seinen unruhigen Träumen vom Sonnenaufgang über der Chesapeake in dem kalten Kerker erwacht. Wie üblich war er an diesem Morgen aus dem versteckten Hintereingang seines Gebäudes gekrochen und vorsichtig sieben Blocks zu einem Imbissladen gegangen, der die ganze Nacht geöffnet hatte. Er variierte seine Route täglich, wobei er manchmal ziemliche Umwege für einen schlechten Kaffee auf sich nahm, der auch durch Milch und Zucker nicht besser wurde.

Wenn das Heimweh besonders stark war, übertrug er die mäandernden Wasserwege und Ströme des Smith Island Archipels auf das winklige Straßenraster. Ein Bummel zum Drum Point Market zuhause auf Smith führte ihn stadtauswärts und auf die Westseite. Ein imaginärer Besuch im Haus seines guten Freundes Knocker Ellis bedeutete einen Marsch stadteinwärts und dann nach Osten. Er brach seine Fantasiepfade immer ab, bevor er seine eingebildeten Ziele erreichte. Es war sogar zu schmerzhaft für ihn, sich vorzustellen, wie seine Braut LuAnna seine Hand auf diesen Streifzügen hielt. Es würde keine wundersame Heimkehr in der verwitterten Smith Island Saltbox geben, die er sein Zuhause nannte. Kein Geplänkel mit seiner Frau. Keine Witze oder Sticheleien, die man mit Freunden teilte. Er landete immer in dem koreanischen Vierundzwanzig-Stunden-Imbiss, wo niemand jemals auf die Idee käme, Käse in den Kaffee zu tun, wie es auf Smith Island Brauch war.

Ben brauchte das Koffein nicht. Er wollte verzweifelt an die frische Luft, sofern sie in New York zu finden war. Kaffee zu holen, war lediglich eine Mission. Der Imbiss, ein Ziel. Sein Jäger-Verstand, von den Jahren im Militärdienst geschärft, funktionierte besser, wenn es einen Plan gab. Die Akkordarbeit seiner derzeitigen Beschäftigung, so lukrativ sie auch war, betäubte seine Seele. Erschöpfung erledigte den Rest und alles zusammen machte ihn anfällig für ein Heimweh, wie er es nie gespürt hatte, als er im Golf gedient hatte; das war eine unverzeihliche Gefühlsduselei, die ihn dazu veranlassen konnte, unachtsam zu werden und am Ende dem Tod sehr viel näher zu kommen, als er bereits war.

Jemand wusste, dass er in der Stadt war, aber Bens anonyme Arbeitskluft hatte ihn nicht verraten. Der Stoff war dunkel, von seinem Schöpfer gefärbt, um den Schmutz und die Schmiere von harter, niederer Arbeit über viele Tage zwischen den wenigen Waschgängen zu verstecken. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kinn hinauf. Die Jacke war aus billigem Nylon, ein verhaltenes Dunkelblau. Es war eine unförmige, wattierte Kopie aus Übersee und wurde in den Billigläden Manhattans an Arbeiter verkauft, die gerade so über die Runden kamen. Er hatte die paar Löcher, die durch die enorme Hitze bei seiner Arbeit entstanden waren, mit schwarzem Duct Tape zugeklebt. Ben zog seine Rollmütze tiefer über seine Ohren. Das Walle-Polyester-Gemisch war ebenfalls dunkel. Nichts Besonderes. Keine Logos.

Von Kopf bis Fuß war Ben ein unbeschriebenes Blatt. Ein Geheimnis. Er passte sich seiner Umgebung an. Er war nicht mehr von dieser Welt, und nun versuchte jemand, ihn zurückzuholen.

Auf dem umständlichen Rückweg nahm er etwa jeden halben Block einen Schluck Kaffee. Wenn er seinen Kopf leicht zurückneigte, um zu trinken, ließ er seine Augen über den Gehweg vor ihm, die andere Straßenseite und die darüberliegenden Fenster schweifen. Ohne nachzudenken, filterte er die sanften Schritte seiner eigenen Gummisohlen aus; rechnete stets mit Geräuschen hinter sich. Alles, was auch nur annähernd wie verstohlene Schritte auf sechs Uhr klang, wie es im Militär hieß, oder direkt hinter ihm, ließ ihn lässig über seine Schulter blicken. In der ersten Woche in der Stadt hatte er befürchtet, diese Vorsicht würde ihn verdächtig wirken lassen und daher Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Doch er lernte schnell, dass dies der Big Apple war und dass hier jeder Augen im Hinterkopf hatte.

Dennoch, zu dieser Stunde waren nur wenige auf den Straßen unterwegs und sie hatten größere Probleme als irgendeinen Typen, der mit einem lausigen Käffchen herumlief. Straßenräuber waren im Bett, nachdem sie bis spät in die Nacht denjenigen aufgelauert hatten, die völlig betrunken oder auf Drogen waren. Sie zehrten von den Party-Kids, die einen schnellen und stillen Angriff wegen der lauten Musik in ihren Kopfhörern nicht bemerkten, und von denen, die schon ein hohes Alter erreicht hatten und nun wehrlos waren. Bens Schritte wiesen gerade genug Bestimmtheit auf, dass er kombiniert mit seiner einschüchternden Größe und seinen schäbigen Klamotten den Eindruck erweckte, den Ärger nicht wert zu sein. Damit blieben nur Polizisten und verzweifelte Junkies, die ihn schikanieren konnten, und wären solche in Sicht, würden sie sich nur gegenseitig Beachtung schenken und nicht einem Niemand wie Ben.

Er hielt am Eingang der Gasse an, die zu seiner Tür führte, nippte an seinem Kaffee, sah sich um und starrte in die noch immer sonnenlose Leere. Er ließ seine Augen alle paar Sekunden ruhen, als er nicht nur auf, sondern durch die Fenster parkender Autos schaute, auf der Suche nach Anzeichen, dass ihn jemand von der anderen Seite aus beobachtete. Die Straße war leer. Sein Herz wurde schwer wie das eines Sträflings, der den Gefängnishof verlassen musste, um seine Einzelhaft anzutreten.

Der elektrische Schmelzofen, den er angestellt hatte, bevor er gegangen war, musste inzwischen ziemlich heiß sein und zog genug Ampere, dass sich die Scheibe im uralten Stromzähler wie ein Frisbee drehte. Ben konnte gleich damit beginnen, das Gold für den ersten Guss zu schmelzen. Die Elektrizität, die seine Arbeit verschlang, war nur ein weiteres Opfer der bürokratischen Verwirrung, die sein armes, kleines Gebäude umgab. Als er sich hier einnistete, hatte er die Hauptleitung angezapft, ohne großartig Gefahr zu laufen, dass jemand den hohen Verbrauch meldete. Bisher hatte es sowieso noch niemand bemerkt. Falls es so weit kommen sollte, gab es keinen eindeutigen Eigentümer, dem man die Rechnung präsentieren konnte. Die wenigsten Phantome besaßen Geld. Es wären vielleicht größere Anstrengungen unternommen worden, das Geld für Nebenkosten einzutreiben, wenn der Stromversorger gewusst hätte, dass Ben Multimillionär war.

Noch einmal scannte Ben die abgedunkelten Gebäude um sich herum von den Kellerfenstern bis zu den Dachflächen. Überzeugt, dass ihn niemand mit übermäßiger Neugier beobachtete, deponierte er den blauen Styroporbecher in einem schlecht verschlossenen Müllcontainer des benachbarten Gebäudes. Zeit, zu arbeiten. Er drehte sich um und betrat die Gasse, vorbei an kleinen, schmutzigen Schneehaufen, die seit dem letzten Schneesturm in der Dunkelheit zwischen kaputten, verrottenden Holzpaletten überlebt hatten.

Er erreichte die alte Stahltür und stoppte, sein Körper angespannt, sein Verstand auf der Hut vor Gefahr. Es gab keine Klinke an dieser Tür, aber das war nicht das Problem. Gleich nach seiner Ankunft vor ein paar Monaten hatte er ein fünf Zentimeter großes Loch in das Türblatt auf der von den Angeln abgewandten Seite gebrannt. Dann hatte er eine Kette durch das Loch in der Tür und um den Stahlrahmen gefädelt, wo das Mauerwerk abgebröckelt war. Die unauffällige Sicherheitsmaßnahme war noch genauso intakt, wie er sie hinterlassen hatte. Die Mauer war das Problem. Jemand hatte dort eine Nachricht hinterlassen.

Die schwarze Sprühfarbe war auf der rußigen Gebäudefassade kaum zu erkennen. Die Symbole, etwa eine Handbreit hoch, waren an sich harmlos, aber sie zerschmetterten seine Welt mit mehr Gewalt als eine gut gezielte Kugel. BB2AMKIABNRMCG1300ZRIPAU. Er war sich sicher, dass die Wand nackt gewesen war, als er losging, um sich einen Kaffee zu besorgen. Das Kommuniqué war für ihn gedacht. Irgendjemand ignorierte die Tatsache, dass Tote nicht lesen können.

Mit dem stabilen Schlüssel aus seiner Hosentasche öffnete Ben das Vorhängeschloss und ging hinein. Er machte die Kette wieder fest und schloss sich im Keller ein. Der Schmelzofen heizte den zugigen Ort auf. Aus Gewohnheit schob er eine alte Decke mit dem Fuß gegen die Türschwelle, um kalte Luftzüge auszusperren. Er saß im Dunkeln auf einem einzelnen Metallklappstuhl, den er im Sperrmüll am Straßenrand aufgegabelt hatte, und dachte nach.

Die ersten fünf Zeichen adressierten die Nachricht an ihn persönlich. Es gab keinen Zweifel, dass er der Empfänger war. Obwohl er seine Hundemarken seit Jahren nicht mehr getragen hatte, kannte er sie auswendig. Wie jeder Soldat. Von oben nach unten statt von links nach rechts gelesen war das erste Zeichen jeder Zeile auf dem Metallplättchen ein B für Blackshaw, noch ein B für Benjamin, die Zwei war die erste Ziffer seiner Sozialversicherungsnummer, A stand für seine Blutgruppe und M für Methodist. Nur wenige Auserwählte verstanden diesen Code, auf den man sich vor Ewigkeiten zu gefährlicheren Zeiten geeinigt hatte.

Die Tatsache, dass der Code das Format der Army trug, war die Bestätigung, dass die Nachricht echt war.

Dieser Geheimcode war auf dem Balkan während eines gemeinsamen Sondereinsatzes mit Soldaten der zehnten Gebirgsdivision entworfen worden.

Der Rest der Nachricht erschloss sich Ben nach einer etwas genaueren Untersuchung. KIABNR stand für ›Killed In Action, Body Not Recovered‹ – Im Kampf gefallen, Leiche nicht geborgen – ein Ausdruck, der in Militärfamilien leider allzu bekannt war. Der Absender wusste, dass Ben sich versteckte, wusste wo, und wusste sogar, dass sein vorgetäuschter Tod durch Ertrinken in der Chesapeake Bay Monate zuvor keinen Leichnam hinterlassen hatte. MCG1300Z war der Aufruf zum Handeln, den er nicht ignorieren konnte. Er wurde von jemandem gebraucht, dem er sich einst mit Leib und Leben verschworen hatte. Es war nicht schwer, das zu verstehen. McGuire Air Force Basis. Da musste er hin. 1300Z war eine Angabe nach Zulu- oder koordinierter Weltzeit. Gemessen nach Ortszeit musste Ben irgendwie bis neun Uhr an diesem Morgen McGuire erreichen. Er hatte immer noch keine Ahnung warum, aber das würde sich zu gegebener Zeit herausstellen.

Es war das RIPAU, das ihm am meisten zu schaffen machte, mehr noch als der Aufruf zu einer mysteriösen Mission. Rest In Peace – Ruhe in Frieden – das war deutlich genug. Aber warum das hinzufügen? Jeder, der dieses Format verstand und der sich die Mühe machte, es zu benutzen, anstatt ihn persönlich anzusprechen, hätte seine prompte Antwort erhalten. Der Absender teilte ihm zwei Dinge mit. Die erste Botschaft lautete, dass es bekannt war, dass Bens derzeitiges Unterfangen seine volle Aufmerksamkeit beanspruchte. Sein fingierter Tod und das Exil am letzten Ort der Welt, den er je besuchen, geschweige denn zur Heimat machen wollte, konnte nur etwas Großes beinhalten. Wie viel wusste der Absender wirklich? Das wurde in der zweiten Botschaft klar. Au war der Clou. Das chemische Symbol für Gold im Periodensystem der Elemente.

Jemand wusste über Bens Machenschaften Bescheid. Falls die Loyalität und der Blutschwur, die von der Nachricht verlangt wurden, noch nicht überzeugend genug waren, erfüllte die Neugier darauf, wer ihn aufgespürt hatte, den Zweck. Es war möglich, dass noch ein oder zwei Kleinigkeiten erledigt werden mussten, bis er und seine Arbeit endgültig sicher waren. Die Erwähnung des Goldes wies darauf hin, dass der Absender annehmen konnte, dass es um Kubik-Dollar ging und vielleicht um andere Anspruchsberechtigte, die auf ihn angewiesen waren. Jemand schlich in seinem Kopf herum, in seinem Leben. Das machte Ben sauer. Er wollte die Schrift mit einem seiner Schnitzmesser von der Wand kratzen. Wer auch immer die Nachricht hinterlassen hatte, wusste, dass er fast alles tun würde, um sein derzeitiges Unterfangen und seine Tarnung nicht für das Unbekannte aufgeben zu müssen.

Ben analysierte die gesamte Nachricht. Alles in allem sagten die scheinbar zufälligen Buchstaben und Ziffern: Ich weiß, wer du wirklich bist. Ich weiß, wo du bist. Du bist nicht tot. Du tauchst besser um neun in McGuire auf. Du kannst in Ruhe dein Leben mit deinem Gold genießen, nachdem du mir geholfen hast. Lass mich im Stich und es wird nicht friedlich werden.

Es gab die geringe Chance, dass er die unausgesprochene Drohung nur hineindeutete, aber Ben nahm das nicht auf die leichte Schulter. Resigniert schaltete er den Schmelzofen aus. Das dumpfe Brummen der Energiemassen, die durch unzureichende Leitungen strömten, verstummte. In der neu entstandenen Stille sah er sich um. Das graue Morgenlicht kroch beinahe versehentlich durch schmutzige, schmale Fenster. Ein kleiner Vorrat an gestohlenen Goldbarren lag unter einer Packdecke. Nicht viel. Etwa vier Millionen Dollar wert laut heutigem Marktpreis. Innerhalb von fünf Minuten konnte derselbe boomende Markt das Gold bedeutend wertvoller machen, ein oder zwei Marktkorrekturen mehr oder weniger. Der Rest des Goldes lagerte auf Smith Island. Jeder Barren war mit einem schiefen Grinsegesicht geprägt. Bei jeder Lieferung wurden Ben nur kleine Mengen des Goldes gebracht, um das Risiko zu verringern, den gesamten Schatz durch Diebstahl oder eine Razzia zu verlieren. Man konnte nicht vorsichtig genug sein. Die früheren Besitzer des Goldes hatten ein gutes Gedächtnis und waren höchstwahrscheinlich ziemlich angefressen, so hereingelegt worden zu sein.

Die anmutige, massive Goldskulptur eines Schwans, etwa fünfundzwanzig Zentimeter hoch, wartete unter einer weiteren Decke auf ihren Feinschliff. Das Gold war so rein, so weich, dass Ben es mit einem scharfen Messer hätte schnitzen können, anstatt es zu gießen. Tatsächlich wurden viele der letzten Details, die aus dem Schwan einen so kostbaren Ausdruck seiner Vision machten, per Hand ausgearbeitet. Aber das musste nun warten. Der Käufer, ein Waffenhändler, der in Londons Connaught Square lebte, würde sich gedulden müssen.

Ben war kein Geldwäscher. Er wusch gestohlenes Gold. Er verwandelte Barren in Bargeld und das zum 1,38-fachen des Marktpreises pro Unze zur Zeit des Verkaufsabschlusses, so geschätzt war seine Kunstfertigkeit. Bisher hatte das System funktioniert. Sechsunddreißig Millionen Dollar hatte er schon mit dieser Methode erzielen können. Die gesamten Einnahmen gingen nach Smith Island. Genauer gesagt, der Verkaufspreis jedes Stücks, abzüglich der Galeriekommission, wurde auf ein Nummernkonto der Scotiabank auf den Cayman Islands transferiert. Ben und seine Leute vertrauten auf die Sicherheit von Inseln. Manhattan allerdings, wie sich herausstellte, war wohl doch nicht so narrensicher.

Während Ben die Skulpturen anfertigte, schmiedeten seine Mitverschwörer Pläne, eine Ladenfront im Village zu mieten, um die derzeitigen Galeriekommissionen zu umgehen. Die Smith Islander konnten es sich jetzt leisten. Bis vor Kurzem hatten viele in der Heimat aufgrund der mageren Zeiten kaum mehr als eine Mahlzeit pro Tag gehabt. Das hatte sich geändert. Der Goldpreis stieg schneller als die Grundstückspreise in New York City. Bens langsame Produktionsweise von seinem Kellerstudio aus hatte ihre Vorteile im Durchschnittskosteneffekt.

Der Absender der Nachricht hatte recht. Die Zelte abzubrechen und die Stadt zu verlassen gehörte nicht zu Bens Plänen; nicht, falls er seine Arbeit hier in Manhattan jemals abschließen und nach Hause zu dem offenen Himmel und den Gewässern von Smith Island zurückkehren wollte.

Es war gar keine Frage, ob Ben der Aufforderung Folge leisten würde. Andererseits lief er nur ungern blindlings in ein mögliches Verderben, dennoch musste er einen Besuch abstatten.

Ben verließ den Keller, machte die Kette wieder mit dem Vorhängeschloss an der Tür fest und sah sich noch einmal die Nachricht an. Zorn wallte in ihm auf. Falls sich eine richtige Mission hinter dem Code verbarg, würde es seine Arbeit hier verzögern und seine Rückkehr nach Hause in eine ungewisse Zukunft schieben. Er hatte sich New York nur für einen heftigen, kurzfristigen Arbeitseinsatz verpflichtet, um aus dem Gold harte Währung zu machen. Er war bereit gewesen, den Kontakt zu allem, was er liebte, zu opfern, weil es so viel Not und Elend auf Smith Island gab. Doch er hatte niemals vorgehabt, lange fortzubleiben. Sein Vater hatte vor ewiger Zeit ihr Zuhause verlassen und damit alles aufgegeben, was ihm wichtig war. Ben fragte sich, ob er am Ende doch wie sein Vater geraten war, obwohl er sein Leben lang versucht hatte, einen anderen Weg einzuschlagen.

Mit all der Verstohlenheit, die er als Scharfschütze besaß, erklomm Ben die Feuerleiter auf der Rückseite des Gebäudes. Er bewegte sich langsam, da die Metalltreppe alt war und seine Schritte vielleicht Erschütterungen auslösen konnten, die die Person, auf die er es absah, warnen würden oder schlimmer noch, die ganze Konstruktion zum Einsturz bringen.

Auf dem Treppenabsatz im dritten Stock spähte er durch eine ungetrübte Stelle einer verschmutzten Glasscheibe, die als Guckloch von der Bewohnerin sauber gemacht worden war. Sie lag da drin auf ihrer Matratze und schlief tief und fest. Ω war das Zeichen, mit dem sie ihre Arbeit signiert hatte. Omega. Sie war schwarz, ungefähr zwanzig, zu dünn. Sie lebte nicht gerade das pralle Leben in diesem besetzten Gebäude, aber sie schätzte die Freiheit, zu tun, was ihr gefiel. Sie schlief in ihren Baggypants, eine zerfetzte Decke um die Arme geschlungen. Omega war ein Ein-Mädchen-Betrieb, eine Hardcore-Sprayerin, die sich in der Nachbarschaft einen Namen machte. In letzter Zeit verteilte sie ihre Graffiti in der ganzen Stadt; geniale Wandbilder, die die Insel sprenkelten. Ben hatte sie eines Nachts heimlich beobachtet; er bewunderte ihren ungewöhnlichen Stil und hielt die Augen nach neuen Werken offen. In ihrer Welt war sie eine große Nummer. Er war sich sicher, dass Omega die Nachricht neben seiner Tür geschrieben hatte. Da er ihre Arbeit in den letzten Monaten oft genug gesehen und bestaunt hatte, erkannte er ihre Schrift.

Ben schob seine Finger unter den Fensterrahmen und schob das Fenster nach oben. Es ließ sich leicht bewegen. Das musste es auch, denn es war die Eingangstür zu Omegas illegalem Zuhause. Die innen liegende Tür zu der Wohnung war wegen der Junkies, die im restlichen Gebäude lungerten, verbarrikadiert. Genau wie Ben scheute sie Aufmerksamkeit jeglicher Art, es sei denn, es betraf ihre Kunst.

Als er das Fenster etwa einen halben Meter angehoben hatte, ließ ein kühler Luftzug Omega im Schlaf die Stirn runzeln und stöhnen, woraufhin sie die Decke fester um sich zog. Ben bemerkte über fünfzig Dosen farbenprächtiger Sprühfarbe mit dicken und dünnen austauschbaren Sprühköpfen, alle gereinigt und bereit für das nächste Projekt. Die verschiedenen Schattierungen standen farblich sortiert auf dem Boden, wie ein Farbkreis aus dem Kunstunterricht. An einer Wand des Raumes prangte das Wandgemälde einer Unterwasser-Traumwelt, in der sich Dämonenfische tummelten.

Das war das erste Mal, dass Ben sie aus der Nähe ohne die Atemschutzmaske über ihrem Gesicht und dem Tuch über ihrem Haar sah. Sie war hübsch, tief-goldene Haut, ein schmales Gesicht, hohe Wangenknochen mit Sommersprossen, ein wilder Schopf schwarzer, lockiger Haare, lange Wimpern, volle Lippen und eine kleine Narbe an der rechten Kiefernseite. Ben schlüpfte durch das Fenster. Er schlich sich nur ungern so an sie heran, da es für sie beide gefährlich war. Er hatte nicht die Zeit für gute Manieren.

Er schloss das Fenster hinter sich, nahm zwei Sprühdosen zur Hand und schüttelte sie kräftig. Die Kugeln in den Dosen klapperten laut, wie Kastagnetten bei einem lahmen Tango. Er rief: »Omega!«

Sie riss die Augen auf. Ben ignorierte das Messer, das sie zur Verteidigung unter der Decke hervorzog. Er war völlig gebannt von ihren lebendigen, blauen Augen.

»Was zum Teufel!« Omega sprang auf die Beine, trat ihm mutig in der Mitte des Raums entgegen, das Messer auf seine Kehle gerichtet.

»Was soll die Scheiße!« Sie war noch nicht richtig wach, aber da sie schnell munterer wurde, wusste Ben, dass sie tödlich sein konnte. Er stellte die Sprühdosen weg und hielt ihr seine Hände entgegen. Das allgemeingültige Zeichen für friedliche Absichten in heiklen Situationen.

Wieder schrie sie: »Was zur gottverdammten Hölle!« Angst versteckte sich nun hinter der geläufigeren Maske des Zorns.

Ben versuchte, das Thema zu wechseln. »Du hast in letzter Zeit 'n paar krasse Pieces gerockt. Du hast mit den Dosen echt was drauf. Bin beeindruckt.«

»Das wird das Letzte sein, was du bist«, entgegnete sie.

Ben legte nach. »Das Quickpiece an meiner Wand. Nicht deine beste Arbeit. Kam wohl nicht von Herzen. Wer hat dich beauftragt?«

Omega ließ sich nicht beirren. »Hau ab, solange du noch kannst. Ich will mir mit deinem Blut nicht die ganze Bude versauen.«

Ben nickte. »Ich hab selbst schon öfter in dieser Farbe gearbeitet. Komm mal runter. Sag mir, wer dir die Nachricht gegeben hat, dann bin ich gleich wieder weg. Ganz ohne Probleme.«

Omega sagte nichts. Das Messer senkte sich ein Stück.

»Die Stehlerei und das Sprühen sind mir egal«, meinte Ben. »Mir geht's um das Throw-up an meiner Wand. Seh ich wie ein Bulle aus? Komm schon, Nachbarin. Du kennst mich vom Sehen. Das wird nicht zu dir zurückführen. Du hast mir da 'ne heftige Botschaft überbracht. Ich muss alles erfahren, was ich kann.«

Omega zögerte. »Ich dachte, er wär 'n Wachhund.«

Wachhunde waren ungewöhnlich engagierte ältere weiße Männer, die in einem Anflug von Selbstjustiz Graffiti von Gebäuden schrubbten oder sie im Namen von Recht und Ordnung übermalten. In den Augen der Polizei waren die Leute, die Farbe verwendeten, genauso sehr Vandalen wie die Sprayer.

Ben nickte. »Aber er war kein Wachhund. Kannst du das Messer runternehmen?«

Das Messer rührte sich nicht. »Nein, ich glaube nicht.«

»Okay. Wie du willst. Hat er dich bezahlt?«

»Von irgendwas muss man leben.«

»Ganz bestimmt. Ich greife jetzt schön langsam in meine Tasche. Bleibst du cool?«

Sie antwortete nicht, sondern schaute zu, wie er seine Hand in seine rechte Jackentasche schob. Er zog sie genauso langsam wieder heraus, aber sie wappnete sich gegen Ärger.

Ben öffnete seine Hand. Darin lag ein grob geschnittenes Rechteck aus reinem Gold in der Größe einer Streichholzschachtel. Er sagte: »Marktpreis, etwa fünftausend Dollar. Verkauf es nicht hier in der Gegend. Das könnte zu dir zurückführen. Oder zu mir. Fahr raus, nach Jersey oder sogar Philly. Im Ernst. Jeder Laden mit Wir kaufen Gold im Fenster wird mit Freude versuchen, dich abzuzocken, ohne weitere Fragen. Ich würde wetten, dass du dafür 'ne ganze Menge mehr bekommen kannst, als der Typ dir für den Sprühjob gezahlt hat. Hab ich recht? Du hast es selbst gesagt, man muss von irgendwas leben.«

Omega entspannte sich ein wenig. »Wirf's rüber auf meine Jacke.«

Ben zögerte. »Haben wir 'nen Deal?«

»Weiß, zehn oder zwölf Zentimeter kleiner als du und dünner. Vielleicht eins-achtzig. Aber kräftig. Grüne Augen. Dunkelrote Haare. Kleiner Leberfleck am Kinn.«

Ben ließ das auf sich wirken. »Was hat er gesagt?«

»Er sagte, wirf das Gold auf meine Jacke, bevor ich dich aufschlitze.«

Ben warf das Goldstück in einem sanften Bogen in Richtung der Jacke neben ihrem Bett. Es glänzte in der Luft wie ein heller, kleiner, gelber Komet und machte ein sattes Geräusch, als es in ein Nest aus Leder plumpste. Omega war so scharfsinnig wie ihr Messer scharf war. Sie ließ Ben nicht aus den Augen.

»Er hat mit nur gesagt, was ich schon wusste«, meinte sie. »Da gäb's 'nen Kerl, der in meinem Gebäude haust. Im Keller. Er hat erzählt, wie du aussiehst, aber er sagte, deine Haare wären kurz rasiert.«

Bens Haare waren jetzt viel länger und nicht gerade ordentlich. Also kam die Nachricht von jemandem, der ihn aus dem Militärdienst kannte oder eine alte Beschreibung besaß.

»Okay. Die Botschaft?«

»Er hat mir 'n Stück Papier mit den Buchstaben und dem ganzen Scheiß gegeben. Hat über dich Bescheid gewusst. Über mich auch, meine Street-Art und so. Hat gemeint, ich soll das ganze Ding neben deine Tür sprühen, wo du's auch sicher siehst.«

»Du hättest das Papier auch unter meiner Tür durchschieben können und ich hätte niemals erfahren, dass du das warst.«

Omega schüttelte den Kopf. »Ging nich', er hat's mich nur lesen lassen. Ich musste es auswendig lernen und ungefähr hundertmal aufsagen. Dann hat er's wieder eingesteckt. Meinte, ich soll warten, bis du weg bist.«

»Schien er zu wissen, worum es ging?«

Omegas Augen verengten sich. »Nein. Eigentlich kam's eher so rüber, als ging's ihm auf den Sack, sich mit mir abzugeben. Als wär das unter seiner Würde oder als ob er's scheiße fänd, 'ne Botschaft weiterzugeben, die er nicht verstehen konnte.«

»Als wäre er für was Größeres und Besseres bestimmt. Hast du ihn schon mal gesehen?«

»Scheiße, ja. Typen wie den seh ich jeden Tag. Diesen Speziellen aber nicht, nein.«

»Wann? Wann hast du ihn getroffen?«

Das Messer zuckte in ihrer Hand. »Um vier heute Morgen, so um den Dreh.«

Ben versuchte, geduldig zu bleiben. »Geht das etwas genauer?«

Omega hielt sich gerade so zurück. »Nein. Muss vergessen haben, meine Rolex aufzuziehen.« Sie trug keine Uhr.

»Wo ist das alles passiert?«

Omega schauderte vor Wut und noch etwas anderem. »Etwa da, wo du gerade stehst. Hab's so satt, dass mir ständig weiße Männer in die verdammte Bude laufen!«

»Hab's kapiert. Tut mir leid. Letzte Frage, aber es ist wichtig. Was hat er dir dafür gezahlt, meine Wand zu besprühen?«

Omega sagte nichts, aber Ben glaubte, den Ansatz von Tränen in ihren Augen zu erkennen. Einen Moment später zerrte sie den abgegriffenen Kragen ihres T-Shirts über ihre linke Schulter. Ein unschöner Bluterguss in Form eines Handabdrucks verschandelte ihre Haut.

IM FADENKREUZ

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