Читать книгу IM AUGE DES FEUERS - Robert Blake Whitehill - Страница 10
KAPITEL 5
ОглавлениеBlackshaw hatte seinen Platz im Bus mit Bedacht auswählen wollen, aber vergebens. Alle Fensterplätze waren bereits besetzt und er schloss auch die hinteren Plätze nahe der stinkenden Toilette aus. Außerdem sah er davon ab, dort zu sitzen, wo schwergewichtigere Passagiere vermutlich wegnicken würde und Ellbogen und Schultern über die Armlehne in sein Territorium überquellen würden. Man konnte sich schließlich nicht ewig in den Gang lehnen.
Nach einer kurzen Beurteilung setzte sich Blackshaw schließlich leise neben einen weißen Burschen, der auf linker Seite in der Mitte des Busses gegen ein Fenster gelehnt döste. Der Typ war Anfang zwanzig, mit geschorenem Kopf und einem kleinen Verband an seiner rechten Schulter. Der Verbandsmull sah einigermaßen frisch aus und die Jeans und das Unterhemd des Jungen wirkten sauber. Er war spindeldürr und seine Füße hatten sich gemeinsam mit seinen kantigen Knien und Ellbogen in all den richtigen Stellen der Armlehne und des Kanals der Klimaanlage an der Seitenwand verklemmt, um ihn in aufrechter Position zu halten, obwohl er tief und fest schlief. Ja, Blackshaw hatte das schwarze Klappmesser in seiner rechten Hosentasche durchaus bemerkt, aber das war für Jungs heutzutage normal. Zu guter Letzt und vielleicht am allerwichtigsten, war es, dass der Junge nicht schnarchte.
Der Bus fuhr pünktlich von der Haltestelle in Washington, D.C. los in Richtung Los Angeles. Blackshaw musste in Richmond und Oklahoma City noch einmal umsteigen, aber der dritte Bus würde ihn den Rest des Weges bis zur Stadt der Engel bringen. Blackshaw hatte erst kürzlich eine ziemliche Menge Ärger bei der Jagd auf einen Sniper namens Nitro Express in Los Angeles gehabt, aber er verspürte dennoch den Drang, den Ort des Geschehens noch einmal zu besuchen. Er hielt LA für das absolute Gegenteil von Smith Island, sogar noch fremder als das New York seiner Erinnerung, von wo aus er in die Nitro Express-Geschichte verwickelt worden war. Der Big Apple war immerhin noch eine Insel, wenn auch knapp sechshundert Meter mit Glas und Stahl in die Höhe gebaut, und Blackshaw hatte Inseln definitiv satt.
Er sah aus dem Fenster, als der Bus den Potomac überquerte. Er erinnerte sich an ein Linienflugzeug, das in den frühen Achtzigern auf dem Weg nach Tampa auf die Brücke und danach in den eisigen Fluss gestürzt war. Nur fünf Passagiere hatten überlebt. Vier Autofahrer waren ebenfalls auf der Brücke ums Leben gekommen. Als Inselbewohner sah Blackshaw Brücken nicht nur als Straßen über Wasser an, sondern auch als Überführungen in eine größere Welt. Was die Opfer des Air-Florida-Flugs anging, hatten diese ihre Überführung zwar bekommen, aber Särge und Urnen waren gewiss nicht die erhofften Bestimmungsorte gewesen. Vielleicht waren sie am Ende ja doch besser weggekommen. Es kam ganz darauf an, was man von Tampa hielt.
Als der Bus von der Brücke nach Virginia rollte, unversehrt und ohne Zwischenfälle, rührte sich der Bursche neben ihm, grummelte und wachte auf. Für einen Augenblick hatten seine Augen eine schläfrige, jungenhafte Unschuld. Dann, als er vollends wach wurde, rückten gewisse Defizite seiner Persönlichkeit in sein Gesicht und verliehen ihm etwas Rattiges.
»Was guckst du denn so dumm?«
»Schaue nur aus’m Fenster. Nichts für ungut«, sagte Blackshaw monoton.
Der Junge warf noch einen langen Blick auf Blackshaw, registrierte dessen Größe und den Ausdruck vollkommener Furchtlosigkeit in seinen Augen und nickte dann kurz. Zufrieden, dass der gebührende Respekt, der ihm zustand, gezollt worden war.
Blackshaws Mission erwachte nun wieder in seiner Seele. Er betrachtete den Jungen seinerseits und glaubte, dass eine physische Konfrontation unwahrscheinlich war. Sein Reisegefährte war vermutlich den Großteil seines Lebens gemobbt worden. Er fragte sich, wie tief diese Aufsässigkeit ging, und dachte sich, dass dieser Junge deshalb mit Gemeinheit statt mit Freundlichkeit gegenüber Leuten wie ihm auf das Leid seiner Kindheit reagierte. Da es nur wenige Zielscheiben in der Welt gab, die vor so einem kleinen Scheißer klein beigaben, vermutete Blackshaw, dass er bei der Verübung von Rache Hilfe hatte. Manche, aber zum Glück nur wenige, gingen daraufhin zum Militär. Er war schon Typen wie ihm begegnet. Aber für diesen Kollegen hatte vielleicht auch eine Gang den Zweck erfüllt. Nun war Blackshaw doch neugierig, was sich unter dem Verband verbarg.
»Neues Tattoo?«, fragte er deshalb.
»Farbe auf ‘nem alten.« Der Junge konnte es offensichtlich kaum erwarten, mit seinem Kunstwerk anzugeben, aber aus irgendeinem Grund zögerte er nun.
»Hab‘ auch drüber nachgedacht, mir eins zuzulegen«, sagte Blackshaw. »Zuerst fiel mir nichts ein, womit ich lange glücklich wäre.«
»So jung biste nicht mehr. Brauchst dich damit nicht mehr lange rumschleppen.« Relativ gesehen hatte der Junge vielleicht recht. Er lotete offenbar gerade Blackshaws Frustrationsgrenze aus. Solche Kerle profitierten häufig von der Höflichkeit der restlichen Welt und nutzten diese tief verwurzelten, ungeschriebenen Spielregeln einer zwischenmenschlichen Gesellschaft, um ernsthaftem Ärger aus dem Weg gehen zu können.
Blackshaw würde allerdings nur eine sehr begrenzte Menge an Unsinn von diesem Bengel tolerieren. Mit ruhiger Stimme gab er zu: »Auch wieder wahr. Aber bis ich was finden konnte, was ich mir für den Rest meines Lebens anschauen wollte, war meine Pelle schon zu lädiert, um noch ‘ne gute Stelle zu finden. Hab’ inzwischen aber trotzdem eins.«
Der Junge setzte sich nun gerader hin und schenkte Blackshaw mehr Aufmerksamkeit. »Lädiert?«
»Narben. Verbrennungen. ‘N paar Kugeln. Ben Blackshaw mein Name.«
Seine Prahlerei hatte offensichtlich den gewünschten Effekt auf den Jungen. »Rufus Colquette. Kugeln, hm? Wie von ‘ner Schießerei?«
»So ungefähr. Mit der Taliban.«
Colquette verzog das Gesicht. Nicht das, was Blackshaw erwartet hatte.
»Du warst bei der Army?«
Blackshaw schob die Konversation langsam voran, von seiner Vergangenheit mehr geschädigt als beschämt. »Navy.«
Colquette guckte selbstgefällig, als hätte er Blackshaws Lüge enttarnt. »Die Taliban hat neuerdings Schiffe?«
»Die Navy hat die SEALs.« Entgegen seiner eher verhaltenen Natur entblößte Blackshaw kurz sein eigenes Schultertattoo eines Adlers, der einen Dreizack, einen Anker und eine Steinschlosspistole in den Fängen hielt. Blackshaw spürte instinktiv, dass an diesem Jungen mehr dran war, als Elend und Angeberei … etwas so Bedürftiges, dass es ihn gefährlich machte.
Inzwischen wirkte Colquette wütend und seine nächsten Worte bestätigten Blackshaws Ahnung. »Oh. Also setzt die Navy sich jetzt für Übersee-Sandnigger ein, Big Ben?«
Blackshaw fragte sich, ob sich der Knoten in seinem Magen auch auf seinem Gesicht abzeichnete. »Ich glaube, dass es an dem Tag eher um Demokratie ging.«
Rufus Colquette schnaubte. Blackshaw vermutete, dass er zu viele Silben verwendet und den Jungen damit verwirrt hatte.
Einen Augenblick später lehnte sich Colquette weit nach links und griff in seine rechte vordere Hosentasche. Nachdem er mit seinen Fingern darin herumgewühlt hatte, als ob er einen Ausschlag kratzte, zog er schließlich etwas hervor, behielt es aber in seiner Hand verborgen.
»Ich zeig’ dir was, großer, böser Ben. Ich zeig’ dir, was ich denke, was den Einsatz eines guten Mannes wert ist.«
Nach einem verstohlenen Blick nach links und rechts, der so deutlich und auffällig war wie der eines Stummfilm-Bösewichts, öffnete er langsam seine Hand.
Blackshaw war sich einen Augenblick lang nicht sicher, was er da ansah. Colquettes Augen brannten, gespannt auf seine Reaktion. Der Gegenstand, ein Knäuel schwarzer, gekräuselter Fäden war mit Fusseln und anderen Staubpartikeln bedeckt. Blackshaw versuchte zu verstehen, was er Colquettes Meinung nach sofort erkennen müsste. Es schien so, als hatte Colquette einen Friseurladen mit mindestens einem schwarzen Kunden besucht und aus Gründen, die einzig und allein ihm bekannt waren, eine Handvoll Haarbüschel vom Boden aufgelesen.
Colquette knetete das Haarknäuel und schob es in seiner Hand hin und her, dann drehte sich Ben der Magen um. Doch er blieb ruhig. Als Colquette das Haar wie einen Massageball drückte, sah Blackshaw, dass dies gar keine losen Haare waren. Ein großes Stück Kopfhaut hielt sie alle zusammen.
»Ich bin auch ein Soldat, Big Ben.« Rufus Colquette betrachtete seine Trophäe mit Stolz.
Angewidert reagierte Ben auf seine Entscheidung, bevor ihm klar wurde, dass er eine getroffen hatte. Er lehnte sich nach vorn und blockierte auf diese Weise die Sicht der anderen Passagiere. »Sei vorsichtig damit, Rufus. Wenn das jemand sieht …« Er überließ den Rest des Satzes Colquettes Vorstellungsvermögen.
»Ich hab’ aber keine Angst.« Doch Colquette knüllte den grauenvollen Gegenstand trotzdem zusammen, bis er wieder in seiner Hand verschwand.
»Schätze nicht. Wo hast du das denn gekauft?«, fragte Ben in der Hoffnung, dass es zu mehr Informationen führte.
»Gekauft?« Colquette nahm offenbar Anstoß an dieser Anschuldigung. »So etwas kann man doch nicht kaufen. Das verdient man sich. Man nimmt es sich!«
»Oh. Okay, Rufus.«
»Und das hab’ ich getan! Hier, sieh mal!« Colquette schob den langen, schmutzigen Daumennagel seiner linken Hand unter das Klebeband des Verbands an seiner rechten Schulter. Blackshaw lehnte sich nach hinten, um besser sehen zu können. Colquette schälte nun den Verband ab und da war es. Ein Eisernes Kreuz, wund und frisch ausgefüllt mit roter Tinte und mit dunkelblauen oder vielleicht auch schwarzen Streifen, die die roten Felder nach dem Muster der Konföderiertenflagge kreuzten. Darunter stand die Nummer 88.
»Hab‘ ja gesagt, ich bin ein Ritter. Weißte, was ich meine?«
»Glaube schon.« Rufus Colquette gehörte also dem Klan oder etwas in der Richtung an. Oder vielleicht war er auch einfach nur ein Möchtegern-Skinhead, der Hass-Symbole sammelte. Angesichts der Trophäe vermutete Blackshaw, dass dieses Tattoo das Zeichen einer bestimmten Gang war. Die 88 bezeichnete zweimal den achten Buchstaben des Alphabets, also HH oder Heil Hitler.
»Mensch, Rufus. Ich mein’, das is’ ‘n nettes Tat’ und so und die Haare sind auch cool, aber ich mein’, echt jetzt?«
Colquettes Bedürfnis, Blackshaw zu beeindrucken und ihn zu überzeugen, wurde nun immer stärker und verzweifelter. Er deckte das Tattoo wieder ab und griff in seine linke hintere Hosentasche. Nach ein paar Momenten des Wühlens oder des Kratzens, Blackshaw war sich da nicht ganz sicher, zog er ein Handy hervor. Das Smartphone war ramponiert, zerkratzt und ungepflegt. Es war auf jeden Fall ein privates Telefon und kein Wegwerfgerät.
»Guck dir das mal an, Mann.« Colquette öffnete jetzt die Bildergalerie. Er blätterte rückwärts, vorbei an den drei neuesten Fotos. Sie huschten extrem schnell über den Schirm, aber Blackshaw konnte trotzdem erkennen, dass es Aufnahmen von Colquette zusammen mit zwei weißen Männern, die Gewehre hielten, waren. Umgebaute AR-15er. Der Junge hörte nun auf zu blättern.
Wieder einmal sah sich Rufus Colquette auffällig um, um sicherzugehen, dass nur Blackshaw zuschaute. Dann hielt er ihm das Telefon entgegen.
Als Veteran und manchmal nicht ganz ungefährlicher Zivilist hatte Blackshaw schon furchtbare Gemetzel mit eigenen Augen sehen müssen. Leichen, häufig frische, und manchmal auch in einem gewissen Alter. Einmal hatte er auf Patrouille mal einen Arm gefunden. Nur einen Arm, abgefetzt vom Körper bei irgendeiner Explosion. Aber rund um den Arm herum hatte es keine Leiche gegeben. Ein simples Gruppenfoto hätte ihn deshalb nicht so schocken sollen, wie das Bild, das Colquette ihm jetzt preisgab.
Auf dem Foto stand Rufus Colquette neben den beiden Männern von den anderen Fotos. Einer war ein kleinerer, muskulöser Mann, vielleicht Mitte fünfzig, mit kurzgeschorenen grauen Haaren. Er strahlte durch seine gerade Haltung Autorität aus, aber der Ausdruck seiner Augen war der eines Untergebenen und Lakaien. Der andere war nicht viel größer, etwa Mitte vierzig, mit längerem, angegrautem Haar und Muskeln, die langsam Fett wichen. In den Augen des größeren Mannes herrschte eine düstere Leere. Beide Männer trugen khakifarbene Kampfhosen und olivfarbene Hemden, mit akkurat bis zum Bizeps hochgerollten Ärmeln. Sie hatten ihre AR-15er in einer Hand und hielten mit der anderen große Kampfmesser gegen ihre Herzen als eine Art Ehrenbezeugung.
Rechts hielt Colquette ein Messer, vermutlich das, was in seiner Tasche steckte. Die Klinge auf dem Foto war ausgeklappt und voller Blut. Außerdem gab es noch eine vierte Person auf dem Bild. Es war ein Junge, der zehn oder zwölf Jahre alt gewesen sein mochte, aber in Anbetracht seines Zustands war sein richtiges Alter nur noch schwer schätzbar. Der Junge war schwarz, nackt und an einem Baumstamm in einem dichten Wald festgebunden. Es musste ein sehr abgeschiedener Fleck sein, denn angesichts der Wunden des Jungen musste er sehr laut geschrien haben, und trotzdem war er nicht geknebelt.
Blackshaw konnte seine Augen einfach nicht von dem Kopf des Jungen abwenden. An den Seiten waren nur noch ein paar Haare übrig; kleine Büschel über den Ohren. Der Rest des Schädels war eine rohe Glatze aus Knochen und Blut, das in seine Augen troff. Entsetzte Augen starrten Blackshaw an. Unfassbar angewidert begriff Blackshaw, dass der Junge noch gelebt hatte, als das Foto gemacht worden war, doch das Kind hatte die darauffolgende Stunde wahrscheinlich nicht mehr erlebt.
Im krassen Kontrast zu den äußersten Qualen auf dem Gesicht des Opfers stand hingegen das überhebliche, breite Grinsen, das in den Visagen seiner Peiniger zu sehen war. Als sein Blick ein letztes Mal über das Bild wanderte, bemerkte Blackshaw Colquettes andere Hand auf dem Foto – mit der er den Skalp umklammerte.