Читать книгу IM AUGE DES FEUERS - Robert Blake Whitehill - Страница 21
KAPITEL 16
ОглавлениеPershing Lowry saß allein in seinem Washingtoner Büro und starrte auf das Gräuel auf seinem Computermonitor. Das Foto des gefolterten Jungen und der Tiere, die sich an seinem Elend und Verderben ergötzten, brachten ihn unweigerlich in Rage. Es gab einen persönlichen Grund für seine tief sitzende Abscheu. Viele Jahre zuvor war Lowrys Neffe, Nathan, auf einer Kirchenveranstaltung mit Übernachtung entführt worden. Lösegeld war allerdings niemals gefordert worden. Eine Leiche wurde niemals gefunden. Lowrys erweiterte Familie war immer noch zerrissen, manche warteten immer noch auf die Heimkehr des Jungen, andere glaubten schon lange nicht mehr daran, aber alle stocherten in einer tiefen, psychischen Wunde herum, die niemals heilen würde. Und nun gab es einen weiteren kleinen, schwarzen Jungen, der entführt und ermordet worden war. Dies ließ die Unmöglichkeit von Nathans Rückkehr noch schwerer auf seiner Seele lasten. An anderen Tagen bewahrte er die Erinnerung an seinen Neffen und die unbeantworteten Fragen seines Schicksals an einem Ort auf, der schlicht nicht hier war.
Das Kind auf Lowrys Monitor, Sha’Quan Stewart, elf Jahre alt, war letzte Woche an einem Dienstag als vermisst gemeldet worden. Er war in Goochland, Virginia allein von der Sommerschule nach Hause gelaufen, oder zumindest auf sein Zuhause zu. Denn er war niemals dort angekommen. Niemand hatte danach wieder etwas von ihm gehört. Vermisstenmeldungen hatten keine soliden Spuren ergeben, jedoch war das FBI immer noch mit der sorgfältigen Auswertung von Tipps und Hinweisen beschäftigt.
Es klopfte nun sanft an Lowrys Tür. Er erkannte den Rhythmus genauso wie britische Lauscher während des Zweiten Weltkriegs individuelle Übertragungsstile deutscher Verschlüssler wiedererkannt hatten. Lowrys Herz schlug sofort schneller.
»Komm rein, Molly«, sagte er. Lowry setzte sich aufrecht hin und exhumierte ein Lächeln aus der Gruft seiner Gedanken.
Die aufgeweckten braunen Augen von Senior Agent Molly Wilde vom Stadtbüro in Calverton, Maryland, lugten hinter der halbgeöffneten Tür hervor. Lowry erhob sich und Wilde schloss ihn in ihre Arme und küsste ihn fest auf den Mund. Dann lehnte sie sich zurück, um ihm in die Augen sehen zu können.
»Bitte reg dich nicht auf«, neckte ihn Wilde. »Es weiß sowieso schon jeder Bescheid.«
»Das ist es nicht«, erwiderte Lowry. »Du hast extra den langen Weg hierher gemacht. Du hättest doch auch anrufen können oder bis heute Abend warten.«
»Ich wollte dich sehen wegen Sha’Quan Stewart. Bist du in Ordnung?«
Jedem anderen Untergebenen hätte er sofort abgewunken. »Es ist schwierig«, war alles, was er anfangs zugeben konnte. Dann fügte er hinzu: »Wir haben bisher noch gar nichts. Wir müssen Eunice Stewarts Hoffnung zerstören und das, ohne ihr die sterblichen Überreste übergeben zu können … es ist furchtbar.«
Molly fragte: »Mein Gott, hat sie Sha’Quan etwa von diesem Foto identifizieren müssen?«
»Nur ein Ausschnitt seines Gesichts. Aber sie konnte an seinem Gesichtsausdruck natürlich sehen, dass ihr kleiner Junge durch die Hölle gegangen sein musste. Aus Erfahrung glaube ich nicht, dass sie das jemals verkraften wird, ob mit oder ohne Überreste.«
Es gab nichts, was Wilde tun konnte, um ihrem Geliebten zu helfen. Nur wenige Aspekte ihrer Arbeit waren schwerer zu ertragen als das Gefühl von vollkommener Hilflosigkeit, wenn man der Familie eines Opfers die schlimmste aller Nachrichten überbringen musste.
Sie sagte: »Es tut mir so leid, Pershing. Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du dir die Überwachungsaufnahmen angesehen hast. Die vom Busbahnhof.«
Lowry sagte: »Kurz, ja. Was ist denn mit dem Kerl? War er an dem Mord beteiligt? Auf dem Handy waren nur die Fingerabdrücke des Polizisten. Es war komplett sauber, sowohl innen als auch außen. Keine Fingerabdrücke, keine Anrufliste, nur das eine Foto.«
Wilde sagte: »Dass er im Besitz des Fotos war, ist allerdings schon ziemlich belastend.«
»Ja, aber alles andere weist eher darauf hin, dass er versucht hat, das Richtige zu tun, weil er es der Polizei gezeigt hat«, meinte Lowry, als er sich wieder an seinen Schreibtisch setzte.
»Alles, bis auf die Tatsache, dass er nicht dort geblieben ist, um eine Aussage abzugeben«, konterte Wilde. »Oder um zu sehen, ob der Typ, den er verpfiffen hat, auch wirklich erwischt wurde.«
Wilde zog einen Stuhl an den Tisch heran und setzte sich. »Wir konnten Rufus Colquettes Spur bis zum Haus seiner Mutter verfolgen. Er lebt immer noch bei ihr unter dem Dach. Sie hat ihn allerdings seit Tagen nicht mehr gesehen. Sie sagte, er hätte für einen Ausflug gepackt, sie nach Geld gefragt und wäre dann abgehauen. Sie wusste aber nicht, wohin er wollte. Das war einen Tag, bevor unser Fremder sich am Busbahnhof in die ganze Sache eingemischt hat. Colquette hatte rechtsextreme Broschüren und eine brandneue Ausgabe von Mein Kampf in seinem Zimmer.«
Lowry überlegte laut: »Vielleicht hat unser Mann nicht auf die anderen Polizisten gewartet, weil er angesichts der Art des Fotos Angst vor irgendeiner Form von Vergeltung hatte. Vielleicht war er einfach nicht auf eine Belohnung aus.«
»Beim ersten Punkt gebe ich dir recht. Aber es ist ein Busbahnhof. Da befindet sich niemand, der im Geld schwimmt, und da ist auch niemand, der sich nicht über einen kleinen Geldregen freuen würde.«
»Aber man genießt dort zugleich auch größere Anonymität. Es gibt keine Ausweiskontrolle und keine Metalldetektoren. Man kann überall bar bezahlen.«
Pershing war gerade im Begriff, das Bildfenster auf seinem Monitor zu schließen, als Molly sagte: »Was ist das für ein Schatten?«
Lowry hatte sich so sehr auf die Männer auf dem Bild konzentriert, dass ihm der Schatten in der oberen linken Bildecke gar nicht aufgefallen war. »Das ist wahrscheinlich ein Finger. Der Fotograf hatte ihn vor der Linse.«
Molly lächelte. »Damit können wir doch etwas anfangen. Vielleicht bekommen wir ja so einen Teilabdruck.«
»Versuchen wir’s«, meinte Lowry. Dann klickte er sich zu einer anderen Datei. Als sich der Mediaplayer öffnete, spielte er noch einmal die Überwachungsaufnahmen ab.
Lowry beschrieb, was er sah. »Er wartet, bis der weiße Cop zur Toilette geht, denn er will offenbar zu dem schwarzen Cop.«
»Officer Keene«, informierte ihn Wilde.
»Will er Keene, weil er sich im Süden befindet oder weil er sich nicht sicher ist, ob der weiße Cop …«
»Officer Calloway«, ergänzte Wilde.
»Er ist sich nicht hundertprozentig sicher, was Calloway tun würde oder ob er schnell genug reagieren würde, weil er weiß ist …«
»Noch dazu ist es Richmond, und kein besonders gutes Viertel.«
»Was eine ziemlich zynische Sichtweise ist, gelinde ausgedrückt. Er war also sehr vorsichtig.« Lowry rieb sich grübelnd über das Gesicht.
»Das ist ja mal frech.« Wilde übernahm nun die Schilderung. »Er spricht Officer Keene an. Siehst du das? In diesem Moment wischt er gerade sein Handy ab, und er trägt dabei Handschuhe. Mitten im Sommer.«
»Ich habe das überprüft. Es war zwar eine kühle Nacht, aber nicht so kühl«, erklärte Lowry.
»Nun übergibt er das Handy. Halt da an«, sagte Wilde. »Siehst du das? Die Handschuhe sehen ziemlich eng aus.«
»So wie Fahrerhandschuhe«, meinte Lowry.
»Okay, aber er fährt im Bus mit. Fahrerhandschuhe haben Löcher über den Knöcheln für einen festeren Griff am Lenkrad. Anders als bei diesen ist der Handrücken meistens offen, zur besseren Belüftung. Taktische Handschuhe hingegen …«
»… haben dicke Kunststoffpolster«, setzte Lowry fort. »Oder sie sind glatt, wie diese, damit man leichter in Taschen greifen kann.«
»Pershing, ist da irgendetwas an diesem Typen, das dich an jemanden erinnert?«
Lowry dachte kurz über Wildes Frage nach. »Er ist kräftig. Scheint so, als ob er helfen wollte. Er macht das offenbar nicht für den Ruhm.« Lowry klickte auf eine andere Videodatei. »Hier ist die Aufnahme von der Straßenseite aus. Er kommt im Bus an …«
»… und fährt in einem Taxi weiter«, meinte Wilde. »Geh nochmal zurück. Schau, wie er sich bewegt.«
Lowry spulte das Video zurück. »Entspannt …«
Wilde nickte und entgegnete: »Aber mit Bestimmtheit auf das Taxi zu. Er trödelt nicht herum. Er ist in guter Form und äußerst sportlich. Nicht viel Gepäck, nur diese eine Tasche. Ich wette, dass unser vermisster Verdächtiger, dessen Foto uns unser freundlicher Fremder zugespielt hat, auch nur Handgepäck bei sich hatte. Ich wollte aber, dass du dir das ansiehst.«
Wilde öffnete daraufhin eine Ledermappe und zog ein Blatt Papier heraus. »Das Video ist leider nicht sehr deutlich. Officer Keene hat sich also mit einem unserer Phantomzeichner hingesetzt.« Sie legte nun eine Phantomzeichnung auf Lowrys Schreibtisch.
»Ja, er kommt mir tatsächlich irgendwie bekannt vor«, gab Lowry zu. »Das ist Blackshaw!«
Lowry atmete ein paar Mal tief ein und aus. »Fühlst du dich ihm immer noch zu Dank verpflichtet, weil er dir in dieser Folterbude das Leben gerettet hat? Siehst du ihn jetzt schon überall?«
»Das kommt vor. Wir hatten angenommen, dass er bei der Explosion umgekommen ist, so wie alle anderen auch«, erklärte Wilde.
Lowrys Erinnerungen an den Fall waren immer noch unangenehm frisch. »Nach dem Inferno haben wir nicht einmal Zähne gefunden.«
»Der Tod der Ministerin für Innere Sicherheit, Morgan, vor Ort war eine echt große Nummer«, meinte Wilde. »Ganz zu schweigen von der Elite der Philanthropen, Großindustriellen und einer Menge anderer, die nicht dort hätten sein sollen.«
Lowry sah Wilde intensiv an, als er sagte: »Vielleicht haben wir deshalb automatisch angenommen, dass auch Blackshaw gestorben ist. Was würdest du tun, wenn du ganz sicher wüsstest, dass er noch am Leben ist?«
Molly überlegte kurz, bevor sie antwortete: »Ein Teil von mir würde ihm danken wollen.«
Lowry schwieg für einen Augenblick und sagte dann: »Ich dachte, dass du ebenfalls bei dem Feuer umgekommen wärst. Dich lebendig vorzufinden und zu wissen, dass Blackshaw bei deiner Rettung seine Hand im Spiel hatte … ich würde ihm also ebenfalls danken wollen, trotz der Hinweise auf kriminelle Aktivitäten, der Vorenthaltung von Informationen, Rechtsbehinderung und was er sich sonst vielleicht noch alles bei dem Fiasko geleistet hat. Aber ich glaube, dass wir beide in dem Bewusstsein gehandelt haben, was wir ihm schulden und was er wirklich wollte, falls er überleben würde.«
Wilde sprach es letzten Endes aus: »Vergessen zu werden. So als wäre es nie passiert.«