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Kapitel IV

Friedeslar, Juno 772

Wilde Gerüchte flogen durch Friedeslar. Stand ein Feldzug bevor? Dann war die Ernte in Gefahr!? Die Freien strömten zum Palas und trugen bei Childerich vor, wie viele Heerzüge ihre Sippen in der Vergangenheit schon mitgemacht, wie viele Verletzungen man davongetragen hatte. Schon sahen sich die Wohlhabenden nach ärmeren, nicht dienstpflichtigen Männern um, die für ein Pfund Silber oder einige Rinder an ihrer statt Schild und Schwert nähmen …

Arnulf und Lothar verzehrten nach einem schweißtreibenden Vormittag ihr Brot, als der Baumeister erschien und erzählte – er klang ungewöhnlich freundlich –, dass der Gaugraf am darauffolgenden Tag eine Erkundertruppe am Fluss entlang schicken wollte. „Thegan sucht noch Leute, die mit einem Bogen umgehen können.“

„Warum nimmt er nicht seine Leibwache?“ Lothar hatte nicht nur ein loses Maul, er hatte auch eine Art, alles erst zu hinterfragen.

„Die Bogner der Leibwache sind auf dem Wall verteilt“, erklärte Notker. „Falls es einen Überraschungsangriff gibt.“

„Das leuchtet ein“, sagte Arnulf und wischte sich Brotkrümel aus dem Gesicht. „Aber der Speicher hier …“

Doch von Eile bei der Fertigstellung war nun keine Rede mehr.

„Wenn ihr mitgeht, werdet ihr als mutige Kerle gelten. Wahrscheinlich bekommt ihr sogar Silber dafür.“

Selten hatten sie Notker so verbindlich erlebt.

Lothar sah Arnulf an: Ohne ihn würde er nicht mitgehen, vielleicht, weil Arnulf der bessere Schütze war.

Mit einem ersten Anflug von Ungeduld fügte Notker hinzu, dass sie auf Pferden der Leibwache reiten würden.

Den Fluss entlang reiten, statt in der Hitze zu schuften?! Sie stimmten zu.

Seine Mutter aber erschrak, als er am späten Nachmittag die Bogensehne und die Befiederung der Pfeile überprüfte. Zwölf Pfeile würden reichen; mit weniger Pfeilen hätte der Köcher schlicht zu leer ausgesehen.

„Schwöre, dass du vorsichtig sein wirst, Junge!“

Die Angst seiner Mutter klang so aufrichtig aus ihren Worten, dass Arnulf einer seltenen Regung nachgab und sie umarmte. Dass sie und Dietmar ihn Blutmund ausgeliefert hatten, hatte er ihr längst verziehen – es war nicht seine Art, lange über Vergangenes nachzudenken.

„Mach dir keine Sorgen! Die Bogenschützen bleiben hinten. Vorne sind die mit Schwert, Schild und Lanze.“ Als er die Tür hinter sich schloss, hörte er sie für seine Heimkehr beten. So wie damals für seinen Vater, als der zur Wolfsjagd gezogen war.

Die Turtelstelle war etwa tausend Schritt vom Stadttor entfernt, am Waldrand oberhalb des Wäscheplatzes. Hilde kam später als sonst, ohne ihre natürliche Unbeschwertheit. Sie kniete neben ihm nieder und sagte ohne Einleitung: „Meine Eltern wollen mich verheiraten.“ Mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Verlegenheit guckte sie ihn an. Ein Zopf glitt langsam durch ihre Finger. „Sie dürfen nicht wissen, dass ich hier bin.“

„Müssen sie auch nicht …“ Er wollte seine Hand in ihre Tunika stecken, doch sie schob seine Finger zurück. Arnulf räusperte sich verlegen. „Dein Vater hat etwas angedeutet. Ich will morgen zu ihm gehen und mit ihm sprechen. Ich … ich bitte ihn um deine Hand.“

Sie wirkte überrascht. „Liebst du mich?“

Diese Frage aus Hildes Mund klang unerwartet ernst. Ernster als die Fantasien, die er von ihrem Zusammensein oder gar Zusammenleben hatte. „Ich bin dir lieb, ja! Sonst würde ich nicht hier sitzen …“

Sie seufzte. „Meine Mutter sagt, dass es auf Gefühle nicht ankommt.“

„Worauf denn?“, fragte er gelinde verwirrt.

„Darauf, dass man zusammenpasst.“

„Das tun wir.“

„Ahta ist wichtig, sagen meine Eltern.“ Ihre Wangen hatten Farbe bekommen. „Land und Vermögen. Und Herkunft …“

„Wär ich ein besserer Kerl, wenn wir zwanzig Hufen hätten? Wenn ich Knechte hätte? Ich bin ein Freier, Hilde! Ich schulde niemandem Gefolgschaft.“ Dies kam aus tiefstem Herzen.

Doch sie blickte nur zu Boden und flocht schweigend einen langen Grashalm zu einer Schlinge.

Er setzte nach: „Ich gehe mit der Leibwache auf Erkundung gegen die Sachsen. Dein Vater selbst hat mich gefragt! Hätte er das getan, wenn er niedrig von mir denken würde?“

„Wieso du? Was hast du mit der Leibwache zu schaffen?“

Sie sah besorgt aus, das machte ihm Mut. Er hatte häufiger gehört, dass Frauen ihre Männer zwar nicht kämpfen sehen wollten, den fertigen Helden aber bewunderten. Er wollte ihre Wange streicheln, doch sie wich aus. Schlimmer noch, sie stand auf.

„Was hast du?“

„Lass mir besser ein Stück Vorsprung.“ Dann nestelte sie an ihrem Hals und zog eine etwa zweieinhalb Zoll breite, fein geschnitzte Knochenscheibe an einer Schnur hervor, mit ineinander verwobenen Mustern.

„Hier. Es wird dich beschützen.“

Sie drehte sich nicht noch einmal um.

+ + + + +

Thegan sollte den Trupp anführen. Mit Neid und Bewunderung betrachteten die Freiwilligen am nächsten Morgen vor dem Palas Thegans Kettenhemd und den Helm mit Wangenschutz, der unter dem Kinn zusammengebunden war.

„Für so einen Helm zahlst du ein paar Kühe“, raunte Lothar.

Als die etwa dreißig Mann starke Truppe schließlich an den Schaulustigen vorbeiritt, sah Arnulf Hildes Gesicht in der Menge. Zögerlich hob sie eine Hand zum Gruß. Er lächelte und umfasste das Amulett unter dem Hemd; auf der Rückseite der Scheibe spürte sein Daumen die Form eines eingeritzten Jesus-Kreuzes. Ein Teil von ihr begleitete ihn.

Sein Pferd hatte stumpfes, gelbbraunes Fell und eine filzige Mähne. Es war das langsamste in der Kavalkade, doch irgendwie schaffte Arnulf es, mit den anderen Schritt zu halten. Immer weiter ging es ostwärts am Fluss entlang, vorbei an Fischerkaten vor denen Aale an Holzgestellen trockneten. Bis zur Straße reichte der Geruch. Die Straße war eigentlich nichts als ein Weg, ein Nebeneinander von Wagenspuren, die in den Frühjahrsregen regelmäßig zu tiefen Furchen wurden, bevor sie sich im Sommer allmählich wieder mit Dreck, Steinen und dem Dung von Pferden und Ochsen füllten. Nach ein paar Meilen schreckten sie die Feldarbeiter eines Fronhofs auf, die sofort zum Waldrand liefen.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Thegan den Trupp hinunter ans Wasser führte. An dieser Stelle machte das Tal einen Schwenk nach Nordosten. Mittels einer flachen Furt konnte man das andere Ufer erreichen, wenn man nach Süden, nach Haerulfisfeld oder Richtung Franconofurt unterwegs war. Als die Pferde anfingen zu saufen, ertönte ein Ruf von vorn: Weiter im Osten hing eine Rauchfahne über den Hügeln. Irgendwo dahinten lag eine fränkische Siedlung namens Milisunge …

Arnulf fühlte ein Kribbeln in seiner Körpermitte. Fliegen umschwirrten die Pferde, Schweiß rann ihnen in die Augen. Arnulf sah Lothars Kehlkopf auf- und niedergehen.

„Wenn die Heiden Milisunge gestürmt haben, dann war mehr als nur eine Streifschar unterwegs …“ Gunther, ein anderer Freiwilliger, nickte düster und zog die Sehne auf den Bogenstock auf. Die anderen taten es ihm nach.

Thegan beriet sich halblaut mit seinem Waffenmeister Rudolf, dem stärksten Kämpfer der Leibwache. Dann teilten sie die Männer auf: Der Paladin selbst ritt mit etwa zwanzig Mann durch das knietiefe Wasser ans andere Ufer, wo sie zwischen den Bäumen verschwanden. Rudolf aber blieb mit dem halben Dutzend Bogenschützen und ein paar Speerträgern zurück. „Beobachtet die Straße!“, rief er ihnen zu. „Wenn Sachsen kommen, dann von dort!“ Etwa zweihundert Schritt weit konnte man die Straße flussabwärts einsehen, bevor die Biegung des Flusses und herabhängende Zweige die Sicht verdeckten.

„Warum reiten die anderen weiter, Waffenmeister?“

Der Angesprochene musterte Arnulf ohne Gesichtsregung vom Pferderücken aus. Rudolfs tiefliegende Augen waren von Narben umgeben und sein Schnurrbart wuchs wild die Wangen hinab – niemand fing freiwillig mit ihm Streit an. „Der Gaugraf wartet auf eine Frachtlieferung. Kann sein, dass die Sachsen den Transport überfallen haben.“ Er spuckte aus. „Kann sein, dass die Fuhrwerke noch unterwegs sind. Vor Einbruch der Dunkelheit wissen wir’s.“

Er selbst schien sich zu langweilen, denn wenig später ritt er ein Stück flussaufwärts zu einer kleinen Insel, die das Wasser des Flusses teilte. Dort lag das angespülte Skelett eines mächtigen Wisents, in dem Rudolf herumzustochern begann. Arnulfs Schar ließ sich unterdessen auf der flachen Böschung nieder. Der Wald wich hier bis auf knapp hundert Schritt vom Ufer zurück; Reste einer Hütte und eine Feuerstelle mit verkohlten Aststümpfen kündeten von besseren Zeiten. Sie schlugen nach Mücken und fluchten auf die Schwüle.

„Die Sachsen fressen Pferdefleisch, wusstet ihr das?“, fragte Gunther. „Und wenn sie mit dem Schwert in der Hand sterben, gehen die direkt zu ihrem Wodan auf!“

„Ruhig Blut, Leute“, sagte einer von Thegans Leuten, dem hellblonde, schweißverklebte Strähnen ins Gesicht hingen. „Euch passiert schon nichts!“ Er zupfte die Bogensehne mit den Fingern, als wäre er ein Spielmann. „Hundert Schritt, zielsicher – wie weit kommt ihr?“

„Nur Jesus trifft auf hundert Schritt“, murmelte Arnulf.

„Und ich, Gero“, grinste der Blonde. „Skizan, was ist das?“

Ein reiterloser Gaul trottete die Straße entlang auf sie zu. Nervös warf er den Kopf zur Seite, als der Blonde nach dem herunterhängenden Zügel griff. Verkrustetes Blut klebte an einer Wunde in der Schulter, Fliegen umkrabbelten die Wundränder. Gero legte die Hände an den Mund und rief Rudolf, den Waffenmeister, herbei. Beklommen musterte Arnulf das Halbdunkel zwischen den Buchenstämmen hinter der Hüttenruine; hoher Farn wucherte in den Wald hinein. Stand dort jemand?

„Ein Sachsengaul?“ Rudolf sprang vom Pferd. Misstrauisch schritt er um das zugelaufene Tier herum. Mit verkniffenen Zügen musterte er die Umgebung, dann wieder seine Männer.

„Steht hier nicht rum wie auf dem Markt, verdammt!“

In diesem Augenblick nahm Arnulf Schemen zwischen Farnen und der Hütte wahr. Er hörte noch das Schlagen der Sehnen, das Zischen des Pfeils. Doch da war es zu spät: Gunthers Kopf wurde nach hinten gerissen, er fiel auf den Rücken wie ein Betrunkener, reglos: Ein zwei Fuß langer Pfeilschaft steckte in einer Augenhöhle.

Almahtigan!“

Arnulf. Die Axt der Hessen

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