Читать книгу Arnulf. Die Axt der Hessen - Robert Focken - Страница 9
ОглавлениеKapitel II
Friedeslar, Mai 772
„Du magst sie, oder?“
„Kann sein.“
Mit lautem Schnaufen ließ Arnulf den zugehauenen Balken auf den fertigen Unterbau des Speichers krachen. Er wischte sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn und fuhr sich durch das über die Ohren hängende, fransige Haar, das in der Mittagssonne hellbraun leuchtete und fast schwarze, nasse Strähnen im Nacken bildete. Aus den Augenwinkeln heraus hatte er das Mädchen längst wahrgenommen: Hilde, die hochgewachsene Tochter Notkers, näherte sich mit zwei Körben der Baustelle.
Lothar fuhr sich mit einer langen, spitzen Zunge über die Lippen. Sein Adamsapfel zuckte, als er die junge Frau musterte, so wie die Männer manchmal ein besonders schnelles, feingliederiges Pferd betrachteten. „Was für ein hübsches Ding … Die hat was zu bieten, beim Bonifaz!“
Arnulf machte einen knurrigen Ton, denn er wusste, dass Lothar ihn reizen wollte. Beide Männer hatten stachlige Bartstoppeln am Kinn, beide trugen einen kurzen Schnurrbart, doch sonst schienen sie grundverschieden: neben der massiven Statur Arnulfs mit den muskulösen Oberarmen und dem kräftigen Hals sah Lothar schmal und fast hager aus. Seine Augen aber waren lebhaft und immer in Bewegung, und häufig ging ein Mundwinkel leicht nach oben, wenn ein Scherz bevorstand.
Tatsächlich strafften sich die schmalen Lippen zu einem Grinsen: „Ich kannte mal eine aus Haerulfisfeld, die war genauso blond, trug ebenfalls solche Zöpfe und die hatte untenrum …“
„Und ihr hattet samantwist bis zum Morgengrauen, was? Du alter Schwätzer!“ Er stieß dem anderen eine Zuhau-Axt vor die Brust, mit der flachen Seite. Lothar schaffte es, gerade stehenzubleiben. Arnulfs graublaue Augen funkelten ihn unter dicken Brauen an, die hochstehenden Wangenknochen glänzten schweißnass. „Du siehst ein bisschen wie eine Bestie aus, wenn du so guckst“, sagte Lothar ohne zu blinzeln. „Kühl dich ab, ja? Hol dir einen Schluck Wasser …“
Am Vormittag hatten sie ein halbes Dutzend Tannen in den Wäldern gefällt und mit Ochsengespannen in die Stadt geschafft. Mit Äxten und Sägen wurden sie zu Bauholz verarbeitet, aus dem ein neuer Speicher für das Getreide von den gräflichen Feldern entstand. Notker zahlte nur wenige Denare für eine Woche voll Fron; doch um seine Leute bei Laune zu halten, versorgte er sie einmal am Tag mit gegartem Fleisch und Grütze, manchmal sogar mit Brot.
Wie zufällig kreuzte Hilde Arnulfs Weg zum Wassereimer, der im Schatten einer Hauswand stand. „Bringst du was Leckeres?“
„Tu‘ ich das nicht immer, Mann?“ Ihre Augen funkelten vor Lebenslust.
„Heute Abend am Fluss?“ Das war so gedämpft gesprochen, dass das halbe Dutzend schwitzender Kerle beim Gebäudefundament ihn nicht hören konnte.
„Nein, besser morgen. Oder übermorgen …“ Da war ein Anflug von Röte in ihren Wangen.
„Also, morgen Abend. Aber lass mich nicht wieder warten!“
Ohne Anstrengung hob er den fast vollen Kübel hoch und ließ sich das lauwarme Nass in den geöffneten Mund rinnen. Das meiste lief am Kinn hinab, über die vorgewölbte Brust und die Wellenlinie der Muskelstränge über dem Hosenbund. Fünf Jahre, nachdem er Blutmund entkommen war, war er zu einem der kräftigsten Arbeiter Notkers herangewachsen. Kaum jemand ging geschickter mit dem Beil um als Arnulf.
Als er den Eimer absetzte, sah er Hilde von den anderen Hauern umringt. Sie lachte über irgendetwas und warf den Kopf in den Nacken. Arnulf liebte dieses Lachen.
Später jedoch, als die Arbeiter auf zähen Rindfleischstreifen herumkauten und über heiratsfähige Mägde sprachen, bot sich ihnen ein unheimliches Schauspiel: Dutzende fremder, abgerissener Gestalten trafen auf dem Platz zwischen Brunnen und Kirche ein. Sie führten ihre kümmerliche Habe auf zweirädrigen Karren mit sich und zogen ein paar Kühe am Strick hinter sich her. Manche trugen blutgetränkte Verbände.
Die halbe Einwohnerschaft Friedeslars strömte herbei, um Näheres zu hören, die Holzhauer mittendrin. Um einen dürren, kahlköpfigen Mann mit weißem Nackenhaar bildete sich ein Kreis: Den Zeigefinger anklagend in den Himmel reckend, schilderte er mit krächzender Stimme, wie sein Fronhof am Unterlauf der Adrana heimgesucht worden war. Sächsische Streifscharen hatten die Siedlungen im Norden überfallen!
„Sie haben die Männer gemordet und die Frauen geschändet, der Herr ist mein Zeuge!“
Da drängte sich Childerichs Paladin hoch zu Pferde durch die Menge. Dieser Mann namens Thegan war der erste Gefolgsmann des Gaugrafen Childerich und führte dessen Amtsgeschäfte. Er hatte einen herrischen Gesichtsausdruck, zu dem die schmale, hervorstechende Nase nicht ganz passen wollte; das glatte, schwarze Haar lief als sorgfältig gestutzter Rahmen um das Gesicht. Ein schwarzgrauer Rock, Lederpanzer mit Eisenbeschlägen und Reiterstiefel unterstrichen seine Autorität.
„Wie willst du denn davongekommen sein, Alter, heh? Warum haben sie dich nicht aufgeschlitzt?“
„Ich habe mich im Backhaus versteckt, Herr“, rief der Alte.
„Wo genau liegt eure Siedlung? Wo haben die Heiden sonst noch angegriffen?“
Verschiedene Stimmen aus der Flüchtlingsgruppe antworteten, jeder erzählte etwas anderes. Die Augen des Paladins wurden schmal, sein Blick streifte Arnulf, der einem der Flüchtlinge den Wassereimer der Hauer reichte. „Du arbeitest doch für Notker? Er soll in den Palas kommen.“ Dabei wendete er bereits seinen Rappen, die um ihn Stehenden beiseite drängend.
Arnulf fand seinen Brotherrn am Stadttor, wo er eine Fuhre frisch gehauener Stämme begutachtete. Er nickte stirnrunzelnd, als er von Thegans Botschaft hörte und fuhr sich mit der Hand durch das kurze, borstige Haar.
„Ich muss etwas mit dir besprechen.“ Sein Blick vermied Arnulfs Augen, er schien unschlüssig. „Aber nicht hier … Bring das Holz erstmal zur Baustelle. Und nehmt die Werkzeuge wieder auf, hörst du? Der Speicher soll nächste Woche fertig sein, so ist es mit dem Paladin abgemacht.“
Wollte Notker mit ihm über Hilde sprechen? Der Gedanke sorgte bei ihm für ein Kribbeln im Bauch. Sie war fünfzehn, die meisten Mädchen in ihrem Alter waren verheiratet. Und er war sich sicher, dass Notker insgeheim von ihren Treffen wusste …
Abends rumpelte erstmals seit langer Zeit ein Ochsenkarren mit Getreidesäcken zur steinernen Fluchtburg auf dem Nachbarhügel hinauf; auf dem Wall wurden die Wachen verstärkt. Mit den anderen Holzhauern drängelte sich Arnulf in die Schenke. Viele mussten stehen, so voll war der niedrige Raum. Der Geruch von trockenem Holz und schalem Bier wurde vom Schweißdunst Dutzender Männer überlagert.
Ein vom Rinah eingetroffener Händler posaunte, die Sachsen hätten auch im Westen angegriffen, mit zehnfacher Stärke: „Der König bietet den Heerbann auf, Leute, glaubt mir! Ich bin Königsboten begegnet, sie fordern Truppen von jedem Gau!“
Was folgte, war eine Art Tumult. Jeder überschrie jeden.
„Zur Hölle! Ein Heerbann gegen die Sachsen, das wird böse enden!“
„Drei Monate mit dem Bann unterwegs und hier verrottet die Ernte!? Wer passt auf meinen Hof auf?“
„Dein Weib, Mann! Bei welchem Feldzug warst du überhaupt dabei?“
„Sein Schwert hat weniger Blut gesehen als meine blinde Ziege!“
Ein älterer Mann versuchte das Getöse zu übertönen. „Was schreit ihr so? Die meisten von euch besitzen weniger als eine Hufe1 Land! Also müsst ihr auch keinen Kriegsdienst leisten.“
So ging es hin und her. Gebannt lauschten die Holzhauer denen, die schon Feldzüge gegen die Sachsenstämme mitgemacht hatten – oder die so taten. Schließlich stand Lothar auf und entriss dem Wirt noch einen Tonkrug mit Bier, für den er seine letzte Münze opferte. „Ich gehe nicht in den Krieg!“
„Woher weißt du das?“
„Wir mussten unser Land verkaufen, weil mein Vater nach der großen Missernte kein Geld mehr für Saatkorn hatte.“
„Gut, dann bist du bei meiner Hochzeit dabei“, grinste Arnulf. Bier flutete wie eine Welle der Zuversicht durch seine Adern. „Ich werde Notker um Hildes Hand bitten.“
Das abermals einsetzende Gebrüll in der Schänke übertönte Lothars Reaktion.
1 Mittelalterliches Ackermaß: etwa zehn Hektar