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Kapitel I

Friedeslar im Hessengau, 752 nach Christus

Der Hessengau war die Grenzmark im Norden. Dahinter kamen nur noch endlose Wälder, bewohnt von Wolfsrudeln und Heiden. Sie beteten Wodan und Donar an und nannten sich Falen oder Engern; die Hessen sprachen von ihnen schlicht als Sachsen, dabei spuckten sie aus oder bekreuzigten sich. Wenn die Krieger dieser Heidenstämme in das Frankenreich einfielen, wanderten Rauchwolken durch die Täler der Adrana und der Fulda. Dann blieb nur die Flucht in befestigte Städte wie Friedeslar, wo der Graf des Hessengaus residierte: Etwa zweihundert strohgedeckte Häuser mit winzigen Fensterluken drängten sich auf einem Hügel über der Adrana, umringt von einem zwölf Fuß hohen Palisadenwall. In ihrer Mitte erhob sich das hölzerne Gotteshaus, das nur vom steinernen Palas des Gaugrafen auf der Hügelkuppe überragt wurde.

In einer gewitterschwülen Sommernacht stieß ein weißer Finger aus dem Himmel und entzündete das Schindeldach der Kirche. Der Bau brannte bereits lichterloh, als die ersten Menschen mit Eimern vom Brunnen herbeieilten. Am nächsten Morgen glommen nur noch schwarze Trümmer, wo die Kirche gestanden hatte. Es war eine doppelte Katastrophe: Das Holz jener Kirche war nicht irgendein Holz gewesen, es stammte vom Kultbaum des Heidengottes Donar. Diese Eiche war einst vom großen Missionar Bonifatius gefällt worden, Bonifatius dem Heiligen – er hatte Hessen für das Christentum gewonnen.

Später sprach sich herum, dass in der Nacht des Kirchenbrandes ein Kind geboren worden war. Die Eltern nannten den Jungen Arnulf: Adler und Wolf, beides klang in dem Namen an. Arnulf reichte seiner Mutter bis zur Hüfte, als er sie fragte, ob er in die Hölle müsse. Andere Kinder sagten, er sei nicht getauft.

„Du bist getauft. Wer etwas anderes sagt, der lügt.“

Wenn sie an warmen Tagen am Flussufer nach Krebsen suchten und die nassen Haare an der Kopfhaut klebten, konnten die anderen ein großes Muttermal hinter seinem rechten Ohr erkennen. Harmknabo riefen sie ihn dann, Unglücksbringer; manchmal schlug er sich mit denen, die das sagten.

„Es sieht aus wie ein Fünfeck“, erklärte ihm schließlich sein älterer Bruder Konrad. „Bete so oft wie möglich zum Herrn, damit er dich davon befreit.“

Arnulf wusste nie so recht, ob er auf Konrad neidisch sein sollte. Bei Raufereien – Arnulf schien sie anzuziehen – drückte sich der Ältere. Früh aber konnte er ausrechnen, wieviel Scheffel Korn für den Zehnt anfielen, der von der Ernte an die Kirche gegeben wurde. Die Geistlichen schickten ihn schließlich an die Schule des Haerulfisfelder Klosters, was seine Mutter sehr stolz machte. Arnulf dagegen schauderte: In der Schule, hörte er, saß man den ganzen Tag in einer Kammer und kritzelte winzige Zeichen auf Pergament. Lieber ließ er sich von seinem Vater den Umgang mit Pfeil und Bogen beibringen. Arnulf war gerade vierzehn geworden, also volljährig, als der Vater sich an einem frostigen Herbstmorgen für eine Wolfshatz fertig machte. Mit Sorgfalt stopfte der Jäger Streifen von dichtgesponnener Schafwolle unter die Beinriemen, die die Franken zwischen Knöchel und Knie trugen, denn der Schnee war in diesem Jahr früh gefallen.

„Lass mich mitkommen, Vater! Du hast es versprochen!“

„Du bleibst hier“, sagte der kräftig gebaute Mann nur. Er griff zu seinem Jagdspeer und warf einen Umhang aus Bärenfell über, der ihn noch größer erscheinen ließ.

„Ich schieße fast so gut wie du!“

„Wölfe bewegen sich, eine Zielscheibe nicht. Hilf deiner Mutter, die Hasen zu häuten!“

Von einem hariskild, einem Geplänkel, sprach man später. Die Wolfsjäger stießen auf Sachsen; vielleicht waren sie ebenfalls auf der Jagd. Abends erreichte die erschöpfte Truppe der Jäger wieder die Stadt und legte einen Schwerverletzten in der Vorhalle des Palas ab. Der Waffenmeister des Gaugrafen war betrunken, aber er erkannte den Sterbenden und ließ nach dessen Familie schicken. Als Arnulf und seine Mutter endlich erschienen, fanden sie den Vater im zuckenden Fackellicht reglos auf einem Tisch liegen. Auch der Priester kam zu spät: Arthur von Friedeslar trat Gott gegenüber, ohne seine Sünden gebeichtet zu haben.

Das Schluchzen von Arnulfs Mutter steigerte sich zu einem verzweifelten Schreien, bis Dietmar erschien, der Bruder des Toten. Er stützte die Gebrochene. Auch als man Tage später den Leichnam im weißen Totentuch in eine drei Fuß tiefe Grube senkte, hielt Dietmar die Hand der Witwe. Der Priester bat den Allmächtigen um Gnade und nannte den Toten eine treue Christenseele. Nicht jeder empfand das so, denn Arnulfs Vater war zu Lebzeiten nur selten beim Gottesdienst erschienen. Sogar sonntags war er in den Wald verschwunden, um zu jagen, murmelte man hinter vorgehaltener Hand. Kein Wunder, dass ausgerechnet dieser Mann – hatte er nicht gar die alten Götter angebetet? – von den Heiden getötet worden war …

Auch Arnulfs Bruder Konrad war aus Haerulfisfeld herbeigekommen. Er hatte einen beachtlichen Bartflaum und trug eine raue, sackartige Kutte, die unter den wollenen Manteldecken der Friedeslarer hervorstach.

„Ich muss mit dir über Gott sprechen, Arnulf.“

„Wozu? Bist du ihm begegnet?“

„Narr! Vater war ein aufrechter Mann, aber er hat dir nicht immer die nötige Klarheit des Glaubens vermittelt …“

„Aber er hatte gute Waffen! Ich nehme den Bogen, hörst du?“

Noch vor dem Frühjahr war Dietmar bei ihnen eingezogen. Bei Sonnenaufgang weckte er sie mit einem Psalm, dann stand Arbeit auf ihrem Acker vor der Stadt an. Dietmars Streifen grenzte an das Feld von Arnulfs Familie, aber auf den Äckern des Onkels wuchs viel weniger Unkraut: Arnulfs Vater hatte den Jagdbogen der Sichel vorgezogen. Auch der Junge verdrückte sich lieber in den Forst, anstatt auf dem Feld zu schuften. „Feldarbeit ist für Frauen und Knechte!“, ließ er seinen Onkel bei solchen Gelegenheiten wissen. Knechte freilich hatten sie nicht.

Wohin mit dem Jungen? Die Antwort auf diese Frage erschien in Form eines Händlers namens Blutmund. Er belieferte die Siedlungen im Adranatal mit Wein, Stoffen, Gewürzen und anderen Dingen, die er weiter im Süden einkaufte. Arnulf sträubte sich nicht, als Dietmar vorschlug, ihn Blutmund als Dienstjungen zu überlassen. Arnulf konnte mit diesem Onkel nicht auf Dauer unter einem Dach leben, ja, er hasste die Geräusche, die nachts vom Bett der Erwachsenen ausgingen. Mit dem Händler herumzuziehen, verhieß dagegen Aussicht auf Abenteuer ohne sinnlose Ackerfron … Weder Dietmar noch Arnulf ahnten, dass Blutmund so gut wie ruiniert war. Im Trunk hatte der grobschlächtige Mann den Hörigen eines Lieferanten erschlagen. Um wieder freizukommen, musste er ein schmerzhaftes Wergeld zahlen. Wenig später wurde eine seiner Ladungen von Wegelagerern geraubt. Kurz nachdem Arnulf sich bei ihm für zwei Mahlzeiten täglich verdingt hatte, verkaufte Blutmund seinen Ochsenwagen, um Schulden zu begleichen. Seine Helfer verließen ihn, denn er konnte sie nicht mehr bezahlen. Arnulf aber blieb zurück, ihm stand noch kein Lohn zu; und wohin hätte er auch gehen sollen? Weder Dietmar noch seine Mutter machten Anstalten, ihn nach Hause zu holen.

Neben Arnulf gab es in Blutmunds schäbigem Lager noch ein Mädchen mit rötlichem Haar und einem schiefen Schneidezahn. Sie hieß Ragla und galt als Blutmunds Eigentum. Niemand wusste, ob sie getauft war oder nicht. Sie kochte für Blutmund und schlief bei ihm. Das sorgte für Gerede. Als der Händler im Herbst des Unglücksjahres mit einem Eselkarren in Friedeslar Station machte und sich abends der Schenke näherte, trat ihm der Diakon in den Weg.

„Woher kommt das Mädchen, Blutmund?“

Er kratzte sich zwischen den Beinen, einfach, weil es dort juckte. „Ich hab‘ sie als Tochter angenommen, Priester.“

„Stimmt es, dass du sie für ein Silbergeschmeide gekauft hast?“

„Ja, losgekauft von Heiden! Seid mir dankbar!“

„Dann schick sie in die Kirche! Kennst du das Vaterunser?“

Aber dann brach der Tod über das Adranatal herein. Für einen verwilderten Händler interessierte sich niemand mehr: Tagein, tagaus erteilte der Priester Menschen die Sterbesakramente, wenn sie mit blutigen Beulen am ganzen Körper vom Leben zum Tod hinübergingen. Freilich, einige Familien wurden nicht von der Heimsuchung berührt; sie hatten Eulenflügel über die Tür genagelt oder Euleneier unter ihren Betten vergraben. Das war ein altes Mittel gegen Unheil. Es hatte schon in Zeiten gewirkt, als noch niemand im Hessenland den Namen Jesus Christus vernommen hatte. Die Priester wetterten gegen diese Bräuche, denn sie wussten: Wer mit Eulenzauber der strafenden Hand Gottes entkam, der würde heimlich wieder die alten Götter anbeten, die man längst nach Norden vertrieben wähnte. Blutmund aber witterte ein neues Geschäft. Bald zog er mit seinen Helfern immer wieder in den Forst, wo Ragla und Arnulf in dreißig oder vierzig Fuß Höhe Eulengelege leerten. Manchmal trafen ihre Pfeilschüsse das Muttertier. Dann tauschte Blutmund die Beute meist rasch in Bier ein. Arnulf und Ragla ernährten sich von Weizengrütze und dem, was der Wald hergab. Immer häufiger schlug Blutmund nach Arnulf, wenn er betrunken war, oder fiel über seine angebliche Tochter her.

Eines Tages – Arnulf war in seinem fünfzehnten Jahr und nur noch wenige Zoll kleiner als Blutmund – überkam den Jungen die Verzweiflung. Blutmund war zu einem Tauschhandel zu einem Ort am Oberlauf der Adrana aufgebrochen, und Ragla saß vor ihrer Erdhütte am Waldrand und pulte Bucheckern aus der Schale.

„Ich will fliehen, Ragla. Komm mit!“

Ohne ein Wort zu sagen, richtete sie sich auf und sah sich um, als könnte ihr Herr sie hören; mager war sie, das hemdartige Kleid hing wie ein Segel an ihr herab. Ihre Gesichtszüge hatten kaum noch etwas Mädchenhaftes. „Wohin denn? Er wird uns überall finden. Und dann …“

„Nach Haerulfisfeld, zu meinem Bruder.“

„Aber wie willst du da hinkommen? Blutmund holt uns doch ein!“

Arnulf rückte seinen Gürtel über der löchrigen, harzverschmierten Tunika zurecht und seine Hand umfasste die Scheide mit dem Messer; der Griff war aus dem Geweih eines Hirsches gefertigt, den sein Vater einst geschossen hatte. „Heute Abend, wenn er wieder da ist und schlafen geht, dann ramme ich ihm das Messer ins Bein, dann haben wir Vorsprung …“

Ungläubig sah sie ihn an. „Das wagst du nicht. Er bringt dich um!“

Doch zunächst ergab sich keine Gelegenheit für den wildentschlossenen Jungen, diesen Plan umzusetzen. Ahnte Blutmund etwas? Als Arnulf sich Tage später mit einem in einer Schlinge gefangenen Hasen ihrer Erdhütte aus Stecken und Grassoden näherte, kam Blutmund ohne ein Wort aus der Türöffnung hervor. Er hatte blutunterlaufene Augen. Der erste Schlag traf den Jungen unerwartet, er fiel in einen Korb, in dem sie die Eier ablegten.

„Satan!“

Blutmund schlug erneut nach ihm. Arnulf rappelte sich wieder hoch und lief panisch in die Richtung, aus der er gekommen war. Aber sein Peiniger folgte ihm mit einem Knüppel in der Hand. Arnulf spürte, dass dieser Mann ihn totschlagen würde, dass er endgültig dem Leibhaftigen verfallen war.

Blutmund war nur noch wenige Schritte hinter ihm, als sie eine Lichtung mit frischen Baumstümpfen erreichten. Männer mit langen Äxten schlugen dicke Kerben in eine Ulme. Arnulf stürzte dem Erstbesten zu Füßen. Er trug Stiefel. Ihr Leder war dick und sauber gegerbt und kündete vom Wohlstand ihres Besitzers.

„Herr …“, keuchte Arnulf, „helft mir!“

Hinter ihm kam sein Verfolger schnaufend zum Stehen.

„Gebt ihn raus!“

Blutmunds Kopf war rot wie ein Kürbis. Schwer atmend stand er den drei Männern gegenüber, die sich um Arnulf herum aufgestellt hatten. „Er ist mein Dienstjunge! Er hat alles verhext!“

„Er lügt, Herr!“ So schnell er konnte erzählte Arnulf von Blutmunds Gewalttätigkeit, von dem Mädchen Ragla und dass sie kaum noch zu essen bekamen. Dann hob der Gestiefelte eine Hand, als hätte er genug gehört. Er hatte durchdringende Augen, einen sauber geschnittenen Schnurrbart und seine Tunika war makellos.

„Unser Priester hat mir von dir erzählt“, sagte er mit bedrohlicher Ruhe zu dem Wüterich. „Von dir und diesem Mädchen. Und dem Eulenzauber … Wir sollten dich durchprügeln, bis du nicht mehr weißt, wo unten und oben ist.“

Blutmunds Kiefer klappte nach unten. Plötzlich wirkte er gar nicht mehr so wütend. Hier stand einer, der ihn verachtete. Der wahrscheinlich auf gutem Fuß mit dem Priester und dem Gaugrafen stand. Und der kräftige Helfer hatte …

„Du wirst deinen Dienstjungen an mich abtreten, Blutmund. Und ich bin bereit zu vergessen, was du hier treibst …“

Blutmund sah in die kühlen Augen des Gestiefelten, betrachtete die schweren Fälläxte der Arbeiter und beschloss, dass nachzugeben hier das Beste war.

„Das ist nicht recht, Herr. Aber wenn Ihr mich zwingt …“ Der Knüppel in seiner Hand sank zu Boden.

Arnulf spürte eine riesige Erleichterung. Langsam richtete er sich auf, geradezu vorsichtig, als könnte eine unbedachte Bewegung Blutmund noch einmal herausfordern. Umso überraschter war er, als sein Retter von Blutmund noch etwas anderes forderte: Blutmund sollte ihm zwei Eulen liefern, ohne Entgelt!

„Du bringst sie zu meinem Haus unterhalb des Palas. Frag nach dem Baumeister Notker! Wenn du bis Sonntag nicht da warst, kommen wir und schneiden dir den faz ab, du Vieh!“

Arnulf klopfte sich den Schmutz des Waldbodens von seiner Tunika. Er wusste nicht, was Notker mit den Eulen vorhatte und in diesem Augenblick war es ihm auch gleichgültig; mochte er auch ein Mensch sein, der in jeder Lage seinen Vorteil suchte, er hatte Arnulf zunächst einmal gerettet: die Gesundheit und vielleicht sogar das Leben. So bedankte er sich mit einem Wortschwall beim Baumeister, während Blutmund sich grollend auf den Weg machte.

Nun endlich blickte Notker freundlicher. „Du hast was in den Armen, das sehe ich dir an … Erstmal müssen wir dich aufpäppeln! Meine Leute bekommen jeden Tag Fleisch. Wirst sehen, in ein, zwei Jahren bist du einer meiner besten Hauer!“

Arnulf. Die Axt der Hessen

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