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ОглавлениеKapitel VIII
Haerulfisfeld, Juno 722
Sollte er sich über Einhards Schutz freuen? Oder musste er befürchten trotzdem in Ketten gelegt zu werden? All seine Sinne waren angespannt, als Arnulf neben Tristan am Ende der Eskorte durch das Stadttor von Haerulfisfeld ritt. Er hatte heute dasselbe getan wie zwei Tage zuvor, Pfeile auf Sachsen abgeschossen. Aber, weiß Gott, das Ergebnis war ein anderes.
Satte Glockentöne klangen durch die Siedlung, als sie auf die mächtige Steinkirche im Zentrum zuritten. Sie hatte einen halbrunden Vorbau, in deren Glasfenstern sich die Abendsonne brach; ja, Konrad hatte bei ihrer letzten Begegnung von dieser Kirche geschwärmt, und nun verstand Arnulf, warum.
Kinder johlten. Etwa hundert Schritt vor der Kirche umlagerten sie den Schandpfahl, an den ein Mann im Halsjoch gekettet war. Eine Augenbraue war aufgeplatzt, halbgetrocknete Blutfäden machten sein Gesicht noch hässlicher. Hilflos versuchte er, Steinen und Dreckklumpen auszuweichen, die die Kinder warfen. Zwei Frauen mit Körben unter dem Arm beobachteten das Ganze, in eine lebhafte Unterhaltung vertieft.
„Was mag der ausgefressen haben?“, murmelte Arnulf mit einem unguten Gefühl.
„Vielleicht zu laut geblökt, als er sein Schaf bestiegen hat?!“, feixte Tristan. „Die Hessen, heißt es, stoßen sogar ihre …“
„Halt den Mund, Mann! Ich bin Hesse!“
„Schon gut! War nicht bös gemeint.“ Tristan warf dem robusten Kerl einen arglosen Blick zu. „Ich bin aus Kolna, am Rinahfluss. Da darf man auch Scherze vor Sonnenuntergang machen.“ In nichts glich Tristans heitere Miene der verzerrten Fratze, die auf Arnulf in seinem Waldrandversteck zugelaufen war. „Kolna ist eine richtige Stadt, verstehst du? Der Kaiser der Römer hat sie erbaut, als es noch keinen Papst gab. Von unten bis oben aus Stein. Mit einer riesigen Mauer ringsum. Die kannst du nicht stürmen, auch mit zehntausend Sachsen nicht!“
„Deshalb habt Ihr auch keine Krieger, was? Nur Schwatzköpfe und Schreiber, die vom Pferd fallen.“
Tristan lachte, als würde Arnulf jemand anderes meinen. „Du brauchst jedenfalls neue Kleidung, Hessenfaust! Selbst die Leute hier im Dorf sehen nicht so zerrissen aus wie du …“
Arnulf schaute an sich herunter. „Die Löcher kann man nähen. Waschen müsste ich mich mal …“
„Dein Mief fällt nicht auf“, grinste der Andere. Die Reiterkolonne war zum Stehen gekommen, denn vor ihnen trieben zwei Halbwüchsige eine Horde Schweine über den Weg. Ein scharfer Geruch machte sich breit. Arnulfs Pferd drehte den Kopf nach hinten, und er klopfte sanft auf den Hals des Tieres.
„Wolke … ich werde dich Wolke nennen.“ Er war vogelfrei – aber er hatte ein Pferd. Noch einen halben Tag zuvor hatte es einem sächsischen Krieger gehört!
Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete Arnulf die in Kutten gekleideten Gestalten, die aus der Kirche kamen. Seinen Bruder würde er wiedererkennen. Aber was dann? Einhard hatte ihm unmissverständlich klar gemacht, dass er sich still verhalten musste. Hinter einem steinernen Amtsgebäude – der Abt oder der Vogt mochten hier residieren – stiegen sie vor einem hölzernen Langbau ab, dem ein Webhaus gegenüber lag. Im Halbdunkel der Fensteröffnungen nahm Arnulf weibliche Gesichter wahr. Eine stämmige Frau in flickenübersätem Kleid wuchtete einen Tuchstapel durch die Eingangstür und betrachtete die Ankömmlinge neugierig. Ansonsten schien ihre Ankunft keine besondere Aufmerksamkeit zu erregen; alles wirkte friedlich, kaum jemand ging bewaffnet.
Ein buckliger Bediensteter der Kirche wies ihnen Unterkünfte zu. Mit größter Selbstverständlichkeit ließ sich Tristan mit weißen Bettlaken ausstatten, um in der ersten Kammer des Langbaus die Nachtlager herzurichten. Arnulf beobachtete diesen Vorgang amüsiert, bis er in der Zimmerecke eine Waschschüssel entdeckte. Dankbar klatschte er sich das lauwarme Nass ins Gesicht. Prompt huschten Mäuse unter dem Schemel mit der Schüssel hervor und verschwanden unter den Betten.
„Gott sei’s gedankt“, seufzte der Schreiber und strich mit der Handfläche über die Laken. „Keine Ratten. Mit Mäusen kommen wir aus … Hier, versuch mal!“
Er reichte Arnulf eine sauber zusammengelegte Tunika, die irgendwie anders roch – nach Kräutern? Als Arnulf Hände und Kopf durch die jeweiligen Öffnungen gezwängt hatte, sah er aus wie eine Wurst: Der untere Saum des Kleidungsstücks reichte nur bis zum Schritt, über den Schultern spannte der Stoff, und die Ärmel endeten etwa fünf Zoll über den Händen. Tristan lachte los und auch Arnulf musste grinsen. Dann hängte sich Einhards Helfer die Schreibzeugtasche über die Schulter und öffnete den Türriegel. „Rühr dich nicht vom Fleck, hörst du? Und nimm ruhig mein Rasiermesser. Am Hof tragen jetzt alle Schnurrbart, Spitzen weit nach unten, wie der König.“
„Alle? Und was ist mit deinem Ziegenbärtchen?“
Ein verschmitzter Ausdruck erschien auf Tristans Gesicht. „Ich bin weder Krieger noch Hofmann … Ich bin Schreiber.“
+ + + + +
Verzweifelt drosch der junge Hesse mit dem Bogen auf ein Dutzend Krieger ein, die ihn umkreisten. An den Schandpfahl mit ihm!, schrie ein kahlköpfiger Mann mit Glubschaugen. Dreckklumpen flogen ihm ins Gesicht.
„Arnulf?“ Er schreckte hoch. Zu sehen war fast nichts, aber die Stimme war unverkennbar.
„Konrad?“
„Komm. Und sei leise.“
Arnulf streifte die Decken beiseite. Mit Mühe konnte er die Türöffnung ausmachen. Kühle Morgenluft empfing ihn. Schemenhaft war Konrad vor ihm erkennbar. „Pass auf die Pfützen auf.“
Ja, nachts hatte es geregnet, und das kräftig! Prompt versank Arnulf mit dem rechten Fuß im Wasser. Ein Fluch entfuhr ihm. Worauf vor ihm ein altbekanntes Sprüchlein ertönte:
„Was nass ist, wird trocken, was kalt ist, wird warm;
Vertraust du auf Gott,
bist du reich und nie arm.“
Erinnerungen an ihre Kindertage stiegen auf, aber er hatte keine Zeit, diesen Gedanken hinterherzuhängen. Schon erkannte er vor ihnen die Umrisse des Kirchengebäudes.
„Zieh den Kopf ein!“
Arnulf folgte seinem Bruder durch eine niedrige Türöffnung in einen nach kaltem Stein riechenden Gang. Der führte in einen mit Bänken und schmalen Tischen angefüllten Raum, in dessen Mitte jemand beim Schein einer Öllampe mit Tiegeln und Stößeln zugange war.
„So früh schon auf, Dudo?“ Ein Männlein mit abstehenden Ohren und krausem Kinnbart sprang auf; der königliche Sichelschnurrbart war offenbar noch nicht in Haerulfisfeld angekommen. „Gott mit Euch, Herr Prior! Gestern ging den Brüdern die Tinte aus …“
Konrad sagte etwas, was lateinisch klang, worauf Dudo mit einem Kelch in der Hand beflissentlich nickend den Raum verließ. Konrad wies seinen Bruder an, am Tisch Platz zu nehmen. Vogelgezwitscher drang aus einem Innenhof herein und mit einem Mal fasste Arnulf wieder neue Hoffnung.
„Hat der dich wirklich mit ‚Prior‘ angesprochen?“
„Ja. Unser Abt meinte es gut mit mir“, lächelte Konrad. Im Morgenlicht, das durch die Fensteröffnungen fiel, wirkte sein Gesicht noch länger und asketischer als bei ihrer letzten Begegnung vor einem Jahr. Ein helles Kreuz, es mochte Elfenbein sein, hing über dem dunklen Wollstoff der Kutte. „Als er nach Rom ging, um dem Heiligen Vater zu dienen, setzte er mich als Prior ein. Und das, obwohl ich eine junge magad an der Schule aufgenommen habe … das hat es noch nie gegeben.“
Arnulf schüttelte den Kopf. „Als Prior des Klosters bist du … du bist der Herr von Haerulfisfeld!?“
„Ja und Nein. Wir unterstehen dem Kloster Fulda. Und der kommende Abt von Fulda war gestern bei mir. Boso hat erzählt, dass du vor Thegan geflohen bist.“ Konrad faltete seine Hände und sah Arnulf ernst an. „ Er hat verlangt, dass ich dich … nun ja. Hast du wirklich Childerichs Paladin niedergeschlagen?“
„Ja“, stieß Arnulf grimmig aus. „Er hat mich übel gereizt …“
„Gereizt, ach ja? Kannst du dir vorstellen, in welche Verlegenheit mich das alles bringt?“
Arnulf musste schlucken. Wut und Enttäuschung stiegen in ihm auf. „Boso ist noch nicht geweiht, noch kann er dir nichts befehlen! Du musst ihm klar machen, dass … Verdammt, ich brauch’ deine Hilfe, Konrad!“
„Dass du auch noch fluchst, wenn du um Hilfe bittest!“ Konrads Stimme war kalt geworden. Er hob den rechten Arm, der Zeigefinder stand senkrecht. „Dort oben musst du um Hilfe bitten! Aber vorher solltest du um Verzeihung bitten! Du schlägst den obersten Gefolgsmann des Gaugrafen, wegen einer … wegen eines Weibs? Denkst du niemals nach, bevor du zuschlägst?“
Der letzte Satz wirkte wie eine Ohrfeige. Und er erinnerte Arnulf an ähnliche Sprüche Konrads, die er vor zehn Jahren oder mehr geäußert hatte. Verlegen rutschte er auf seinem Stuhl nach vorn. „Thegan hat uns den Sachsen zum Fraß vorgeworfen, Bruder. Niemand wusste, was da auf uns zukam …“
„Was gehst du auch freiwillig in solche Abenteuer?! Das ist doch alles wie früher: Ständig prügelst du dich herum wegen nichts und wieder nichts!“
„Wegen nichts?“ Unwillkürlich ballte Arnulf die Fäuste. „Ja, für dich war es nichts … harmknabo haben sie mich immer genannt, weißt du noch? Aber natürlich, du hattest Besseres zu tun als mir zu helfen. Und jetzt willst du auch nichts für mich tun! Denn wenn du dich mit niemandem anlegst, dann kannst du auch irgendwann mal Abt werden, nicht wahr?“
„Du Narr!“ Konrads Kehlkopf bewegte sich heftig. „Hast du mal an unsere Mutter gedacht? Thegan hat sie mit Dietmar aus der Stadt gejagt! Ja, dein frevelhaftes Tun hat nicht nur Folgen für dich, kleiner Bruder!“
Arnulf starrte den Älteren an. „Das habe ich nicht gewollt …“
„Vielleicht kann ich ihnen helfen, unser Kloster besitzt einige Höfe an der Adrana … Versteck dich irgendwo im Süden. Bete und faste einen Monat lang: Kein Bier, kein Fleisch. Und fass keine magad an in dieser Zeit … Die Weiber sind eine Verlockung, mit der der Herr unsere Willensstärke prüft! Du musst der Begierde widerstehen, Arnulf, sonst bringt sie dir neues Unglück!“
„Du tust gerade so, als ob … aah!“ Arnulfs Faust schlug auf den Tisch. Und er sagte etwas, was er Augenblicke später bereute: „Begierde … du redest daher wie ein Apostel! Hast du schon mal neben einer Frau gelegen?“
„Schweig, bei Gott!“
Für einen Augenblick zitterte Konrads Stimme, doch sogleich hatte er sich wieder unter Kontrolle. Er stand auf, schwerfällig, wie ein Mann jenseits der vierzig oder fünfzig. „Du gehst jetzt besser. Bevor Boso aufsteht und den nächsten Amtmann mit ein paar Bewaffneten herbeiholt. Er wohnt nicht weit weg …“
Arnulf presste verächtlich die Luft durch die Nase. Er stieß den Stuhl zurück, voll Zorn und Enttäuschung. Der Raum war nun fast taghell, an einer Wand waren Tafeln mit Strichen und Kreisen zu erkennen – so rätselhaft wie das ganze Verhalten seines älteren Bruders. „Ich werde nach Franconofurt gehen.“
Mit Einhard – falls dieser ihn weiter mitnehmen würde. Doch davon erzählte er seinem Bruder lieber nichts. Wie die Dinge lagen, brachte Arnulfs Begleitung den Königsboten in ein schlechtes Licht …
„Ich hab’ in den letzten Tagen ein halbes Dutzend Sachsen niedergemacht. Für dich zählt das natürlich nichts … Die Heiden haben Vater umgebracht, kannst du dich daran erinnern?“
„Ich bete täglich für seine Seele“, stieß Konrad aus. „Ich bitte Gott immer wieder, dass er ihn gnädig aufnimmt. Auch wenn Vater nicht auf Gottes Wegen wandelte …“
„Zur Hölle mit deiner Besserwisserei!“ Arnulf ließ seiner Wut freien Lauf. „Du sitzt hier mit deinen Betbrüdern und malst Kringel an die Wand. Aber glaub’ mir, wenn die Heiden einfallen, gehen eure schönen Pergamente und alles andere in Rauch auf! Dann werdet ihr Gott anflehen, dass euch ein paar Krieger mit Äxten und Schwertern heraushauen!“
„Was du ‚Kringel‘ nennst, ist der zweite Buchstabe des Alphabets, in einer Form, die wir auf Geheiß des Königs für die Hofkanzlei entwickelt haben.“ Konrad sprach nun so kühl und nüchtern, als würde er mit einem Fremden reden. „Auch wenn du es dir nicht vorstellen kannst: Diese Buchstaben wird es selbst dann noch geben, wenn Menschen sich nicht mehr mit Schwertern gegenübertreten!“
Ihr Händedruck fiel sehr kurz aus.