Читать книгу Arnulf. Die Axt der Hessen - Robert Focken - Страница 16

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Kapitel IX

Franconofurt am Moyn-Fluss, Juno 772

Dreieinhalb Tage verbrachten sie im Sattel, bevor am Horizont eine Turmspitze auftauchte. „Franconofurt!“, rief Tristan ausgelassen. „Endlich!“ Er preschte ein paar Pferdelängen nach vorn und stimmte ein deftiges Lied an. Es handelte von den Frauen am Moyn, die angeblich schöner, williger und knapper bekleidet waren als die anderen Weiber der fränkischen Lande. Die Scarakrieger lachten, bis Einhard seinen Schreiber zur Ordnung rief.

„Der Wachtturm ist das höchste Gebäude der Francia“, ließ Tristan seinen Retter wissen. „Noch höher als die Kirche in Fulda! Von da siehst du mindestens bis Friedeslar!“

Arnulf stellte sich in die Steigbügel, um besser sehen zu können. „Blödsinn“, knurrte er. Aber der Turm schien in der Tat gewaltig, deutlich höher als der Palas in Friedeslar.

„Der hat mehr als zweihundert Stufen. Die Wachen sehen ein feindliches Heer Stunden bevor es die Furt erreicht, stimmt’s, Ansgar?“

„Was du nicht alles weißt, Schreiberling …“ Der Kopf mit dem Stiernacken vor ihnen drehte sich ein wenig. Ansgar hatte eine nuschelige, aber gemütliche Aussprache. „Ja, bei Alarm verschwindet alles in der Umwallung des Königshofes. Dann ist da noch ’ne alte Römermauer, aber die ist nur noch Steinbruch für alles Mögliche …“

Sie schlossen zu dem Krieger auf, der Weg war hier breit genug für drei oder vier Pferde. Saftig grüne Weiden dehnten sich links und rechts, immer wieder sahen sie Pferdegruppen, bewacht von Hütejungen. Neugierig betrachtete Arnulf das Loch im Lederpanzer des Kriegers. „Ist es schon verheilt, Ansgar?“

Gleichmütig legte der Angesprochene zwei dicke Finger auf den Riss. „Zwirbelt noch ein bisschen … ich schulde den Kerlen was.“ Er grinste. „In ein paar Wochen besuchen wir die Bastarde in ihren Wäldern, dann wird abgerechnet! Im Frühjahr haben sie eine Hundertschaft von uns massakriert, hinten am Rinah. Auch das werden wir ihnen heimzahlen, verlass dich drauf!“

Arnulf stutzte. „Dann müsst Ihr ja den ganzen Weg wieder zurück?“

„Na und? Wenn es nach Italien oder Aquitanien geht, dann bist du manchmal tausend Meilen unterwegs. Nichts für weiche Arschbacken!“ Er lachte und freute sich über den Eindruck, den er auf Arnulf machte. „Heute Abend leeren wir erstmal ein Fass Wein im Kubabla. So ist’s Brauch vor einem Feldzug!“

„Ihr meint wohl das Cupa Bibila?“, fragte Tristan gedehnt, als spräche er mit dem Scolar einer Klosterschule. „Das ist Lateinisch und heißt ‚durstiges Fass‘.“

„Du Klugscheißer!“ Ansgar schlug mit der Reitpeitsche nach Tristan, doch der hatte im selben Moment Abstand mit seinem Pferd gewonnen und grinste wie ein Heranwachsender. Danach raunte er Arnulf zu, dass die Schreiber sich in einer anderen Schenke trafen, wo weniger Soldaten verkehrten: „Im Roten Krug, mein Lieber, da gibt es sogar Schankweiber!“

Die Eskorte zügelte die Pferde. Von einer Anhöhe aus konnten sie auf ein weites Tal hinabsehen: Als breites, graublaues Band schlängelte sich unten träge der Moyn. Südlich des Flusses lag eine Ebene mit Höfen, Weiden und Waldstücken, die in größerer Ferne wiederum in bewaldete Hügel überging. Franconofurt selbst, die Stadt an der Moynfurt, machte einen unübersichtlichen Eindruck: Zweihundert Schritt oberhalb des Flussufers verlief eine Umwallung, innerhalb derer heller Putz von Steingebäuden leuchtete. Umgeben, oder besser umwachsen, war das Krongut von einem Gewirr stroh- und schindelgedeckter Häuser und Hütten, die fast bis zum Wasser hinabreichten. Wie eine zerstückelte Linie war im Durcheinander der Unterstadt der Rest der Römermauer zu erkennen. Träge trieb der Rauch von Herdfeuern und Werkstätten über die Stadt.

„Etwas größer als Friedeslar, nicht?“ Tristan schien Arnulfs Gedanken zu lesen. „Aber Kolna ist noch viel größer! Und Kolna hat eine richtige Mauer, höher als ein Haus!“

Kurz darauf winkte Einhard Arnulf heran. Der Consiliarius hatte sich täglich gefragt, ob er nicht zu weit ging, indem er Arnulf nach Franconofurt mitnahm. Aber er hätte den Burschen kaum daran hindern können, ihnen zu folgen; und Einhard redete sich ein, dass es besser für alle Beteiligten war, wenn Arnulf hier unten abtauchte und verschwunden blieb, als sich nahe Haerulfisfelds wieder aufgreifen zu lassen. „Unsere Wege trennen sich jetzt, Arnulf. Vor Thegan solltest du hier erstmal sicher sein. Aber man kann nie genau wissen, auf wen man in Franconofurt stößt. Erzähl am besten niemandem, wo du herkommst!“

„Ich werd’ schon aufpassen. Wer ist der Gaugraf von Franconofurt?“

„Es gibt keinen. Stadtherr ist ein Amtmann, der den königlichen fiscus innerhalb der Mauern verwaltet. Aber bleib ruhig eine Weile in der Stadt, dort fällst du als Fremder kaum auf!“

Arnulf bedankte sich mit knappen Worten für Einhards Hilfe. Ihm war plötzlich flau zu Mute, was der Consiliarius zu spüren schien. „Im Zweifelsfall erst nachdenken, dann zuschlagen“, murmelte Einhard noch und drückte ihm ein ledernes Säckchen in die Hand. Es war schwer – das beruhigende Gewicht von Silbermünzen. Als die Eskorte anritt, drehte Tristan noch eine kleine Schleife und rief dem Zurückbleibenden verschwörerisch zu:

„Morgen nach Sonnenuntergang im Roten Krug – ich rechne mit dir, Hessenfaust!“

+ + + + +

Arnulf tauchte in die Stadt ein wie in einen fremden Forst. Bestien oder Heilige, worauf würde er hier stoßen? Als Arnulf noch ein kleines Kind gewesen war, hatte ein Onkel ihn einmal mit nach Franconofurt genommen. Häuser aus Stein und eine Unzahl von Krüppeln waren das Einzige, was er von diesem Erlebnis erinnerte. Viele wurden hier angespült, die anderswo eine Heimat hatten, denn die Moynfurt war eine Schnittstelle der Fernstraßen von Ratisbon in Bayern nach Aquisgranum und von den Alpen zur Sachsengrenze und weiter bis zum Nordmeer.

Der Erste, den er vor einem sauber aussehenden Haus unterhalb des Walls nach Herberge fragte, verlangte drei Denare für die Nacht – und einen Denar für die Versorgung des Pferdes.

„Vier Denare? Ist das ein Scherz?“

„Wenn du’s billig willst, geh an’s Wasser. Einfach den Hügel runter, dem Lärm nach.“ Und schon fuhr der Mann gemütlich pfeifend fort, Würfel aus einem Stück Hirschhorn zu schnitzen.

Alles war lauter, enger und irgendwie schmutziger als in Friedeslar. Immer wieder schaute er sich um, aber – es war merkwürdig – niemand beachtete ihn, den offensichtlich Fremden. Einhard hatte Recht gehabt, hier war so viel Volk unterwegs, dass er als fremder Besucher nicht auffiel. Immer wieder traten Bettler dreist in seinen Weg, hielten ihm pestzerfressene Handstummel ins Gesicht und verlangten nach Almosen: „Wir beten für Eure Seele, Herr!“ Unwirsch schob Arnulf sie zur Seite.

Es war Markttag: Da waren Kaufleute in seidigen Gewändern, die Früchte anboten, von denen Arnulf kaum eine kannte; hochgewachsene Händler aus dem Norden, die unter einem gespannten Segel Felle, Wachs und Honigmet verkauften; Metzger mit kehligem Lachen, die Schafe auf einem blutigen Holzblock in Viertel zerhackten, neben einem Stand, an dem Würste und Brot feilgeboten wurden, zusammen mit einer Paste, die die Farbe von Kamille hatte. Arnulf ließ sich ein bestrichenes Wurststück von einem gleichaltrigen Burschen aufdrängen. Es schmeckte großartig. „Mostrich, guter Mann! Einen besseren findet Ihr in der ganzen Stadt nicht!“

Und dann war da der Lärm der Ausrufer auf einem Podest aus Fichtenbohlen. Sie umkreisten kleine Gruppen von Frauen und Kindern, die Ketten an den Handgelenken hatten und mit leeren Augen ins Nichts starrten.

„Slawische Weiber! Gesund und stark!“ Der Ausrufer war ein Glatzkopf mit der Figur eines Ringers. Mit einer Hand, an der zwei Finger fehlten, packte er den Oberarm eines Mädchens und rief in Arnulfs Richtung: „Dreißig Solidi3, und sie gehört Euch!“

Arnulf konnte nicht anders, als das Mädchen zu betrachten – ihre schmutzige Tunika, die verfilzten Haare, die Augen, die Angst und Resignation gleichermaßen widerspiegelten. Sofort bereute er es. Der Glatzkopf riss ihr das Hemd von der Schulter. Eine Brust wurde entblößt – weiß, rund.

„Prächtige Stute!“, brüllte er Arnulf zu. „Mit der werdet Ihr Spaß haben!“

Arnulf wandte sich ab, Blut schoss in seine Wangen. Da spürte er eine Hand auf der Schulter. „Wartet!“ Ein Mann Ende dreißig, mit fleckenfreiem Wams und einem schweren Schlüsselbund am Gürtel. „Das Mädchen und noch zehn Solidi drauf im Tausch für Euer Pferd – was sagt Ihr?“

„Steck dir die Solidi in den Arsch!“

Er fühlte die Blicke der Sklavenhändler im Rücken, als er sich einen Weg durch die Menschen bahnte. Immer dem Lärm nach … Zwischen zwei langgezogenen Gebäuden, deren Holz noch hell war, hatten Tuchmacher und Schneider ihre Waren unter den Vordächern ausgebreitet. „Bester Stoff! Gute Preise!“ Er kaufte eine Tunika, zum ersten Mal in seinem Leben. In Friedeslar hatte er Kleidungsstücke meist im Tausch gegen Wildbret erworben. Ob er nicht neue Schuhe brauche? Der Verkäufer flatterte mit kurzen Armen wie ein Vögelchen, bat ihn hierhin und dorthin und schaffte es, ihn solange aufzuhalten, bis ein anderer mehrere Lederstücke zu passenden Schuhen zusammengenäht hatte. Mit richtiger, dicker Sohle, nicht wie die alten, die seine Mutter gemacht hatte. Seine Laune stieg wieder. Alles hier ging wirr durcheinander, doch es war auf eine fremde, nie gekannte Weise auch aufregend. Die Welt war größer, als er gedacht hatte.

„Ein Bett? Kannst du haben.“ Die Herbergsmutter wischte das Blut einer Knochenhaue nachlässig an ihrer Schürze ab. Misstrauisch musterte Arnulf das Haumesser und dann die verwachsene Knorpelnase, deren Spitze rot angelaufen war, wie in schwerem Frost. „Halber Denar die Nacht. Neues Leinen zweimal im Monat.“ Es war eine feucht riechende Kammer mit einem breiten Bett, in dem bereits Leben war: Ein helles und ein tiefes Schnarchgeräusch drangen unter der Decke hervor.

„Und mach dich nicht so breit, hörst du? Da kommt noch jemand“, knurrte sie.

„Vier in einem Bett? Was soll das, Alte?!“

„Hättest du Silber, wärst du nicht hier! Was willst du überhaupt mit dem Bogen, hier in der Stadt?“ Abschätzig starrte sie ihn an. „Bist vorm Heerbann davongelaufen, hm?“

„Das geht dich nichts an. Der Rote Krug, wo ist der?“

„Oben, hinterm Wall. Zu teuer für dich! Da trinken sie Wein.“ Sie machte ein schnarrendes Geräusch, ihre Art zu lachen.

Er brachte Wolke in einem Stall am Rand der Siedlung unter; halbverhungerte Hunde patrouillierten vor den Pferdeboxen. Der Stallmeister hatte herabhängende Augenlider, sein Atem roch nach Bier, alles andere nach Pferd. Arnulf streichelte noch einmal Wolkes Kopf und erklärte der Schimmelstute, ganz als könnte sie ihn verstehen, dass er sie bald wieder abholen würde … Am Flussufer stellte er erleichtert fest, dass ihn niemand beobachtete. Er kniete sich auf einen Steinblock, zog die Tunika aus – nur die Wachen auf dem Holzturm mochten ihm zusehen – und wusch sich. Als er sich das Gesicht abtrocknete, sah er einen bleichen Gegenstand vorbeitreiben. Es war ein menschlicher Arm. Arnulf bekreuzigte sich. Was würde sein Bruder Konrad zu dieser Stadt sagen?

3 Ein Solidus entsprach 12 Denaren.

Arnulf. Die Axt der Hessen

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