Читать книгу Arnulf. Die Axt der Hessen - Robert Focken - Страница 14
ОглавлениеKapitel VII
Friedeslar, Juno 772
Am nächsten Morgen sagte der Gaugraf mit gleichgültiger Miene achthundert Mann zu, ausgerüstet und verproviantiert für neunzig Tage. Tristan brachte alles mit flinker Hand auf ein Pergament.
Einhard erschrak, als er Thegan zu Gesicht bekam: Dessen Nase war ein schiefer, blauroter Klumpen. Hass loderte in seinen Augen, und er interessierte sich nicht im geringsten für Einhards Fragen, als sie über Ernteverzeichnisse, Forsterträge und Einnahmen aus den umliegenden Fronhöfen sprachen – in einem Zimmer mit echtem Glasfenster.
So legte Einhard auch keinen Wert auf Begleitung, als er später einen flussaufwärts gelegenen Königshof besuchte, oder besser gesagt, überprüfte. Der dortige Amtmann erholte sich schnell vom ersten Schreck, als Einhard eintraf, und holte Einnahmen- und Abgabenlisten aus einer modrig riechenden Kiste hervor. Manche waren von Mäusen angefressen, aber die Sorgfalt der Aufzeichnungen gefiel Einhard; hier wirkte ein ehrlicher Verwalter.
Befriedigt kehrte er am späten Nachmittag zurück. Er verzichtete auf ein weiteres Bankett mit dem Gaugrafen und ging früh zu Bett. Und als er am nächsten Morgen mit Esiko die Aufzeichnungen ihrer Reise durchging, fühlte er sich so erholt wie lange nicht mehr.
„Hält Childerich Wort? Was meint Ihr, Hauptmann?“
Einhard hatte die Lederbespannung aus dem Fensterrahmen genommen, um frische Luft einzulassen. Eine Amsel hüpfte erwartungsvoll auf der Fensterbank umher. Zwischen Pergamentrollen, Tintenfass und ledernen Etuis lag ein Brotrest auf dem Tisch, den Esikos Finger zerkrümelte.
„Kann sein. Ihr habt getan, was Ihr konntet …“
Da war ein Funkeln in den Augen des Kriegsmannes – Hohn? Seine Züge waren nicht leicht zu lesen; das Kinn des Offiziers war von dichten, schwarzbraunen Stoppeln bedeckt, die Nase sprang vor wie ein Sporn, und auf Höhe der Nasenwurzel war eine Verdickung, die seinem Blick stets etwas Drohendes gab. Harto nannten ihn seine Leute, und kaum ein Beiname war treffender: Esiko hatte mehr Männer auf dem Schlachtfeld getötet als ein Kettenhemd Ringe hatte, hieß es.
„Wir haben Zusagen über zweitausend Mann; wenn die anderen Boten genauso viel mitbringen …“
Esiko nickte und warf der Amsel einige Krümel zu, die vor dem Vogelschnabel landeten. „Der König wird ein großes Heer haben. Vielleicht das größte, das jemals nach Norden zog.“
„Falls die Gaue wirklich Bewaffnete schicken. Und nicht nur halbwüchsige Trossknechte und Pack – das denkt Ihr jetzt, nicht wahr?“
Esiko nickte grimmig, der verstümmelte Finger erzeugte ein Raspelgeräusch am Kinn. „Der Heerbann hilft, den Feind zu erschrecken. Aber für das Kämpfen selbst taugen nur die unfortha.“
Die Furchtlosen, so nannten sich die Krieger der Scara selbst. Die aus der Leibwache des Königs entstandene Streitmacht zählte ungefähr eintausend Mann, organisiert in Hundertschaften. Es waren nicht nur einfache Freie, sondern auch die Sprösslinge einiger Adelsgeschlechter, die im Königsdienst Waffenruhm erwerben wollten – und Land, denn wo das Frankenheer siegte, pflegte man dem Feind Land zu nehmen und an die Getreuen zu verteilen.
Gutgelaunt packte Einhard das Schreibzeug zusammen. Als sie auf den Hof hinaustraten, hatten die Männer ihrer Eskorte bereits aufgesattelt. Vier Tage würde der Ritt nach Franconofurt dauern, wo der Herrscher ungeduldig auf seine Boten wartete, um die letzten Vorbereitungen für den Feldzug persönlich zu überwachen.
Childerich hatte ihnen für alle Fälle einen Führer mitgegeben, einen Mann mit langen blonden Haaren namens Gero. Auch Boso ritt mit. Nach dessen Unterstützung beim Ringen mit Childerich hatte Einhard ihm das Schreiben Fulrads ausgehändigt. Es stellte sich heraus, dass Boso nach Fulda beordert wurde, wo der König alsbald mit dem Heer durchziehen würde. Dafür konnte es wohl nur einen Grund geben …
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Halb sitzend, halb liegend hatte Arnulf die Nachtstunden unter einer ausladenden Eiche am Waldrand verbracht. Bei Sonnenaufgang rappelte er sich hoch, rieb seine kalten, schmerzenden Glieder und stolperte weiter, bis er irgendwann die Fischerhütten am Ufer der Adrana erreichte. Mit angehaltenem Atem ging er ins Wasser, bis er keinen Boden mehr unter den Füßen spürte. Für einen Augenblick packte ihn Angst, als er mit dem Kopf untertauchte. Er musste an die Leichen denken, die manchmal bei Hochwasser den Fluss heruntertrieben; Menschen, die den Flussgeistern zum Opfer gefallen waren, sagten die Alten.
Prustend und triefend stapfte der Flüchtling wenig später auf der anderen Seite durch den Ufermorast. Im ersten Morgenlicht stieg Dampf über dem Fluss auf. Dunkel war der Waldrand südlich der Adrana zu erkennen. Zwischen ein paar jungen Fichten schreckte ein Hirsch auf. Gefolgt von einer Hirschkuh jagte das Tier in großen Sprüngen davon.
Endlich fielen die düsteren Wachträume von ihm ab. Nach Osten, Richtung Sonnenaufgang musste er sich durchschlagen, aber ohne zu weit vom Flusstal abzukommen. Irgendwann würde er dann auf die Nord-Süd-Straße nach Haerulfisfeld stoßen …
Aber Dickichte aus jungen Bäumen und daumendicken Brombeerranken zwangen ihn immer wieder zu Umwegen, und der Saum von Bachläufen lockte ihn in die falsche Richtung. Als mittags die Sonne im wolkigen Dunst verschwand, verlor er jedes Richtungsgefühl.
Da waren uralte Bäume mit knorrigen Aststümpfen – bei Mondlicht hätte er sie für Gespenster halten können; Senken, in denen es dunkel und sumpfig war; Wildpfade, die menschliche Wege vortäuschten. Gefallene, von Stürmen entwurzelte Riesen lagen übereinander, ineinander verkeilt wie Schiffskörper, besiedelt von Moos und Pilzen; aus ihnen heraus wuchsen neue Bäume, ihre Spitzen zum Blätterdach reckend, dem Licht entgegen. Die Baumkronen waren so dicht, dass Arnulf bald kaum noch den Himmel sehen konnte. Beklommen stimmte er das erste Lied an, das ihm in den Sinn kam. Es handelte von einem Jäger, der in den Wald ging, um einen prachtvollen Hirsch zur Strecke zu bringen … und der nicht mehr nach Hause fand.
Der Gedanke, in dieser Wildnis übernachten zu müssen, ließ ihn schneller laufen. Bald stolperte Arnulf einen Hang hinunter, auf die turmartigen Reste einer Eiche zu, als er neben dem Fuß des Baumes etwas Helles auf dem Waldboden sah. Er hob es auf und drehte es beim Weitergehen in der Hand – der Rückenwirbel eines Hirsches? Plötzlich rutschte er weg: Eine Erdöffnung, halb zwischen, halb unter den Baumwurzeln. Erschrocken hielt Arnulf sich mit beiden Händen an Wurzelenden und Erdreich fest – unter ihm war eine Höhle. Wildes Knurren ertönte, Zähne bohrten sich in seinen Schuh.
„Almahtigan!“
Zu Tode erschrocken strampelte und kletterte der Flüchtende nach oben, graue Schatten unter sich. Er stürzte kopfüber den Hang hinunter und überschlug sich. Kaum hatte Arnulf sich aufgerichtet, sprang ihn der Wolf an. Entsetzt spürte er, wie sich die Kiefer um seinen Unterarm schlossen. Die Bestie starrte ihn aus schwarzgelben Augen an, sie schien genauso groß zu sein wie er selbst. Brüllend versuchte Arnulf das Tier abzuschütteln. Das Messer! Er musste das Messer ziehen und in den Wolfsleib rammen …
Plötzlich ließ das Tier ab, Arnulfs Stoß ging ins Leere.
Blindlings rannte er los. Als er endlich langsamer wurde, mochte er eine Meile zwischen sich und die Höhle gebracht haben. Keine Bestie verfolgte ihn. Aber da war etwas anderes, das fast noch schlimmer war. Während sein Herzschlag ruhiger wurde, pochte etwas heftig hinter seinem Ohr. Das Mal dort fühlte sich heiß an; kaum wagte er, die Fingerspitzen der rechten Hand an die Kopfhaut zu legen. Er wollte Gott anrufen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken.
Woher hatte er das Zeichen?
Vom Teufel?
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Nachts raunte ihm Hilde zu, dass sie ihn am Fluss treffen wollte. Am Bach!, rief er. Das leise Gurgeln dieses Baches vernahm er selbst im Traum. Von Reichtum und Einfluss hatte sie gesprochen, die ein Mann haben müsste … Childerichs Paladin hatte all das. Konnte es sein, dass nicht Arnulf ihr leid tun würde? Sondern Thegan mit seinem kaputten Gesicht?
Am Morgen klarte es endlich auf. Arnulf tröstete sich damit, nun mit Sicherheit nach Osten zu laufen, auf die große Straße zu. Der Hunger ließ seinen Magen rumoren; er malte sich aus, wie Konrad ihn bald, sehr bald mit allen Schätzen der Klosterküche bewirten würde … Das bösartige Pochen hinter dem Ohr hatte aufgehört. Arnulf versuchte krampfhaft, nicht daran zu denken. Aus Angst es könnte wieder beginnen.
Eine Lichtung ließ sein Herz schneller schlagen. Zwischen verkohlten Baumresten wuchsen Birken und Haselnusssträucher nach. Waldbrand oder gezielte Brandrodung? Brombeerbüsche hingen voll mit grünen und roten Beeren.
Plötzlich hörte er einen Schrei. Abrupt blieb er stehen, alle Sinne angespannt. War es wirklich ein Schrei gewesen? Erregt überquerte er die Lichtung. Ein breites, fast trockenes Bachbett kreuzte seinen Weg, mühelos konnte er am Ufer entlanglaufen. Wieder ein Schrei – ja, das war ein Mensch! Gänsehaut lief ihm den Nacken hinab. Endlich erblickte er Licht zwischen den Bäumen: Eine Viehweide lag vor ihm, dahinter ein Kornfeld und jenseits des Feldes die Schindeldächer eines Hofes. Der Pfahlzaun rings herum war höchstens fünf Fuß hoch. Vor dem Tor erkannte Arnulf eine Gruppe Reiter, einige waren abgesessen. Ein riesiger Hund umkreiste sie ohne zu bellen, still wie ein Wolf – das Tier musste zu ihnen gehören. Dann kam ein Kerl mit langem schwarzem Haar aus der Anlage: Er zog eine junge Frau am Strick um den Hals hinter sich her. Sie fing an zu schreien und wehrte sich, bis er ihr ins Gesicht schlug. Selbst auf die Entfernung sah Arnulf ihren Kopf nach links und rechts fliegen. Nach dem dritten Schlag stürzte sie in den Staub. Schon war der Hund über ihr, und für einen Moment sah es aus, als würde er zubeißen. Doch der Schwarzhaarige schob das Tier beiseite, hob die Frau auf wie eine Puppe und warf sie bäuchlings über eines der Pferde.
Die Sachsen waren nicht nach Hause gegangen.
Heiß und kalt durchlief es ihn. Eine Rauchsäule stieg über den Dächern auf, Flammen züngelten die Giebel empor. Arnulf konnte das Gelächter der Männer hören, als sie in die Sättel stiegen und dem unteren Lauf des Baches folgten.
Er schlug einen großen Bogen um das Kornfeld herum. Mit klopfendem Herzen näherte er sich dem Hauptgebäude des Hofes, dessen Dach jetzt lichterloh in Flammen stand. Funken stoben ihm entgegen, landeten auf seinen Schultern. Zwischen den Häusern lag ein totes Schwein, Fliegen krabbelten im geöffneten Mund herum. Dahinter, mit verdrehtem Körper, ein Mann in einer Blutlache. Die rechte Hand umklammerte noch den Griff eines Beils. Durch die offene Haustür konnte er in das Innere sehen – im Eingang hing ein Bogen, zusammen mit einem Pfeilköcher! Er hielt die Luft an, stürzte durch die wabernden Rauchschwaden und riss Bogen und Köcher von den Wandhaken. Eilig lief er durch das Tor nach draußen. Der Weg war übersät mit den Abdrücken von Pferdehufen. Wenn er den Mordbrennern folgte, würden sie ihn irgendwann zur Straße führen …
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Sie durchquerten eine hügelige Landschaft mit lichtem Wald, der von Feldern und kleinen Weiden durchbrochen war. Meist lief der Weg auf den Höhen und an den Hängen entlang, wo sich kein Regenwasser sammeln konnte. Die Hitze der letzten Tage hatte die Wege staubig gemacht, ein ums andere Mal wischte sich Einhard Schweiß und Dreck aus der Stirn. Als sie die Zugochsen brüllen hörten, verringerten die Männer wie von selbst den Abstand auf den Vorausreitenden.
Ein Fuhrwerk war die Straßenböschung hinabgerutscht und lag dreißig Fuß tiefer in einer morastigen Senke. Holzkisten, Stoffbündel und Ballen gegerbter Häute lagen herum. Eines der Tiere schien tot zu sein; drei Männer versuchten, die gesunden Tiere aus dem verdrehten Geschirr zu befreien. Lärmend kreisten Krähen über der Unglücksstelle.
„Gelobt sei Jesus Christus, Euch schickt der Himmel!“
Einer der Fuhrleute schnaufte den Hang hinauf, ein Kerl mit wettergegerbtem Gesicht, der trotz der Wärme eine Filzkapuze trug. Mit heftigen Gesten fing er an, auf sie einzureden. Misstrauisch betrachtete Esiko die Lage des Fuhrwerks, die Hand am Schwertgriff. Prompt drängte sich Boso nach vorne.
„Hilfe in der Not ist Christenpflicht!“, rief er, die Hand wie zum Segen gehoben. Dann erst trat er an den Rand der Böschung und starrte hinab.
„Wie lange würde eine Bergung dauern?“ Einhard bemühte sich, nicht nervös zu klingen.
„Das ist nicht Euer Ernst!?“, schnaubte Esiko, als hätte Einhard etwas vollkommen Idiotisches geäußert. „Wir müssen nach Franconofurt, zum König!“
Der Blick des Offiziers durchbohrte Einhard wie ein Eisennagel. Der Königsbote spürte, wie sich alle Augen auf ihn richteten – und er widerstand der Versuchung, sich mit der Hand über den Bart oder durch das Kopfhaar zu fahren, denn dies würde dem Kriegsmann nur zeigen, wie verunsichert Einhard war. Stattdessen sagte er in beinahe normalem Gesprächston:
„Wir können die Leute nicht ihrem Schicksal überlassen. Helft ihnen, Esiko, so schnell es eben geht!“
„Skizan“, zischte Esiko. „Was für eine beschissene Barmherzigkeit …“ Bevor Einhard auf die Unverschämtheit eingehen konnte, sprang der Offizier aus dem Sattel und eilte zum gestrandeten Wagen hinab.
Nervös sah der Königsbote sich um. Boso hatte Recht: Zu helfen war Christenpflicht! Doch Esikos Protest war genauso berechtigt. Es war Einhards Pflicht gegenüber dem Hof und dem König, so schnell wie möglich Franconofurt zu erreichen und sich nicht unnötig in Gefahr zu begeben … Er seufzte. Sehen, abwägen und entscheiden – der Rest liegt bei Gott. Das waren die Worte seines alten Lehrmeisters, eines Beraters von König Pippin. Er war hochbetagt im Bett gestorben.
„Sachsen! Dahinten!“
Aufgeregt stieß Gero mit dem Bogen in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Zwei oder drei Pfeilschussweiten hinter ihnen mündete ein Hohlweg auf die Straße; ein Pulk von Reitern tauchte dort auf, ausgerüstet mit Helmen, Speeren, Kriegsgerät. Schon kam Esiko atemlos den Hang heraufgeeilt.
„Wie viele?“
„Ein paar Dutzend!“, rief der Bogner aufgeregt. „Das sind die Kerle, die uns an der Furt angegriffen haben!“
„Aufsitzen!“
Sogleich war die gesamte Truppe wieder im Sattel. Nur Boso nicht: Der Priester – eine Hand auf dem Holzkreuz vor der Brust – sah sich um, als wüsste er nicht mehr, wo er war.
„Tristan, hilf ihm aufs Pferd!“, befahl Einhard. „Rasch!“
Eine Gruppe von Reitern hatte sich aus der Sachsenhorde gelöst und hielt auf sie zu, Kriegsrufe ausstoßend. Einhards Magen zog sich zusammen. „Wollt Ihr kämpfen, Esiko?“
Die Kiefermuskeln des Offiziers arbeiteten. „Ich bin dafür verantwortlich, dass Ihr gesund zurückkehrt, verdammt! Wir wagen kein Gefecht!“
Die Sachsen waren nahe genug, um aus dem Sattel die ersten Geschosse in Richtung der Franken fliegen zu lassen – als würden sie streunende Hunde verscheuchen, die dem eigenen Hof zu nahe gekommen sind.
„Wir verschwinden!“, rief Esiko mit rotem Gesicht.
„Gott sei den Kerlen gnädig“, murmelte Einhard und schämte sich einen Augenblick lang seiner Erleichterung, dass sie nicht in einen Kampf verwickelt wurden.
Schon gaben die Scarakrieger ihren Pferden die Sporen. Gellende Schreie der verzweifelten Fuhrleute folgten ihnen. Zurückblicken ließ die Männer der Eskorte erst der Hilferuf Tristans. Einhards Schreiber stolperte in großem Abstand hinter ihnen her – zu Fuß! Sein Pferd machte Bocksprünge. Zwei der Sachsen hatten Tristans Sturz beobachtet und jagten ihre Gäule die Straße hinunter, um sich auf den Nachzügler zu stürzen. Noch wenige Augenblicke, dann würden ihre Speere im Rücken des Jungen stecken …
Einhard spürte einen Stich in der Brust. „Esiko!“
Der Scaraführer brachte seinen Rappen abrupt zum Stehen. Ein Blick auf das Drama genügte ihm. Er schrie seinen Leuten etwas zu und raste in gestrecktem Galopp zurück.
Tristan hatte den Fahrweg verlassen und versuchte, den nahen Waldrand zu erreichen. Esiko hätte Tristan wohl noch vor den Sachsen erreicht, wäre da nicht Boso gewesen. Der Priester hing ebenfalls zurück und war auf halber Höhe zwischen der Eskorte und dem Gestrauchelten. Als Esiko nun quer durchs Buschfeld ritt, das die Straße vom Wald trennte, machte Boso plötzlich einen Schlenker nach rechts – das Pferd des Offiziers prallte fast mit dem Ross des Priesters zusammen, die erschreckten Tiere bäumten sich auf, Staub hing in der Luft.
„Kommt!“ Gero zerrte den Consiliarius am Arm. Hundert Schritt weiter war eine Art Engpass, wo ein paar Felsblöcke und dicke Tannenstämme links und rechts des Weges vorläufigen Schutz boten. Einhards Hände hörten nicht auf zu zittern. Lebte Tristan noch? Vier oder fünf von Esikos Männern waren ihm hinterhergejagt, und ihren Zusammenprall mit den Sachsen hörte man mehr, als dass man ihn sah: Das Knirschen von Metall, das Klirren von Schwert auf Schwert, Schreie und Flüche. Da kam der Priester herbeigeritten mit hochrotem Kopf, der Schädel wie ein glühender Fliegenpilz. Schweiß rann seine Schläfen hinab.
„Wo ist Tristan?“, herrschte Einhard ihn an.
Aber da kam er schon, der Schreiber! Auf einem weißen Pferd, auf dem wenige Augenblicke zuvor noch einer seiner sächsischen Verfolger gesessen hatte. Und vor ihm im Sattel saß ein Unbekannter, höchstens ein oder zwei Jahre älter. Er hielt die Zügel mit beiden Händen, einen Bogen quer über dem Sattel. Grinste er? Nein, aber der breite Mund schien bereit dafür. Verfilzte Haare hingen ihm in die Stirn, und über einer kurzen, kräftigen Nase strahlten Augen, wie sie besonders einfältige oder besonders erleuchtete Menschen mitunter haben.
Für Erklärungen war keine Zeit, denn der Scaraführer kehrte mit seinen Männern im Galopp zurück, vornübergebeugt im Sattel. Tristans Retter war aus dem Sattel gesprungen und lief ihnen entgegen, einen schussfertigen Bogen in den Händen. In schneller Folge schoss Gero, der Bogner, drei Pfeile auf die Verfolger ab. Die Sachsen bremsten ab. Einhard sah ihre wutverzerrten Gesichter: Sie schrien Beleidigungen hinter ihnen her und gaben die Sache auf – beim verunglückten Wagen erwartete sie leichtere Beute!
Esiko führte sie in raschem Trab ein paar Meilen weiter nach Süden. Auf einer lichten Hügelkuppe hielt der ganze Trupp. Von hier war die Straße in beiden Richtungen einzusehen. Einer der Krieger, ein untersetzter Mann mit breitem Schnurrbart, war im Sattel zusammengesunken. Blut sickerte aus einer Wunde unterhalb des Herzens. Es war Ansgar. Einhard kannte den Namen, weil der Krieger ebenfalls vom Oberlauf des Moyns stammte. Seine Kameraden halfen ihm vom Pferd, nahmen den Lederpanzer ab und begannen, die Wunde mit Tuchstreifen zu versorgen.
Tristan war der Schreck noch anzumerken. Ergriffen reichte er seinem Retter die Hand, nannte seinen Namen und auch den Einhards: „Mein Herr dient dem König!“
Der Fremde schien beeindruckt. Offensichtlich hatte er Einiges hinter sich: Sein Gesicht war zerschrammt, die Tunika hatte Risse und Harzflecken, ein Ärmel war regelrecht zerlöchert. Eine Schulternaht war aufgerissen und entblößte muskulöse Haut.
„Ich bin aus dem Adrana-Tal“, sagte er, unsicher von einem zum anderen sehend. „Ich hab’ die Sachsen plündern sehen und bin ihnen gefolgt.“ Er nickte Tristan zu. „Und dann sah ich ihn, dahinter die Reiter … da hab’ ich geschossen.“
„Ohne dich bräuchte der Consiliarius einen neuen Schreiber!“
Esiko war hinzugetreten, mit einem Wolfsblick, die linke Hand an den Halsansatz gepresst; frisches Blut rann klebrig durch seine Finger. Mit der anderen Hand packte er Tristan am Oberarm und beschimpfte ihn wild.
„Lasst ihn!“, rief Einhard scharf. „Es war Pech …“
„Verdammte Trödelei war es! Ansgar dahinten hat ein Loch in der Brust, und ich hatte noch Glück …“ Er nahm die Hand vom Hals, und eine Schnittwunde wurde sichtbar. Schmerzhaft sah das aus.
„Der Priester kam nicht in den Sattel“, sagte Tristan mit feuerroten Wagen. „Und dann wusste er nicht, wohin …“
„Der Priester?“ Durch Esikos Kiefermuskeln lief ein Zittern. Er starrte Boso an, der auf sie zukam. „Der ist ja halbblind …“
„Stimmt“, sagte der Fremde. „Boso kann auf zehn Schritt eine Kuh nicht von einem Pferd unterscheiden.“
„Du kennst ihn?“, fragte Einhard schnell. „Du bist aus Friedeslar?“
„Ja, aber …“ Er wechselte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Plötzlich roch Einhard Gefahr.
„Du bist ein Freier, oder?“
„Ein Vogelfreier ist er!“
Boso hatte Tristan zur Seite geschoben und baute sich mit seinen hageren sechs Fuß Körpergröße vor dessen Retter auf. „Arnulf, du hast schwer gesündigt!“ Er hob die Hand, wie zu einer Ohrfeige, doch der Andere packte ihn blitzschnell am Handgelenk. Einhard zuckte zusammen.
„Ihr seid der Mann, der Thegan niedergestreckt hat?“
„Eben der.“
Herausfordernd funkelte er sie an. Mit Mühe zog Einhard den Eifernden von Arnulf weg. „Hier ist nicht der Ort für ein Gericht, Priester!“
„Ihr müsst ihn festnehmen“, knurrte Boso. „Er ist ein gesuchter Verbrecher. Hauptmann der Scara, tut Eure Pflicht!“
„Verpflichtet bin ich dem König“, entgegnete Esiko kalt. „Erzählt Euren Bauern in Friedeslar vom Himmelreich, mir habt Ihr nichts zu sagen!“
„Seid Ihr sicher?“ Ein hochmütiges Lächeln erschien auf den Zügen des Hitzigen und er straffte seine Schultern. „Ich werde der neue Abt von Fulda sein! Des Königs Kapellan, Bischof Fulrad von Metz selbst wird mich weihen! Und dieser Boden, auf dem Ihr steht, gehört wie Haerulfisfeld auch dem Fuldaer Kloster!“
Esikos Blick suchte Einhard – konnte das sein?
„Noch seid Ihr nicht geweiht“, sagte Einhard trocken. „Tristan, zeig dem Priester sein Pferd.“ Er fuhr sich mit der Hand durch die dünnen Haare. Der Gedanke, dass Boso ihn beim ersten Berater Karls anschwärzte, verursachte ihm Übelkeit. „Ich fürchte, es stimmt, was er sagt“, raunte er mehr zu Esiko als zu Arnulf hin. „Wäre er schon im Amt, dann …“
„Ein Abt … ach, verfluchtes Pfaffenpack!“ Esiko drückte wieder die Hand auf den Hals und knirschte mit den Zähnen. Einhard stählte sich für den Vorwurf, Esiko nicht in die Hintergründe von Bosos Begleitung eingeweiht zu haben. Doch damit hielt sich der Offizier gar nicht auf, er war bereits einen Schritt weiter: „Wenn unser Kahlkopf nicht noch vom Pferd fällt und sich das Genick bricht, gilerito, dann habt Ihr ein Problem!“
„Was Ihr nicht sagt.“ Einhard fischte ein Seidentuch aus einer Tasche seiner Tunika und gab es dem Soldaten, der es mit dankbarem Grunzen auf seine Wunde legte. Beunruhigt blickte Arnulf zwischen ihm und dem Königsboten hin und her.
Einhards Fuß stieß einen Stein beiseite. Fieberhaft überlegte er: Als Priester von Friedeslar stand Boso mit Sicherheit auf gutem Fuße mit Graf Childerich; gleichzeitig musste er Fürsprecher am Hofe haben, vielleicht sogar Fulrad selbst, um Bischof werden zu können. Diese hässliche kleine Sache konnte also zu einer hässlichen großen Sache werden … Einhards Laufbahn bei Hofe, die noch gar nicht richtig angefangen hatte, konnte daran zerbrechen. Alles wegen eines Burschen, der seine Fäuste nicht unter Kontrolle hatte?
Streng sah Einhard den Hessen an. „Wir müssen etwas klären, Arnulf … Hast du irgendeine Entschuldigung für den Übergriff auf den Paladin?“
Das Schnauben erinnerte Einhard an einen jungen Stier. „Thegan und der Baumeister, Notker … die haben uns reingelegt!“
„Was soll das heißen?“ Esikos Tonfall war der, den er gegenüber jungen Soldaten anschlug.
„Ich habe für den Baumeister gearbeitet … Er hat mich und einen Kameraden zu Thegan geschickt. Wir sind mit der Leibwache gegen die Sachsen gezogen, das Tal runter …“
„Wir hörten davon“, sagte Einhard ungeduldig. „Ihr habt sie zurückgeschlagen.“
„Nein!“ Wut und Resignation lagen in diesem Wort. „Die Sachsen haben uns verjagt – und wir Freiwilligen waren die letzten, die gekämpft haben. Wir, und der Blonde dahinten.“ Er nickte in Geros Richtung, der verstohlen zu ihnen hinüberschaute.
„Dann hat Thegan gelogen?“, fragte Esiko unbewegt.
„Thegan hat eine Glasfracht nach Hause gebracht, die die Sachsen erbeuten wollten. Alles andere war ihm egal. Ob wir mit dem Leben davonkamen, das war ihm gleichgültig! Fragt doch Gero! Er wird alles bestätigen!“
„Er wäre dumm, das zu tun“, sagte der Königsbote nüchtern. „Sein Brotherr ist der, den du angegriffen hast. Hast du daran gedacht?“ Arnulfs Augen, die eben noch so kämpferisch geglänzt hatten, wurden unsicher. „Nehmen wir aber an, es war so, wie du sagst – dann wolltest du dich an Thegan rächen?“
Die Knöchel von Arnulfs Faust, die den Bogenstab umklammerte, traten hell hervor. „Ich hab’ die Beherrschung verloren …“
„Wer so kaltblütig im Kampf ist wie du, der verliert nicht einfach die Beherrschung“, warf Esiko ein. Auch Einhard war sicher, noch nicht alles gehört zu haben. „Was hatte Notker mit dem Paladin zu schaffen?“
Arnulf atmete hörbar ein und aus. „Er bekommt Aufträge vom Palas. Und …“
„Und was? Erklär dich endlich!“
„Er hat eine Tochter. Sie wird Thegan heiraten …“ Seine Stimme brach.
Das war es also – eine Frau! Da stand er vor ihnen, und plötzlich wirkte er nur noch wie ein großer, trauriger Junge.
Esiko nahm Einhard beiseite. „Ihr könnt den Burschen nur wegjagen oder gefangen nehmen. Boso wird Childerich und Thegan alles zutragen. Die gehen damit zum König …“
Die Sonne war noch einmal durchgebrochen und hatte alles in goldenes Vorabendlicht getaucht. Einhard sah in den Himmel. Es war keine Frage der Vernunft, und das Abwägen von Argumenten war letztlich belanglos – es ging um Anstand. Um Mut. Würde der Herr ihm ein Zeichen senden? So sehr er es hoffte, so sehr war ihm klar, dass das einfältig war. Plötzlich bereute er, dass er in der letzten Nacht wieder einmal den Allmächtigen verflucht hatte. Hoch über ihnen hoben sich schwarz die Umrisse eines Raubvogels ab: ein Adler. Bei einem königlichen Jagdausflug in der Nähe von Aquisgranum, erinnerte sich Einhard, hatten sie einst lange einem Adler zugeschaut, der einen Auerhahn geschlagen hatte. ‚König der Luft‘ hatte Karl ihn genannt und noch lange von der Majestät und Schönheit des Raubvogels geschwärmt.
Einhard fasste einen Entschluss. Er sah in Esikos Eisennägel-Miene und sprach: „Wir könnten ihn in Haerulfisfeld abliefern und uns wie Pontius Pilatus die Hände in Unschuld waschen“, sagte er.
„Sie werden ihn aufknüpfen“, sagte Esiko beiläufig.
„Aber Arnulf hat Tristan das Leben gerettet, nicht wahr?“ Wortlos nickte der Scaraführer. „Gewiss, er hat eine Riesendummheit begangen, wegen irgendeiner hübschen Gans …“, fügte Einhard hinzu.
Niemals mehr könnte er Tristan anschauen, ohne daran zu denken.
„Also: Wir nehmen ihn mit. Zumindest über die Gaugrenze. Dann muss er sehen, wo er bleibt.“
Esiko nahm das Tuch von der Wunde und betrachtete den Blutfleck im Stoff. „Feige seid Ihr nicht, bei Gott! Die meisten Consiliari würden ihren Schwanz einziehen und den Burschen ans Messer liefern.“
Einhard registrierte das unerwartete Lob ohne äußere Regung. „Wärt Ihr bereit, bei Hofe zu bestätigen, was heute passiert ist? Einschließlich Arnulfs Hilfe für meinen Schreiber?“
„Ich nenne die Dinge beim Namen, das weiß auch der König.“ Er spuckte aus. „Ist eine wilde Gegend hier, was? Der Gaugraf liegt auf seinem Weib, anstatt für Ordnung zu sorgen, und sein Paladin ist ein verlogenes Großmaul. Kein Wunder, dass die von ihren eigenen Leuten verprügelt werden!“
Fast war Einhard jetzt nach Lächeln zumute. Er reichte dem anderen die Hand. „Ich schätze Euch, Esiko. Das solltet Ihr wissen.“ Der Offizier grinste für die Dauer eines Herzschlags, dann drehte er sich abrupt um und brüllte einen Befehl zum Aufsitzen, den man wohl bis Haerulfisfeld hören konnte.