Читать книгу Arnulf. Die Axt der Hessen - Robert Focken - Страница 13

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Kapitel VI

Friedeslar, Juno 772

Die Dämmerung ging in Dunkelheit über, als eine einsame Gestalt sich dem Stadttor näherte. Auf dem Wehrgang entstand Bewegung.

„Wer da?“

Ein Schnauben kam von unten. „Arnulf von Friedeslar. Lasst mich ein.“

„Arnulf wer?“ Räuspern. „Von wo kommt Ihr?“

„Arnulf, der Sohn von Arthur. Ich war mit der Leibwache unterwegs.“

Einer rief, er solle näher ans Tor treten. Ein kräftiges Knirschen erfolgte, als der Querbalken zurückgezogen wurde. Das Tor öffnete sich einen Spalt breit. Arnulf zwängte sich hindurch.

„Gelobt sei Jesus Christus! Alle sagten, die Sachsen hätten dich erschlagen!“ Der Sprecher hatte breite Lippen und eine platte Nase, er war mit Arnulfs Vater befreundet gewesen. „Wie bist du entkommen? Läuft da draußen noch jemand rum?“

Er hatte nicht die Muße, die Fragen der Posten zu beantworten. Kalter Zorn saß wie ein Klumpen in seiner Kehle, und er war froh, dass ihm auf den letzten hundert Schritt zum Palas niemand begegnete. Dass eine Wache vor der Eichentür stand, hatte er in seinem Groll vergessen. Der Mann ließ ihn nicht ein. Ein Königsbote war eingetroffen, hieß es. Da hörte er Notkers Kommandostimme aus einem der ebenerdigen Räume des Palas. Ohne zu zögern schrie Arnulf den Namen seines Brotherrn. Eine Fensterabdeckung aus gespannter Tierhaut wurde zurückgeschoben, Notkers Gesicht erschien und wenige Augenblicke später geleitete ihn der erstaunte Baumeister in einen fünf mal fünf Schritt großen Raum, in dem eine flache Holzkiste auf dem Boden stand. Drei von Notkers Leuten wühlten zwischen Stroh und Fellen runde, durchsichtige Scheiben von der Größe eines Pilzkopfes hervor, die sie vorsichtig in einen Bleirahmen einsetzten.

„Beim Bonifaz, wo kommst du her?“

„Von der Furt. Wir mussten kämpfen … Was ist das? Glas?“

„Ja.“ Der sonst so beherrschte Notker konnte eine gewisse Verlegenheit nicht verbergen. „Es war auf dem Frachtwagen.“

Arnulf sah Notker an, dann wieder die Arbeiter mit den Scheiben, die schön aussahen, wie klares Eis.

„Lothar ist tot. Und Gunther ist tot … Sind sie für diese Scheiben da gestorben, Notker?“

Der Baumeister presste die Lippen zusammen, die Hand ging zum Kinn. „Das konnte ich nicht ahnen …“

„Ist der erste Rahmen endlich fertig?“

Mit festen Schritten hatte eine hochgewachsene, dunkel gekleidete Gestalt den Raum betreten. Flugs wandten sich die Arbeiter wieder der Kiste zu. Thegan und Arnulf starrten einander an wie überraschte, aber kampfbereite Bullen. Der Paladin verstand sofort, dass dieser verdreckte, zerschlissene Kerl nicht zu den Glassetzern gehörte.

„Du warst heute mit dabei, an der Furt?“

„Allerdings.“

Thegan sah Notker an, dann den überraschend lebendigen Freiwilligen; hinter der glatten Stirn arbeitete es. „Bist du verletzt?“

„Nein.“

„Dachte ich mir … Andere Freiwillige kamen hier ohne eine Schramme an, und zwar als erste!“

Arnulfs Blut kochte. „Und wo waren Eure Kämpfer? Ihr seid einfach davongeritten! Ich war der Letzte, der geschossen hat!“

Thegans Rechte ging zum Schwertgriff, und selbst im Dämmerlicht konnte Arnulf ihn erbleichen sehen. „Arswisk, wie kannst du es wagen …“

Ohne Thegan aus den Augen zu lassen, sagte Arnulf, Wort für Wort betonend: „Sie haben Lothar totgeschlagen wie ein Stück Vieh. Warum habt Ihr uns dahingeschickt, Notker?“

„Genug!“

Mit einem scharfen Kommando schickte Thegan die Arbeiter aus dem Raum und machte einen Schritt auf Arnulf zu, eine Zornesfalte über der schmalen Nase. „Du beleidigst mich! Ich müsste dir mein Schwert in den Bauch rammen! Ihr werdet diesen Kerl entlassen, Baumeister! Ich will ihn hier nie wieder sehen.“

„Herr … Ja, Herr.“

Sprachlos musterte Arnulf seinen Brotherrn.

Thegan sog tief Luft ein. „Er weiß, dass er einen großen Bogen um Eure Tochter zu machen hat?“

Noch nie hatte der Holzhauer den Baumeister von Friedeslar rot werden sehen – jetzt war es soweit. „Ich hatte noch keine Zeit, Paladin …“

„Nun, also: Ich werde Hildegard zur Frau nehmen.“ Thegan funkelte Arnulf an. „Lass dich nicht in ihrer Nähe blicken. Und jetzt verschwinde!“

Arnulf versuchte zu verstehen, was Thegan gesagt hatte. „Stimmt das?“

Der Baumeister sah durch Arnulf hindurch. Thegan verschränkte die Arme über der Brust. „Du dachtest im Ernst, die Tochter des Baumeisters heiratet einen Holzknecht?

Da schlug Arnulf zu.

Es war die Faust eines Holzhauers: Hart, schwielig, wuchtig. Der Hieb traf Thegan völlig überraschend, fast wäre er in den Glaskasten gestürzt. Blut strömte aus der Nase und malte dunkle Formen auf die Tunika.

„Ihr seid nicht besser als ich, bei Gott!“, keuchte der Holzhauer und Bogenschütze. Thegan schüttelte den Kopf, fassungslos. Er berührte seine Nase.

„Wache … die Wache!“, gurgelte er.

Der Baumeister lief zur Tür. Arnulf verstand erst jetzt, was er getan hatte: Er musste als erster durch die Tür, oder er würde morgen unter der Femeiche vor dem Palas sein Haupt verlieren! Mit zwei, drei Sprüngen hatte er Notker den Weg abgeschnitten, rammte ihn mit der Schulter zur Seite. Durch die Tür, um eine Ecke, dann waren es nur noch wenige Schritte zum Ausgang. Hinter ihm hörte er Notker nach der Wache rufen, laut und deutlich.

+ + + + +

Es wurde kein ruhiger Schlaf. Das Hämmern in Einhards Kopf ließ nicht nach. Irgendwann bat er Tristan ihm von dem schwarzen Kümmel zu geben, den er für solche Fälle stets im Kräuterbeutel mitführte. Kaum hatte sich sein Schreiber von seinem Lager am Fuß von Einhards Bett aufgerichtet, ertönten heftiges Lärmen und Geschrei im Gang. Zaghaft fragte Tristan, ob das vielleicht die Sachsen seien, die Friedeslar angriffen … Unwirsch befahl ihm Einhard selbst nachzuschauen – sofort. Mit unglaublicher Langsamkeit entzündete der Schreiber eine Harzfackel, entriegelte die Tür und trat vorsichtig hinaus. Ein kühler Luftzug ging durch den Raum, Linderung für die Stirn. Einhard döste eine Weile halb sitzend im Bett, den Rücken an der Wand, als ihn das Geräusch der sich öffnenden Tür hochschreckte.

„Herr, der Paladin!“, rief Tristan sichtbar aufgeregt. „Jemand hat ihn niedergeschlagen!“

Einhard fühlte sich müder denn je. Aber was half es? Er winkte Tristan herbei und forderte ihn auf, sich deutlicher auszudrücken. Tristan kniete vor dem Bett nieder und erzählte mit mühsam gedämpfter Stimme, dass bei Thegans Kriegern, die am selben Tag gegen die Sachsen gekämpft hatten, auch Freiwillige gewesen waren. Einer von ihnen, der schon als tot galt, war spät abends zurückgekehrt: „Er hat Thegan das Gesicht zerhauen!“

Dem hochnäsigen Thegan … „Und warum?“

„Ein paar der Freiwilligen haben ihr Leben gelassen. Einer war ein Freund von diesem Kerl … Arnulf, so heißt er.“ Tristan zwirbelte sein Ziegenbärtchen und sah Einhard an, als rechne er damit, dass sein Herr nun sogleich einen Sinn aus all dem machen würde. Doch Einhard schloss nur erschöpft die Augen.

„Für den Paladin tut es mir leid … nein, eigentlich nicht. Diese Sache geht uns nichts an. Gute Nacht.“

+ + + + +

Arnulf eilte durch dunkle Gassen auf das Haus seiner Mutter zu – aber dort würde man ihn zuerst suchen! Schon in wenigen Augenblicken konnte die Leibwache dort sein. Er hatte nur eine Wahl, wollte er Thegans Rache entkommen: Er musste aus der Stadt fliehen! Das Tor war bewacht. Also über den Wall! Er hastete in östliche Richtung zur Mühle, hinter der ein Aufstieg zum Wehrgang führte. Atemlos drückte er sich an die Rückwand der Mühle, ins Dunkel lauschend: Vom Palas her war das metallische Klirren von Bewaffneten zu hören. Der Schein von einem Dutzend Fackeln bewegte sich den Hügel hinunter.

Etwas Feuchtes, Haariges streifte sein Bein. Er zuckte zusammen und sah in zwei große Hundeaugen. Der Rüde, der seinen Vater einst auf die Jagd begleitet hatte, rieb seine breite Schnauze an Arnulfs Oberschenkel. Erschrocken und erleichtert zugleich strich Arnulf über sein Fell, das längst nicht mehr so voll und glatt war wie früher. In diesem Augenblick vernahm er schlurfende Geräusche auf dem Wehrgang. Keine zwanzig Schritt weiter näherte sich ein Posten. Das Mondlicht war zu schwach, um sein Gesicht zu erkennen – war es möglich, dass er Arnulf nicht sah? Mit beiden Händen drückte er das Maul des Hundes zu. Wenn er nur nicht winselte! Dann, nach endlosen Herzschlägen, bewegte sich der Posten Richtung Haupttor.

Arnulf fuhr noch einmal durch das borstige Fell des Tieres und stieg mit angehaltenem Atem die ausgesägten Stufen eines Baumstammes zum Wehrgang hinauf. Da zerriss das Bellen des Rüden die Stille. Arnulf versuchte krampfhaft, den Boden auf der anderen Seite des Walls zu erkennen – waren dort Löcher?

„He da, stehenbleiben!“

Er sprang ins Dunkel.

Der Aufprall war hart. Er rappelte sich auf und lief los, so schnell er konnte. Nach Norden, wo eine halbe Meile entfernt die Umrisse mächtiger Buchen Schutz verhießen. Ein Waldkauz rief, schien den Kreaturen der Nacht anzukündigen, dass hier ein Flüchtling aus Friedeslar kam: ein Menschenkind, verzweifelt genug, um im Wald Schutz zu suchen. Dorthin würden sie ihm nicht folgen, nicht in der Dunkelheit! Der Herrgott war angeblich selbst im düstersten Forst – aber eben nicht nur er. Da waren auch andere Wesen, Geschöpfe der Finsternis. Niemand bei Verstand wollte sie freiwillig kennenlernen …

Mit klammem Herzen lief er am Waldsaum entlang, eine Hand an Hildes Amulett. Schließlich erreichte er den Hexenstein: ein etwa fünf Fuß hoher Felsblock mit einer Schräge auf der dem Tal zugewandten Seite. Erschöpft kauerte er sich nieder und legte die Stirn an den kühlen Fels.

Noch letzte Woche hatten sie abends hier zusammen gesessen. Er erinnerte sich an den Geschmack von Hildes Lippen … Sie hatte erzählt, dass bei Vollmond Frauen zu dem Stein kamen, die nicht schwanger wurden. Rutschte man dreimal hintereinander die Schräge hinunter und sprach einen alten Spruch, dann kam neun Monate später ein Kind.

Warum nur hatte er sich darauf eingelassen, mit Childerichs Männern loszuziehen? Seine Mutter würde sich nicht nur fürchterliche Sorgen machen: Thegan konnte sich jederzeit an ihr rächen! Ihm war alles zuzutrauen. Und Arnulf konnte sehen, wie Dietmar sich bekreuzigte, die Hände rang und murmeln würde: Dieser Bursche, ich hab’ es ja immer gesagt …

Zorn stieg in ihm auf, als er an Notker dachte. Er war ihm mehr als ein Brotherr gewesen – wie einen Vater hatte Arnulf ihn in den letzten Jahren empfunden. Streng, aber gerecht hatte er Arnulf behandelt, mit einem versteckten Wohlwollen. Sogar mit seiner Tochter hatte er Arnulf anbandeln lassen. Dieser Mann hatte ihn verraten! Arnulfs Blick ging nach oben, klammerte sich an die blasse Scheibe des Mondes, die von Wolken fast verdeckt war. In der Ferne erklang ein langgezogenes Heulen: Wölfe.

„Herr Jesus, verlass mich nicht …“

Fröstelnd richtete er sich auf, die Arme um den Oberkörper geschlungen. Konnte er sich bis zum Bruder nach Haerulfisfeld durchschlagen? Der wäre entsetzt, die Geschichte zu hören. Aber sie waren Brüder! Konrad würde ihn erst einmal verstecken, davon war Arnulf überzeugt. Von Haerulfisfeld war es nur ein Steinwurf bis zum Gau Wetereiba im Süden, wo Childerichs Wort keine unmittelbare Macht mehr hatte … Auf der Straße waren es zwei Tagesmärsche. Straßen aber musste er meiden! Hielt er sich an den Waldsaum und umging Wegkreuzungen, konnte er es in drei Tagen schaffen.

Es sei denn, er lief den Sachsen in die Arme.

Arnulf. Die Axt der Hessen

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