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Kapitel V

Friedeslar, Juno 772

Warum musste es ausgerechnet heute so heiß sein?

Einhards Gedanken kreisten um eine Kanne mit kühlem Wasser, als er sich schließlich mit der drei Dutzend Mann starken Eskorte dem Stadttor von Friedeslar näherte. Er zügelte sein Pferd und schirmte die Augen mit einer Hand gegen die Sonne ab. Auf der Hügelkuppe westlich der Stadt ragte eine alte Steinfestung auf, die Büraburg. Ihre Mauern, wusste Einhard, hatten manchen Sachsensturm überstanden und einst dem großen Bonifatius selbst als Herberge gedient.

„Könnt Ihr da oben jemand erkennen, Esiko?“

Der Offizier kniff die Augen zusammen. „Vielleicht zwei oder drei Mann.“

„Mehr nicht?“ Einhard schüttelte den Kopf. „Fühlen sie sich so sicher?“

„Die sind einfach faul“, knurrte Esiko und kratzte sich mit dem Stumpf des linken Zeigefingers am Kinn. Es sah unheimlich aus, als bohre sich der Finger in den Kiefer. „Ihr werdet dem Gaugrafen einen guten Arschtritt geben, ich spür’s!“

„Sicher nicht“, sagte Einhard nüchtern und fing einen herausfordernd-angriffslustigen Blick des Offiziers auf, ganz so, als hätte Einhard ihm ein Leid getan. Aber Esiko guckte oft so, hatte der Consiliarius festgestellt. „Mit Tritten, Hauptmann, treibt man vielleicht Soldaten in den Kampf, aber man gewinnt nicht die Fürsten für sich. Oder besser gesagt, für den König.“

Esiko zuckte grinsend die Achseln. „Wisst Ihr, wie ich mir den Himmel vorstelle? Weiche Wolken, in denen lauter liebe Menschen wie Ihr sitzen!“

Einhard zog es vor, nichts auf diese Respektlosigkeit zu entgegnen.

Königsbote – das Wort lief ihnen voraus wie die Bugwelle einem Schiff. Die Stadt quoll über von Menschen: Halbnackte Kinder liefen um ihre Pferde, und überall folgten ihnen die Blicke von Männern und Frauen, die vor den Häusern und auf dem Brunnenplatz zusammenstanden. An der Innenseite des Stadtwalls waren Flüchtlingsunterkünfte errichtet, primitive Verschläge aus Zeltbahnen und einigen Stangen, zwischen denen Schafe und Ziegen herumliefen.

Schließlich erreichten sie die Kuppe der Anhöhe mit dem durchaus imposanten, zweistöckigen Palas aus Stein. Vor dem Eingang hieß sie ein hagerer Mann mit erdfarbener, knöchellanger Kutte willkommen, dessen kahler Kopf wie ein polierter Rundstein glänzte. Ein Kreuz aus Eisenblech vor der Brust wies ihn als Geistlichen aus.

„Mein Name ist Boso. Willkommen im christlichen Hessengau, Consiliarius!“ Wimpernlose Augen hefteten sich auf Einhard und schienen ihm bis in die Seele zu schauen.

„Gott mit Euch, Priester. Wo finden wir den Gaugrafen?“

„Childerich ruht, er wird Euch bei Zeiten begrüßen.“

Esiko machte ein Geräusch, als huste er eine Fliege aus. Ja, es klang lächerlich, aber es war Einhard recht: Er lechzte nach einer Erholung. Ein Bediensteter führte sie in eine kühle Stube im Erdgeschoss, wo der Königsbote seine Glieder auf einem erstaunlich weichen Bett ausstreckte. Esiko machte sich unterdessen mit ein paar Scarakriegern zur Büraburg auf, um dort die Verteidigungsvorbereitungen zu prüfen.

Irgendwann am späten Nachmittag klopfte es an der Tür. Gleich darauf stand der Priester im Raum. „Verzeiht die Störung, Consiliarius. Darf ich Euch in einer persönlichen Sache sprechen?“

„Ihr sprecht bereits“, bemerkte Einhard trocken. Bosos Stimme war zu laut, um angenehm zu sein. Sie hatte etwas Harsches, das irgendwie zu dem starren Blick passte. „Also?“

„Ihr kommt vom Königshof, nicht wahr? Habt Ihr einen Brief vom Hofkapellan für mich?“

Einhards Blick streifte die Tasche aus Wachstuch am Fuß des Bettes, in der tatsächlich eine Sendung an Boso steckte. Doch irgendetwas ließ ihn zaudern.

„Weshalb sollte der Hof einem Priester in der Grenzmark einen Brief schicken?“

Der Geistliche legte eine Hand auf sein Eisenkreuz und ein Lächeln ging über seine Züge. „Der Herr ist mir erschienen, im Traum … die Apostelkirche des Bonifatius in Fulda hat keinen Hirten mehr, seitdem Abt Sturmius nach Jumieges verbannt wurde. Das darf nicht von Dauer sein!“ Boso bekreuzigte sich, als müsste er seinen persönlichen Ehrgeiz tarnen.

Einhard stand vom Lager auf und strich seine Tunika glatt. Boso wollte Abt von Fulda werden! Hatte er Verbündete bei Hofe …? „Helft meiner Erinnerung, Boso: Warum hatte der König Sturmi abgelöst? Ich hatte von ihm und dem ganzen Kloster nur Gutes gehört!“

Der Priester knetete seine knochigen Hände und starrte durch Einhard hindurch. „Bischof Fulrad, der Hofkapellan, hat mir noch an Weihnachten Hoffnung gemacht, dass der Hof eine gerechte Wahl treffen wird.“

Einhard war überrascht, dass der Geistliche seine Frage nicht beantwortete; dieser Mann war ihm nicht geheuer. „Warum war Sturmi damals abgesetzt worden? Er war der größte Schüler des Bonifatius!“

„Am Ende hielt er sich wohl für Bonifatius selbst …“, antwortete Boso mit etwas weniger lauter Stimme, in der nun Häme durchklang. „Er hat den Erzbischof Lul von Moguntia und damit die ganze Kirche herausgefordert, nicht wahr? Er wollte sich Lul nicht beugen. Er beharrte auf seiner Eigenständigkeit in Fulda und gebärdete sich wie …“

„Die Abtei Fulda ist eigenständig“, sagte Einhard mit plötzlicher Schärfe. Die verzerrte Darstellung und die Scheinheiligkeit Bosos ärgerten ihn. Natürlich kannte er den Hintergrund: Der Machtmensch Lul hatte nach Bonifatius’ Tod dessen gesamtes Missionsgebiet an sich gerissen und dem Bistum Moguntia unterstellt. Nur Sturmi in Fulda – ein Mann, der das Edelste des Christentums in sich trug – hatte ihm nicht weichen wollen. Intrigen des Erzbischofs sorgten schließlich für Sturmis Entmachtung und Verbannung. Und niemand anderes als der Hofkapellan Fulrad von Metz, der mit Lul verwandt war, hatte an dieser Intrige mitgewirkt – und ihr am Ende zum Durchbruch verholfen.

Einhard merkte, dass ihm Blut in die Wangen geschossen war. Aber er durfte sich hier nicht zu sehr mit diesem Manne einlassen, daraus konnte nichts Gutes entspringen. Ruhig fuhr er fort: „Ohne Zweifel wird der König bei Zeiten eine weise Entscheidung treffen. Der König, wohlgemerkt! Auch wenn Bischof Fulrad gerne so tut, als hätte er selbst die Krone auf.“

„Ich vertraue auf die Weisheit des Herrschers“, brachte Boso krächzend hervor, als sei er ein fremder Fürst aus dem Morgenland.

„Wenn ich’s recht überlege: Der König sprach mit mir über Fulda.“

„Also doch!?“ Bosos Augen bekamen einen leichten Glanz.

„Tja …“ Einhard strich sich über den Bart. „Wie viel Mann wird Childerich für den Heerbann abstellen?“

„Was hat das mit dem Abtstuhl zu tun?“

„Viel“, log Einhard. „Wann gedenkt Childerich, uns zu empfangen?“

Bevor Boso antworten konnte, hörten sie eine weibliche Stimme, irgendwo von oben, aus Richtung des Schlafgemachs Childerichs. Der nur schwach hörbare Laut wiederholte sich. Das Gesicht des Priesters nahm noch mehr Farbe an.

„Er ist jetzt bald fertig, oder?“, sagte Einhard, ohne den anderen anzusehen. „Das trifft sich gut, wir haben nämlich Hunger.“

+ + + + +

„Zurück!“, schrie Rudolf. Sie drängten, stolperten die Böschung entlang zu ein paar Weiden, die weiter flussaufwärts auf Höhe der Insel standen. Ein halbes Dutzend Gestalten am Waldrand schickte ihnen Pfeil um Pfeil hinterher. Die Geschosse schlugen vor ihnen und neben ihnen ein, bohrten sich in die Baumstämme und zischten vorbei, um weit hinten im Wasser zu landen.

„Wir müssen weg!“, keuchte Lothar und riss Arnulf am Arm. „Zu den Pferden!“

Arnulf stieß Lothars Hand zurück. „Nimm deinen Bogen, Mann!“

Er selbst fingerte endlich einen Pfeil aus dem Köcher, brachte ihn auf die Sehne und schoss. Harmlos verschwand er zwischen den Farnkräutern – zu hoch! Der nächste Pfeil zwang einen der Sachsen in Deckung, immerhin. Aber sie selbst waren weiterhin Ziele: Rudolf krümmte sich mit einem Schmerzensschrei zusammen, ein weiß befiederter Sachsenpfeil hatte die Schulter des Waffenmeisters durchbohrt.

„Achtung, Reiter!“

Geros Bogensehne erzeugte ein hartes Klatschen, als sein Geschoss in Richtung der Straße davonschwirrte. Arnulf sah ein sich aufbäumendes Pferd, das den Reiter abwarf. Eine ganze Horde preschte nun heran, direkt auf sie zu: Männer mit bärtigen Gesichtern und fliegenden Haaren, die wilde Kriegsschreie ausstießen. Die Bogenschützen hatten ihnen lediglich den Weg gebahnt: Umso schneller würden sie nun die kleine Schar der Hessen in den Boden reiten …

Der Anführer, ein brüllender Kerl mit einem Wurfspeer, war auf zehn Schritt herangekommen. Noch während der Speer in der Luft war, ließ Arnulf die Sehne los – und sah die Pfeilspitze im Oberschenkel des Angreifers steckenbleiben. Hastig griff er abermals in den Köcher, da stieß ein mutiger Mann der Leibwache den Sachsen mit einer Lanze aus dem Sattel. Arnulfs Herz hämmerte, schon wieder hatte er die Sehne bis zur Wange zurückgezogen, als er Lothars Hilferuf hörte.

Arnulfs Kamerad starrte fassungslos auf ein Loch in der Tunika, über dem Gürtel trat Blut hervor. „Lauf zu den Pferden!“, schrie Arnulf, doch Lothar war wie gelähmt.

„Schießt!“, bellte Gero. „Schneller!“ Tatsächlich lenkten einige Sachsen nun ihre Pferde rechts von ihnen ins seichte Wasser, um von mehreren Seiten anzugreifen. Dann ertönte ein tiefer Hornstoß.

Schreie und der Lärm von Pferden drangen vom anderen Ufer herüber. Reiter donnerten durch den Fluss, Thegan an der Spitze. Dahinter polterte ein schwerer Wagen ins Wasser, wie wahnsinnig peitschte der Fuhrmann auf die Pferde ein. Der Transport! Die Sachsen ließen prompt von den Bogenschützen ab und stürzten sich auf den Wagen. Arnulf sah den Paladin mit wuchtigem Schwertstreich einen Krieger vom Pferd hauen, einem anderen die Hand abschlagen. Das alles spielte sich nur zwanzig, dreißig Schritt von den Bognern entfernt im flachen Wasser ab.

Für einen Augenblick hatten Arnulf und Gero leichte Beute: Sie zielten auf die Pferde der Sachsen, vorbeischießen war nicht möglich. Arnulf traf einen Falben in den Hals, die Vorderläufe knickten ein, der Reiter landete im Wasser. Kaltblütig schoss Gero einen Sachsen vom Wagen, der mit einem Kurzschwert über den Fuhrmann herfallen wollte.

„Sie hauen ab“, grunzte Gero. Arnulf hörte ihn, ohne ihn zu verstehen. Tatsächlich fuhr der Wagenlenker schräg durch die Furt, passierte die Flussmitte knapp unterhalb der Insel mit dem Skelett: Thegan und seine Männer wichen den von rechts andrängenden Angreifern aus. Sie hatten die Fracht und scheuten nun das Gefecht. Arnulf ließ einen weiteren Pfeil fliegen, das getroffene Pferd ging durch und schleifte den Reiter im Steigbügel durchs Wasser.

Und plötzlich stand er allein zwischen den Weiden; Gero rief ihm etwas zu, der agile Bogner hat schon die Haselnusssträucher erreicht, wo sie Stunden zuvor die Pferde angebunden hatten. Wie Wachs im Feuer schmolz die Zeit, sich selbst zu retten! Denn die Sachsen setzten den Fliehenden nach. Und zwischen ihnen und dem davondonnernden Wagen stand ein Bogner, der eben den elften Pfeil verschossen hatte.

Flüchten – aber wie?

Ein Kerl mit Helm und Kettenhemd kam in diesem Augenblick die Böschung hinauf, die Schwertspitze voraus; Arnulf sah die gelben Zahnstümpfe im geöffneten Mund. Ohne zu zielen, riss er die Sehne nach hinten und jagte ihm einen Pfeil in den Leib. Dann rannte er mit Riesenschritten zu den Haselnusssträuchern. Gero war im Sattel, aber wo war sein eigener Gaul? Verschwunden, losgerissen in der Panik! Lothar hing mit beiden Händen am Sattelknauf, einen Fuß im Steigbügel. Das Pferd bockte und zerrte ihn zum Wasser. Dann krachte er mit einem gurgelnden Schrei zu Boden – der Stiel einer Wurfaxt ragte aus Lothars Rücken. Schon eilte der Werfer herbei, ein schlanker Kerl mit Lederpanzer, der die Axt aus dem Körper hebelte und sie auf Lothars Schädel niedersausen ließ – ein dumpfes Knacken ertönte.

Der Holzhauer – der Mann, der mit dem Bogen umgehen konnte – raste voll Todesangst die Straße entlang, den anderen hinterher. Hörte die Rufe der Sachsen, ihre tiefen, ungewohnten Laute; ein Pfeil zischte an seinem Ohr vorbei. Rechts tauchte ein halbtrockenes Bachbett auf, mit Angst im Nacken rannte er hinein. Büsche, Bäume gaben ersten Sichtschutz. Doch erst als er das Halbdunkel des Waldes erreicht hatte, lief er langsamer. Irgendwann sank er atemlos auf einem Flecken Moos am Waldboden nieder.

Er schien abermals das Geräusch der Axtklinge zu hören. Sein Magen zog sich zusammen. Thegan und die Kämpfer mit Panzer und Helm hatten sich in Sicherheit gebracht. Die Freiwilligen, die Bogenschützen aber hatten dafür gezahlt. Ein Erkundungsritt, hatte es geheißen. Bogner, die von hinten schießen, wenn überhaupt …

Notker! Der Baumeister hatte sie mehr oder weniger zu diesem Abenteuer überredet! In die Wut mischte sich Fassungslosigkeit. Hätte er wissen können, dass Thegan die Freiwilligen wie ein paar Hunde opfern würde?

Arnulf sah in das Blau des Himmels hinauf. Weiße, wattige Wolken hatten sich gebildet. „Milchschaum“ nannte Hilde solche Gebilde. Er fingerte nach dem Amulett und verspürte ein übermächtiges Verlangen, sie an sich zu drücken und ihre Stimme zu hören.

Was war auf dem verfluchten Wagen?

+ + + + +

Am Abend ließ sie der gräfliche Paladin Thegan in der großen Halle mit verschiedenen Sorten Fleisch, frischem Brot und Wein bewirten. Am unteren Ende der Tafel fanden die engeren Gefolgsleute des Gaugrafen Platz, und auch Boso, der Priester, ließ sich mit einer gewissen Verspätung zwischen ihnen nieder. Zur Rechten Einhards saß Esiko. „Wo ist der Graf, Consiliarius?“

„Beim Zwiegespräch mit dem Allmächtigen“, murmelte Einhard. Er versuchte, ruhig zu bleiben: Niemand anderes als der König selbst hatte ihm bedeutet, pfleglich mit dem Hessen umzugehen: „Schmeichelt ihm, wenn nötig! Wir brauchen für den Feldzug unbedingt stabile Verhältnisse an der Grenze!“

Mit einem Ohr lauschte er auf die Melodie eines Lautenspielers, die vom Schmatzen der Männer fast übertönt wurde; mit dem anderen nahm er eine wilde Geschichte von Thegan auf, der Stunden zuvor einen Sieg gegen sächsische Streiftruppen talabwärts errungen hatte. Der selbstherrliche Paladin war ihm unangenehm, vielleicht, weil er anderthalb Kopf größer und fünfzig Pfund schwerer als der magere Königsbote war; Einhard ahnte, dass Thegan ihn für einen Pergamentfresser ohne Mark in den Knochen hielt.

„Seht Ihr die Axt dort, Consiliarius?“ Er zeigte auf die Querwand des Raums, wo zwischen Bärenfellen und Auerochsen-Gehörn eine Axt mit breiter Klinge hing. „Das Beil des Bonifatius!“

Frech vermeldete der darbende Tristan von hinten, dass die echte Bonifatiusaxt in der Kirche in Kolna hänge. Es war das Schicksal des Schreibers, nahe seinem Herrn sein zu müssen, ohne vom Tisch essen zu dürfen.

„Dort, und in Fulda, und in Moguntia …“, knurrte Einhard, ohne den Kopf zu drehen.

Endlich erschien Childerich. Graue Strähnen durchzogen den Bart des Gaugrafen; Tränensäcke unter den Augen ließen ihn aufgedunsen erscheinen, doch seine Augen wirkten lebendig. An seiner Seite war Mildred, seine Frau. Sie schien deutlich jünger als er und musterte die Besucher mit warmen Augen, aus denen kaum gezügelte Sinnlichkeit sprach. Der Ausschnitt ihres Kleides war weit, ein schmaler, mit Perlen und Steinen verzierter Gürtel betonte ihre Hüfte. Immer wieder kam ihre Hand auf Childerichs Arm zu liegen. Einhard spürte einen Stich tief im Innern – seine Frau wäre heute nur wenige Jahre älter.

„Aus welcher Familie stammt sie?“, raunte er seinem Schreiber über die Schulter zu.

„Aus dem Geschlecht der Widonen. Ihr Vetter ist der Bischof von Moguntia.“ Triumphierend leuchteten seine Augen unter den Zottelsträhnen.

„Gut, mein Junge.“ Einhard drückte ihm mit fettigen Fingern ein halbes Huhn in die Hand, er hatte es sich verdient.

„Auf Karl, den König der Franken! Gott segne seine Waffen!“ Childerich hatte sich mit einem Becher in der Hand erhoben und brachte donnernde Trinksprüche aus. Sein Gast stand ebenfalls auf und antwortete mit einem Trinkspruch auf die schlachterprobten Hessen und ihren mächtigen Gaugrafen.

„König Karl hält große Stücke auf Eure Krieger, Graf Childerich. Kaum ein Gau hat bessere Streiter als Ihr!“

„Wir wissen uns zu wehren, lieber Einhard!“, posaunte der Gaufürst. „Meine Männer haben heute sächsische Truppen zurückgeschlagen und ihnen Beute entrissen …“ Anerkennend ruhte sein Blick auf dem Paladin zu seiner Rechten. „Nicht nur die Gebiete am Rinah werden angegriffen!“

„Es ist gut für das Reich, dass Ihr die Grenzmark schützt“, nickte Einhard. „Allerdings ist die alte Feste auf dem Hügel leer bis auf ein paar Wachen. Was ist, wenn ein Sachsenführer hier mit tausend Mann auftaucht statt mit fünfzig?“

Childerich zwinkerte, als überraschte ihn die Frage; vielleicht war es auch nur die Zahl fünfzig, hatte Thegan doch von hundert und mehr Sachsenkriegern gesprochen. „Consiliarius, wir können Euch hier unten eine bessere Unterkunft bieten. Glaubt mir, binnen eines Tages können wir mit allen, die es wert sind, die Büraburg beziehen.“ Er nickte nachlässig mit dem Kopf in Richtung des Hügels. „Es wäre nicht das erste Mal.“

Zu Einhards Überraschung erhob nun Mildred die Stimme: „Wenn Ihr zwei Tage später gekommen wärt, Einhard, hättet Ihr in einer Kammer mit Glasfenster übernachten können!“

„Glasfenster! Wie in Aquisgranum, im Palas des Königs?!“ Einhard hatte Mühe, sich zu beherrschen. Mildred und Childerich teilten nicht nur nachts, sondern auch tagsüber das Lager. Und das war zweifellos im Palas gemütlicher als in der primitiven Fluchtburg … Plötzlich merkte er, dass ihm die Sonne zugesetzt hatte. Die Rückenschmerzen hatten aufgehört, doch ein immer stärker werdender Druck ging von der Mitte des Schädels aus. Umso froher war er, als sich Mildred entschuldigte, Unwohlsein vorschützend. Auf Childerichs Zeichen erhoben sich auch seine Gefolgsleute am unteren Ende der Tafel, nur der Priester und Thegan blieben sitzen. Das Tauziehen begann.

„Zweihundertfünfzig Reiter und fünfhundert Mann zu Fuß“, nannte Einhard ohne weitere Umschweife. „Genauso viel wie der Bischof von Moguntia versprochen hat, Euer Verwandter!“ Tatsächlich hatte der weniger zugesagt, doch mit der kleinen Unwahrheit konnte Einhard leben.

„Wir brauchen allein zweihundert Mann, um die Mauern der Burg zu verteidigen“, sagte Thegan, als sei das ein Gesetz.

„Greift auf die Flüchtlinge in der Stadt zurück“, entgegnete der Königsbote trocken. Er nahm einen Schluck Wasser, ohne Childerich aus den Augen zu lassen. In den Schläfen war nun das Pochen, das schwere Kopfschmerzen ankündigte. Doch er durfte sich nichts anmerken lassen, nicht jetzt.

„Bald beginnt die Ernte“, brummte der Gaugraf und klaubte sich Fleischfasern und Fett aus dem Bart. „Wenn die Bauern Kriegsdienst leisten, können sie nicht alles einbringen. Wie sollen wir durch den Winter kommen?“

„Schlimmstenfalls werden wir das Korn auf den Feldern der Sachsen ernten. Wir haben Krieg! Hauptmann Esiko hier ist Offizier der Scara. Er ist mit der Feldzugsplanung vertraut. Hört ihn an!“ Esiko stand auf. Seine tiefe, kräftige Stimme hätte Steine bewegen können. Laut rezitierte er die vom Kronrat festgesetzten Größen an Schwerbewaffneten, Speerträgern, Bogenschützen, an Proviant, Zelten und zusätzlichen Waffen.

Stille entstand, als er fertig war. Die Spielmänner waren längst verschwunden; auf der Tafel lagen kreuz und quer die Knochen und Gräten des Mahls, vermengt mit Brotresten. Schweigend holte Childerich mit einem Holzspan Essensreste unter seinen Fingernägeln hervor, während Esiko sprach. Zwei- oder dreimal rülpste er leise, dann ging ein Zittern durch den mächtigen Körper. Schließlich verschränkte er die Arme über der Brust und fragte in Einhards Richtung, wo er all die genannten Waffen hernehmen sollte: Die wenigsten der Heerbannpflichtigen besaßen Schild und Schwert! Düster nickte Thegan dazu.

Eine Schmerzwelle zwang Einhard, die Augen zu schließen. Esiko räusperte sich. „Die Gaufürsten stellen aus ihren Mitteln sicher, dass die Krieger ausreichend bewaffnet sind!“ Mit der Kriegsbeute, fügte Einhard angestrengt hinzu, werde sie der König entschädigen. Das verursachte ein verächtliches Schnauben des Gaugrafen: „Woher wissen wir denn, ob es Beute geben wird? Und in welchem Verhältnis wird sie geteilt?“

Esiko kratzte sich mit dem halben Finger am Hals, wie er es häufig tat, wenn er nachdachte. Nur gab es auf die Frage keine Antwort, wusste Einhard. Allein die Frage zu stellen, war eine Dreistigkeit, wenn auch eine geschickte. „Ihr zweifelt daran, dass unser von Gott gesalbter König die Sachsen niederwerfen wird? Bei Pippins Schwert, seid Ihr nicht Gefolgsleute des Königs?“

„Einhard, hört mir zu …“ Childerich war rot angelaufen.

„Nein!“ Einhard stand auf. Erschöpfung und Schmerz ließen seine Geduld ersterben. „Im Namen des Herrn, verschleudert Euer Silber nicht für unnütze Glaspracht! Umso leichter könnt Ihr Schwerter und Speere für Eure Krieger fertigen lassen! Eure Frau wird Euch darum nicht seltener lieben, Graf!“

„Ihr geht zu weit!“ Childerich war ebenfalls aufgesprungen.

Einhard stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab. Alles lief aus dem Ruder … Aber er konnte nicht mehr. „Entscheidet jetzt, Graf. Morgen sehen die Dinge nicht anders aus als heute! Der Bann marschiert in der ersten Woche des Heumondes2 im Loganagau auf, vor der großen Festung über dem Amanafluss.“

„In vier Wochen?“ Wiederum gestikulierte Childerich.

„Oh ja! Boso, auf ein Wort!“ Einhard nahm den Priester beiseite, der den Schlagabtausch ohne sichtbare Gefühlsregung verfolgt hatte. Seine Kutte war unbefleckt von Essen und Trank. „Sprecht mit Childerich unter vier Augen. Betet mit ihm! Und ich sorge dafür, dass Ihr Abt werdet!“

Boso bekreuzigte sich, als hätte Einhard ein Verbrechen vorgeschlagen. „Habt Ihr denn mehr Einfluss als der Hofkapellan?“

„Auch Fulrad ist nur ein Werkzeug Gottes, nicht wahr? Also, tut, was ich Euch sage! Morgen früh erwarte ich eine Truppenzusage!“ Erschöpft wankte Einhard in seine Schlafkammer und sank auf dem Lager nieder.

2 Monat Juli

Arnulf. Die Axt der Hessen

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