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Kapitel 1

Hana sang leise vor sich hin, während sie die Vertragsdokumente in verschiedene Ordner sortierte. Jemand hatte den Raum betreten, das spürte sie und wandte sich um. In der Tür stand Janet Dean, die Assistentin, die für Hana und zwei weitere Teilhaber der Kanzlei arbeitete.

»Du singst wie ein Engel. Wie oft habe ich dir das schon gesagt?«, fragte Janet.

»Sehr oft.« Hana lächelte. »Und es beschämt und ermutigt mich jedes Mal aufs Neue.«

»War das Arabisch oder Hebräisch? Nein, lass mich raten. Sing noch ein paar Worte.«

Hana sang die nächste Zeile ihres Liedes, diesmal etwas lauter, dann brach sie ab.

»Hebräisch«, sagte Janet mit Nachdruck. »Ich weiß es, weil du diesen Kehllaut gemacht hast. Selbst der klingt wundervoll.«

»Arabisch«, entgegnete Hana. »Aber mach dir nichts draus. Die Sprachen sind sich schon ähnlich.«

»Ich rate weiter, wenn du weitersingst«, gab Janet zurück. »In der Zwischenzeit kannst du dein Hirn und deine Stimme in den Konferenzraum A bewegen. Mr Lowenstein möchte dich sprechen.«

»In zehn Minuten habe ich ein Meeting mit Mr Collins und seinem Team.«

»Wo du aber nur zuhören wirst. Gladys Applewhite sagt, es sei wichtig. Ich kümmere mich um Mr Collins.«

»Okay. Wer ist noch im Konferenzraum A?«

»Du, Mr Lowenstein und ein Anwalt namens Jakob Brodsky. Ich kann dir nicht sagen, warum er möchte, dass du mir nichts, dir nichts zur Stelle sein sollst.«

Janet redete schon weiter. »Gladys sagt, Brodsky möchte die Kanzlei für irgendeinen internationalen Fall gewinnen. Es geht wohl um Körperverletzung.«

»Körperverletzung?«, hakte Hana nach. »Ist ein Schiff gesunken und es gab Personenschäden?«

Leon Lowensteins Kanzlei war auf internationales Seefahrtsrecht spezialisiert und hatte häufig mit Versicherungsfällen zu tun, in denen es um Millionensummen ging, wenn eine Fracht verloren ging oder an einem Schiff ein Schaden entstand.

»Mehr hat sie nicht gesagt«, antwortete Janet. Sie senkte die Stimme. »Für mich klang es eher nach Piraterie. Wäre ja auch cool, solange niemand getötet wurde oder so. Sie wollen ein Video zeigen, und Mr Lowenstein möchte, dass du es mit ansiehst. Beeil dich. Und keine Sorge wegen Mr Collins.«

Die Vorstellung, es könnte sich bei dem Fall um Piraterie handeln, war keineswegs abwegig. Kurz nachdem Hana in die Firma eingetreten war, hatte Lowenstein schon einmal damit zu tun gehabt – damals ging es um Schadensersatzansprüche aus einem Piratenüberfall vor der Küste von Somalia. Hana strich rasch den dunkelgrauen Rock glatt und zog die weiße Bluse zurecht. Sie war schlank bei einer Größe von einem Meter siebzig und mit ihrem langen schwarzen Haar, der leicht bräunlichen Haut und den dunkelbraunen Augen eine attraktive Frau.

Die Außenwand des Konferenzraums A bildete eine Fensterfront, die einen Panoramablick auf den wohlhabenden Stadtteil Buckhead im Norden von Atlanta freigab. Ein langer Glastisch stand in der Mitte des Raums.

Leon Lowenstein, untersetzt und grauhaarig, stand vor dem großen Bildschirm, der an der Wand befestigt war. Neben ihm erblickte Hana einen groß gewachsenen jungen Mann mit kurzen schwarzen Locken in einem schmal geschnittenen Anzug im europäischen Stil mit gelber Krawatte. Lowenstein begrüßte Hana mit einem Lächeln, als sie eintrat.

»Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten«, sagte er. »Das ist Jakob Brodsky. Er ist Anwalt für Schadensersatz- und Haftungsrecht und spezialisiert auf Personenschäden.

»Nennen Sie mich Jakob.« Der junge Anwalt streckte Hana die Hand entgegen.

»Hana Abboud.«

»Sie sind Israelin?«, erkundigte sich Jakob mit einem fragenden Blick auf Lowenstein.

»Aber keine Jüdin«, ergänzte Lowenstein. »Hana wird es Ihnen erklären.«

»Ich stamme aus einer arabischen Familie in Israel, aus der Nähe von Nazareth. Der kleine Ort heißt Reineh. Mein Studium habe ich an der Hebräischen Universität in Jerusalem absolviert.«

»Und seit gut eineinhalb Jahren arbeitet sie für uns im Bereich Internationales Handelsrecht«, ergänzte Lowenstein.

»Und Sie sind sicher, dass es eine gute Idee ist, dass sie jetzt dabei ist?«, fragte Jakob.

»Ja, das bin ich«, sagte der ältere Anwalt und wischte etwaige Bedenken mit einer Handbewegung fort. »Hana hat einen christlichen Hintergrund.«

Für Hana war der Gesprächsinhalt vertrautes Terrain, aber sie konnte sich nicht vorstellen, warum das für dieses Treffen mit Brodsky relevant sein sollte. Sie hatte schon allzu oft ihre Geschichte erklären müssen, wenn Menschen bei der ersten Begegnung mit ihr alle möglichen irrigen Schlüsse zogen. Sie wandte sich Jakob Brodsky direkt zu.

»Ich bin israelische Staatsbürgerin und kann in Israel wählen, Steuern zahlen und Sozialleistungen in Anspruch nehmen wie jeder andere Staatsbürger auch. Außerdem bin ich Christin und habe zwei Jahre im National-Service-Programm gearbeitet als Ersatz für den Militärdienst.« Hana bemühte sich um einen möglichst sachlichen Ton.

»Verstehe.« Jakob zuckte die Achseln und wandte sich Lowenstein zu. »Habe ich die Zusicherung, dass alles, was ich Ihnen gleich zeige, der anwaltlichen Schweigepflicht unterliegt?«

»Sicher. Aber Sie selbst waren nicht sehr diskret hinsichtlich Ihrer Beteiligung an diesem Fall«, entgegnete Lowenstein. »Meine Assistentin hat mir die Anfrage gezeigt, die Sie an das Forum Strafverteidigung geschickt haben.«

»Ich musste mein Netz weit auswerfen, um überhaupt Unterstützung zu bekommen.«

Jakob hielt einen USB-Stick hoch. »Hier ist das Videomaterial.«

Lowenstein schob den Stick in die Buchse. Hana goss sich ein Glas Wasser ein. Das Video enthielt ein Datum und die Namen »Gloria und Sadie Neumann« neben einem Foto, das Hana entfernt bekannt vorkam. Der ältere Anwalt reichte Jakob die Fernbedienung.

»Ich lasse es einmal ganz durchlaufen«, erklärte Jakob. »Einzelheiten können wir später noch einmal anschauen. Es gibt keine Audiospur.« Er drückte auf Play.

»Den Ort kenne ich«, sagte Hana, nachdem kaum eine halbe Minute verstrichen war. »Es ist der Platz vor der Hurva-Synagoge im jüdischen Viertel in der Altstadt von Jerusalem.«

»Richtig«, bemerkte Jakob. »Das Video stammt aus einer Überwachungskamera an einem Kiosk an der Südwestecke des Platzes. Es wurde im Mai vor vier Jahren aufgenommen.«

Jakob kannte mittlerweile jede Sekunde des elf Minuten langen Videos auswendig; dennoch zog es ihn immer noch unwiderstehlich in seinen Bann. Die Aufnahmen – in Schwarz-Weiß – waren an einem späten Freitagnachmittag entstanden. Der Platz war voller Menschen. Ultraorthodoxe jüdische Männer mit Bart und Schläfenlocken in ihren langen schwarzen Mänteln und bizarren runden Hüten liefen durch das Bild. Die unterschiedlichen Hutformen ließen erkennen, welcher rabbinischen Schule sie zuneigten. Jakob hatte in Brooklyn schon charedische Juden gesehen, aber er hatte nur eine sehr lose Verbindung zu irgendeiner Form von Religion, und die Synagoge besuchte er nie. In den fünf Jahren, seit er aus New York nach Georgia gezogen war, hatte er sich eine Praxis aufgebaut, die sich auf verzwickte Fälle konzentrierte, die andere nicht anpacken mochten. Die Chance, eine schwierige juristische Herausforderung in Angriff zu nehmen, war das, was Jakob morgens aus dem Bett trieb.

Die Kamera folgte zahllosen Menschen, die nicht anders aussahen als Passanten in einer Großstadt, die aus einer Unterführung kommen. Sechs junge israelische Soldaten kamen ins Bild: drei Männer und drei Frauen, alle mit dem Maschinengewehr über der Schulter. Jakob warf einen Blick auf die arabische Israelin, die beim Anblick der Soldaten keine Miene verzog. Wenige Sekunden später tauchte eine Gruppe von fünfzehn bis zwanzig Jugendlichen vor dem Kiosk auf.

»Das … ist das eine Nefesh-B’Nefesh-Gruppe?«, fragte Hana.

»Was?« Jakob warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Eine Reise durch Israel. Ein Geburtsrecht für jeden jungen Juden auf der ganzen Welt.«

»Nun, es könnte sein. Ich weiß es nicht genau.«

Zwei junge Araber, einer vielleicht neunzehn, der andere deutlich jünger, beobachteten die Jugendlichen. Einer der erwachsenen Begleiter der Teenies drehte sich um, sodass zu erkennen war, dass er eine Pistole im Holster am Gürtel trug. Aus dem Kiosk kamen vier Jugendliche mit einem Eis in der Hand, und die ganze Gruppe zog weiter. Auch die beiden jungen Araber verschwanden. Drei weitere Menschen gingen auf den Kiosk zu.

»Das ist Familie Neumann«, sagte Jakob. »Ben, Gloria und die dreijährige Sadie. Sie betreten den Kiosk.«

Die Familie verschwand aus dem Blickfeld, und eine zweite Gruppe junger Männer tauchte auf, diesmal orthodoxe Juden, die sich eingehakt hatten.

»War das am Vorabend des Sabbats?«, fragte Hana. »Sieht aus, als wollten sie zur Klagemauer.«

»Ja«, bestätigte Jakob, offensichtlich beeindruckt davon, wie gut die junge Anwältin die Szenen, die sie beobachteten, einordnen konnte. »Wir sind hier nur ein paar Hundert Meter von der Klagemauer entfernt.«

Familie Neumann kam wieder ins Bild. Gloria setzte sich und hielt der kleinen Sadie eine Eiswaffel vor den Mund. Ihr Mann entfernte sich.

»Ben geht in einen Juwelierladen in der Nähe, um eine Kette zu kaufen, die Gloria vorher entdeckt hatte. Aber sie sei zu teuer, hatte sie gesagt, und er solle sie nicht kaufen«, erläuterte Jakob.

»Stopp!« Hana rief es etwas zu laut und erhob sich. »Wenn es das ist, was ich vermute, dann will ich es nicht sehen.«

Jakob drückte die Fernbedienung, und die Szene blieb stehen, Sadie mit dem Eis vor dem offenen Mund. Der junge Anwalt warf einen Blick auf Hana, die noch immer das Bild auf dem Monitor anstarrte.

»Es ist ein Terroranschlag, oder?«, fragte sie.

»Ja. Und Sie sollten es sich mit eigenen Augen ansehen.« Jakobs Tonfall war kälter, als er beabsichtigt hatte. »Es lässt einen nicht los.«

»Ich muss Hana zustimmen«, unterbrach Lowenstein und schüttelte den Kopf. »Es ist eine Sache, über solche Ereignisse am Telefon zu sprechen, und eine andere, wenn man Augenzeuge davon wird.«

»Erinnern Sie sich an diesen Angriff?«, fragte Jakob die Anwältin.

»Nur, dass auch ein amerikanischer Tourist involviert war. Ich lebte zu der Zeit in Großbritannien. Während der paar Monate, die ich weg war, gab es in Israel sehr viele Terrorattacken.«

Jakob fiel auf, wie rasch Hana dem Geschehen das Etikett »Terroranschlag« gab.

Lowenstein wandte sich an Jakob. »Wenn Sie uns bitte für einen Moment entschuldigen«, bat er.

In Jakob stieg der Verdacht auf, dass er den Weg hierher umsonst gemacht hatte. Er trat vor, um den USB-Stick aus dem Gerät zu nehmen.

»Würden Sie uns das Material bitte hierlassen?« Lowenstein klang entschlossen.

»Es hat mich viel gekostet, es zu bekommen«, erwiderte Jakob. »Ich habe natürlich Kopien, aber ich werde nicht riskieren …«

»Ich möchte nur kurz mit Hana sprechen. Danach wird Gladys sie wieder hereinbitten, und wir setzen unser Gespräch fort.«

Jakob zögerte, dann zuckte er die Achseln. »In Ordnung«, meinte er schließlich und schenkte sich eine Tasse Kaffee für die Wartezeit ein. Lowenstein drückte eine Taste der Konferenzschaltung in der Mitte des Tisches.

»Gladys, führen Sie Mr Brodsky bitte für ein paar Minuten in den Konferenzraum D.«

Der Auftrag

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