Читать книгу Das ungelobte Land - Roland Kühnel - Страница 10
Papierspuren
ОглавлениеSteuersparer und Schwarzgeldwäscher fürchten sich vor ihnen, Fremdgeher nicht weniger: Papierspuren. In Form von Verträgen, Kontoauszügen und Kreditkartenbelegen. Eine spezifische Art von „Papierspuren“ hinterlässt jeder Text, manchmal auch im Gedächtnis der Spurenleser. Solche Texte sind auch Lehrbücher.
Wenn es um DDR-Schullehrbücher geht, wird meist auf die Fächer Staatsbürgerkunde und evtl. noch Geschichte verwiesen; dort, so der fast einhellige Tenor, zeige sich besonders das ideologische Monopol der SED in der Schule. Nehmen wir dazu doch einmal meine beiden Lehrbücher für Geschichte Klasse 6+7 (1977/78) und Stabü Klasse 10 (1981) zur Hand.
Zunächst zu „Geschichte“. An anderer Stelle beklagte ich die Abundanz von Themen zur Arbeiterbewegung und zur Entwicklung kommunistischer Parteien. Aber es gab natürlich auch andere Themen, und liest man heute über 30 Jahre danach in seinen alten Schulbüchern, findet man zuweilen Erstaunliches. Zunächst die Ansprache an den Schüler. „Du aber lernst den Kapitalismus im 7. Schuljahr zu einer Zeit kennen, da er entstand… und von ihm noch der Fortschritt der menschlichen Gesellschaft ausging. Das musst du immer im Auge behalten!“ (S.9) Für sich sprechen auch einige Fragen an die Schüler am Ende der Kapitel. Bsp.: „Wo und gegen wen kämpfen heute Völker um ihre Freiheit? Warum stehen wir auf ihrer Seite?“ (40) Im Stabü-Buch drei Schuljahre später liest sich das dann ganz anders.
Im Geschichtslehrbuch findet man ungewöhnlich viele Zitate, die ausgesprochen pragmatisch oder realpolitisch sind. Bsp. Friedrich II: „Wenn Ihnen eine Provinz gefällt…besetzen Sie sie sofort. Dann finden Sie immer genügend Juristen, die beweisen, dass Sie ein Recht auf das besetzte Land haben.“ (105) Oder der preußische König zu Sachsen: „Sachsen ist wie ein Mehlsack. Man mag darauf schlagen, so oft man will, es kommt immer etwas heraus.“ (107) In der DDR war Sachsen auch eine Art Mehlsack, nicht nur, was die Bauarbeiter betraf.
Ein Zitat von Montesquieu hätte man ebenso auf die DDR anwenden können: „Ist die gesetzgebende Gewalt mit der ausführenden in einer Person vereint, so gibt es keine Freiheit, weil man fürchten kann, derselbe Monarch (oder Parteichef, R.K.) werde tyrannische Gesetze geben, um sie tyrannisch auszuführen.“ (125) Dies als warnende Stimme vor der „Französischen Revolution“. Die entsprechende Aufgabe für den Schüler lautet: „Stelle mit eigenen Worten die Merkmale einer revolutionären Situation dar! Präge sie dir gut ein, denn du triffst sie auch bei späteren Ereignissen in der Geschichte wieder an.“ (128) Spätestens 1989.
200 Jahre vor 1989 wurde in Paris die berühmte „Deklaration der Bürger- und Menschenrechte“ verabschiedet, nachzulesen im DDR-Geschichtsbuch (132): „Wer Willkür anstrebt, ausführt oder ausführen lässt, ist zu bestrafen.“ So (nicht) geschehen 1989. Auch der „Herr der Guillotine“, Robespierre, kommt zu Wort und seine Befürwortung des revolutionären Terrors. Schülerfrage hierzu: „Warum ist es richtig, diejenigen hart zu bestrafen, die alte und überlebte Zustände wiederherstellen wollen? Wende deine Erkenntnis auf die Gegenwart an!“ (139) Ich bin mir sicher, dass kein Schüler unserer Klasse damals seine Erkenntnisse zu sehr auf die Gegenwart der DDR hätte anwenden können.
Ungewöhnlich hart ins Gericht wird mit Napoleon und dem Rheinbund 1806 gegangen. „Dieser Schandvertrag (!) brachte das Ende des alten deutschen Reiches.“ (155) Die deutschen Fürsten seien nationale Verräter. Gelobt hingegen wird Freiherr vom Stein: „Ich habe nur ein Vaterland, das heißt Deutschland. Nur ihm und nicht einem Teil desselben bin ich von ganzer Seele ergeben…“ (161) Dazu dann keine Schülerfrage zur Anwendbarkeit auf die Gegenwart. Dafür eine zum Verständnis des Freiherrn zum Patriotismus: „Über welche Eigenschaften muß ein Mensch verfügen, den wir heute in unserem Staat einen Patrioten nennen?“ (Ebd.) Eine sehr gute Frage zu jener Zeit Ende der 70-er Jahre in der DDR.
Erstaunlich positiv ist das Schulbuch-Bild von den Burschenschaften (!). „Ihr Wahlspruch lautete: Ehre, Freiheit, Vaterland… Ihrem Zuge (auf die Wartburg) wehte eine Fahne voran… Schwarz-Rot-Gold“ (177) Und auch folgendes Zitat vermutet man vielleicht nicht unbedingt in einem DDR-Lehrbuch: „Es wird der Tag kommen, wo der Deutsche vom Alpengebirge und der Nordsee, vom Rhein, der Donau und der Elbe den Bruder im Bruder umarmt, wo die Zollstöcke und Schlagbäume…verschwinden. Es lebe das freie, das einige Deutschland!“ (184) …
Im Lehrbuch Geschichte 6 (1977) stößt man auf viele weitere interessante Themen. Die genaue Beschreibung des Limes, Cicero, der Weihwasserautomat von Heros, das „griechische Feuer“, „Richtlinien der englischen Tudor-Regierung gegen die Seeräuber“, die 5 Säulen des Islam. Das Blutgericht in Verden an der Aller gegen die (Nieder-)Sachsen fehlt ebenso wenig wie die grausame Inquisition. Viel Platz erhalten die Klöster und Fotos von Kirchenbauten. Noch mehr Platz erhält Luther, u.a. sein Streitgespräch mit Johannes Eck 1519 in Leipzig: „Auch Konzilien können irren.“ Wohl wahr. Erwähnt wird seine Schrift „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“, selbstredend nicht anzuwenden auf die DDR. Luther, der Unerschrockene: „Ich will nach Worms (zum deutschen Reichstag, R.K.), und wenn dort so viele Teufel wie Ziegel auf den Dächern wären…!“ Oder Luther, der Demokrat: „Ein Christenmensch ist niemand untertan.“ Dazu die Schülerfrage im Lehrbuch: „Warum beging die DDR den 450. Jahrestag des Thesenanschlags?“ Erstaunlicher finde ich nachstehende Frage an die Schüler: „Stelle fest, wann euer Rathaus und die Kirche gebaut wurden!“ (149)
So wie die Geschichtsbücher waren auch die Staatsbürgerkundebücher aufgebaut. Text und Zitate, dann die Fragen.
Im Vorfeld dieses Kapitels habe ich überlegt, ob man aus einem unbestritten ideologischen Lehrbuch der SED für die DDR-Schüler zitieren sollte. Ja, man sollte. Aus einem einfachen Grund. Man kann Dinge erst beurteilen, wenn man sie selber gelesen hat, im Original und nicht aus zweiter Hand. Und: war alles falsch, was die Schüler in Stabü gelernt (bei wohlwollender Betrachtung) haben oder womit sie traktiert wurden (bei negativer Sichtweise)?
Im Mittelpunkt von Staatsbürgerkunde Klasse 10 (1981) standen Begriffe wie Ausbeutung, Unterdrückung, Klassen. Sind dies a priori falsche Begriffe, nur, weil sie aus der Feder von kommunistischen Autoren stammen? Oder folgende Grundthese: „der Staat als Machtinstrument der herrschenden Klasse“. Niemand kann doch ernsthaft bestreiten, dass dies für alle Staaten gilt, früher wie heute. Oder Marx: „Religion – Opium fürs Volk“. Absolut diskutabel.
Was sollte man nun als 16-Jähriger in der DDR laut Stabü-Lehrbuch verinnerlichen?
Es beginnt mit dem „Hauptinhalt unserer Epoche, der weltweite Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus“ (S.7). Ein Dogma, an dem nicht gerüttelt werden durfte. (Was ist heute Hauptmerkmal unserer Epoche? Globalisierung, Ozonloch, Terrorismus, Währungskrise, Beliebigkeit der Werte im Westen, „Diktatur der Toleranz“?) Bei „Ideologie und Kultur“ (man beachte die Begriffskombination) wird fokussiert auf den „Kampf um die Reinheit des Marxismus und Leninismus gegen jede Erscheinungsform des rechten oder „linken“ Opportunismus“ (14). Zu letzterem gehörte laut SED der rechte Flügel der SPD.
Ab S.20 befindet sich „der Imperialismus in der Defensive“. Grund: seine „allgemeine Krise“. Merkmale derselben: das „Heer der Arbeitslosen wächst“ (stimmt zyklisch), die „Inflation ist eine Dauererscheinung des Kapitalismus“ (stimmt ebenso) und damit verbunden die „imperialistische Währungskrise“ (nicht zu leugnen).
Einige Seiten weiter wird die unverbrüchliche und unzerstörbare Freundschaft mit der Sowjetunion betont. Bis Gorbatschow kam. Bis dahin war die SU auch Vorbild, was Strategie und Taktik betraf. Die „Politik der friedlichen Koexistenz“ war dabei alternativlos zum atomaren Super-GAU. Sie „darf aber nicht auf ideologische Fragen angewendet werden“ (38). Wer dies nicht einsieht, ist nach SED-Auffassung wahlweise Opportunist, Dissident, Versöhnler, Renegat, Abweichler, Helfershelfer des Imperialismus. (Wenn ich solche Wörter schreibe, muss ich überlegen, ob ich mehr lachen oder weinen muss.) Bündnispartner des sozialistischen Weltsystems sind hier die sog. „nationalen Befreiungsbewegungen“ (Abk. BB); Vorbild für alle Kuba. Feindbilder sind hingegen Politiker vom Schlage Franz-Joseph Strauß. Er kommt mit einem Zitat von 1966 (!) zu Wort: „Der Westen muss Koexistenz und Entspannung als politische Waffe sehen.“ (49). 11 Seiten zuvor wird das gleiche für den Sozialismus gesagt, aber da ist es richtig.
Unter der Rubrik „geistige Manipulierung“ (51f.) geht es um Begriffe. Der Westen bezeichne sich als „freie Welt“, „westliche Demokratie“, „westliche Welt“ und nicht als Kapitalismus/Imperialismus, dass er in Wahrheit sei. Durchaus auch meine Meinung. Seit Jahren geistert in diesem Kontext ein Terminus durch die westliche Weltpresse, die sogenannte „internationale Gemeinschaft“. Wenn die NATO irgendwo Bomben abwirft und Tausende umkommen, dann muss dafür die „internationale Gemeinschaft“ herhalten, um dies zu rechtfertigen. Wer im Einzelfall Demokrat oder Diktator ist, legt die NATO, äh, die „internationale Gemeinschaft“ fest. Auch der Papiertiger UNO beruft sich auf diese ominöse Gruppe. Der Gerichtshof in Den Haag, Sanktionen, alles im Namen der „internationalen Gemeinschaft“. „Achse des Bösen“, „Schurkenstaaten“, auch westliche Begriffe. Gegner dieser Politik sagen dazu „Not in my name!“ (Ich fühl mich auch bei harmlosen Dingen in unserer Presse oft nicht angesprochen. So, wenn „ganz Deutschland“ für jemanden mitfiebert. 2013 konnte man sogar lesen: „Die ganze Welt (!) weint mit (Wimbledon-Verliererin) Lisicki“. Geht’s noch ´ne Nummer kleiner? Mich interessieren auch „royale Babies“ und privater Knatsch von A,B,C-Promis nicht die Bohne.)
Dass die DDR ihre Bürger geistig manipuliert, gegängelt, drangsaliert hat, steht außer Frage. Was ist aber mit den heutigen großen Manipulatoren, den Medien, den „sozialen Netzwerken“ wie facebook oder google?
Zwischen den Zeilen muss man im Stabü-Buch auf S.52 lesen. Kritisiert wird der „demokratische Sozialismus“ als begriffliche Verschleierung – der SPD im Westen. Hauptfeind ist natürlich die BRD. Ihr „Offenhalten der deutschen Frage“ sei „aussichtslos“. Es gäbe keinen „besonderen Charakter“ der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD (58), zumal die DDR (1980) schon „auf dem Wege zum Kommunismus“ sei (63). Die BRD ist deshalb schon ein Feind, weil dort das Konsumdenken vorherrscht. Nun, das ist unbestritten. „Hast du was, dann bist du was“ (78), auch nicht unbedingt von der Hand zu weisen.
Der Sieg des Sozialismus, d.h. der DDR über die BRD, wird erreicht über die höhere AP, die Arbeitsproduktivität. Ein Trugschluss. Hier finden sich im Lehrbuch zahlreiche realitätskonforme Karikaturen zur Arbeitsmoral in DDR-Betrieben. Erstaunlich. Der sozialistische Staat besteht dabei nicht (primär) aus Bürgern oder Menschen, sondern aus Klassen und Schichten. Während im Sozialismus eine harmonische Klassengesellschaft herrsche, ist im Kapitalismus permanenter Klassenkampf. An der Spitze des sozialistischen Staates steht hierbei eine Partei, sie „erzieht die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen im Geiste des Marxismus-Leninismus“ (127). Und wer das nicht will? „Die Partei (Singular, R.K.) erarbeitet die Grundlagen der Außenpolitik.“ Macht das normalerweise nicht eine Regierung?
Die DDR war laut Eigendefinition eine „Diktatur des Proletariats“. Ich würde behaupten, das ist die ehrlichste Aussage von damals. Die DDR war auch unbestritten ein Arbeiter- und Bauernstaat. Und dann, nach den kleinen Handwerkern, Gewerbetreibenden und Sonstigen, dann kam irgendwann die Intelligenz. Letztere war übrigens keine Klasse, sondern nur eine Schicht. Aus ihr kamen die aktivsten Mitstreiter der SED und gleichzeitig, vor allem später, die aktivsten „Renegaten“ und „subversiven Elemente“. Die Aufgabe der Intellektuellen war klar von der SED umrissen: „Einheit von Sozialismus und Wissenschaft“. (Heute hängt die Wissenschaft an Töpfen, Fonds, Drittmitteln, föderalen Strukturen, an der EU…)
Die DDR definierte sich ferner als „sozialistische Demokratie“ (nicht: „demokratischer Sozialismus“!). Ein historisch „neuer Typ von Demokratie… für die Werktätigen, für die Mehrheit des Volkes“ (137). Man beachte: für die Mehrheit des Volkes. Für die Minderheit nicht oder weniger, und wer ist diese Minderheit? Ein entlarvender Satz.
Die DDR definierte sich nicht zuletzt als Musterknabe des Ostblocks und treuester Verbündeter der Sowjetunion, dafür erwartete man auch stets die militärische Solidarität gegen den Klassenfeind an Rhein und Potomac. Dass in der DDR die militärische Solidarität mit der SU funktionierte, mussten die Menschen am 17. Juni 1953 leidvoll erfahren. Nach innen waren in diesem Kontext die Kampfgruppen aus den Betrieben die Speerspitze gegen konterrevolutionäre Elemente. Nun, wie der Oktober 89 gezeigt hat, gingen auch die Treuesten von der Fahne, wofür ihnen Respekt gezollt werden sollte.
Da es in der DDR laut Schulbuch bzw. Propaganda nur Klassen gab, hatte natürlich auch die Weltanschauung der Bürger Klassencharakter. Und zur Auswahl stand nur eine Weltanschauung, der Sozialismus respektive die Ideen von Marx, Engels und Lenin. Alles davon nur ein Jota Abweichende war bürgerlich, idealistisch – im besten Falle, ansonsten reaktionär und antikommunistisch. So ist auch nur folgende Lehrbuchfrage zu verstehen (152): „Warum ist der Marxismus/Leninismus die einzige wissenschaftliche Weltanschauung?“ Es sind solche Fragen gewesen, die mich abgestoßen und andere aus dem Land getrieben haben. Nur eine Sache ist immer richtig, die Sache der führenden Partei.
In der DDR gab es angeblich auch eine Form der Moral, die sozialistische Moral. Sie hat natürlich auch Klassencharakter. Andere Moralvorstellungen sind bürgerlich usw. Ja, es gab sogar eine neue, sozialistische Lebensweise. So wie die DDR sich stets penibel vor einer „Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Staates“ verwahrt hat, hätte sie vielleicht mal daran denken können, sich weniger in die „inneren Angelegenheiten ihrer Bürger“ einzumischen. Dass auch 1978 noch nicht alles in Butter war, muss mein damaliges Lehrbuch selbst zugeben. Nach wie vor gäbe es zuviel „Schmarotzertum, mangelnde Arbeitsdisziplin, Habgier und Egoismus“ (164). Trotz der „Kollektive der sozialistischen Arbeit“; ein Begriff, der immer nach Kolchose und Fritz Heckert klang.
Am Ende erläutert mein Stabü-Buch von 1981 den Sinn des Lebens: „Es ist vor allem die Anforderung, dass jeder klassenmäßig für den Sozialismus Partei ergreifen muss, wenn er seinem Leben einen Inhalt geben will... Sein Leben wird umso reicher, je mehr er sich in seinem Denken und Handeln an den Interessen der Arbeiterklasse orientiert.“ (176) Als Kind aus der Intelligenz war man also doppelt gestraft.
Falls der Eindruck beim Leser entstanden sein sollte, was ich nicht hoffe, dass zuviel DDR-Propaganda zitiert wurde, so hatte dies nur die Absicht, damit sich jeder selbst ein Bild machen kann. An ihren Zitaten sollt ihr sie erkennen.