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Leipziger Allerlei

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Woran denkt man im Allgemeinen bei Leipzig? Als Leipziger sicher an die Messe, an Goethes Zitat aus „Faust“ Mein Leipzig lob ich mir, es ist ein Klein-Paris und bildet seine Leute, an den Filz im Rathaus, an Prestigeprojekte wie den zunächst sehr umstrittenen City-Tunnel der Deutschen Bahn (schöne Grüße nach Stuttgart!), vielleicht auch an Kulinarisches wie „Leipziger Allerlei“ oder Leipziger Lerchen (lecker Gebäck), ans Völki, an das Völkerschlachtdenkmal; wenn man Fußball-Fan ist, an trostlose Spiele in der 4. oder 5. Liga, den überregionalen Hoffnungsträger RB Leipzig und natürlich an die große Handelstradition seit dem Mittelalter, an Bach und den Thomaner-Chor. Außerdem eventuell noch an die Konkurrenz zur manchmal etwas selbstverliebten Kulturstadt Dresden und früher an Berlin, wo es alles gab.

Meine Oma, die seit 1930 in Leipzig gewohnt hat, schwärmte immer vom wunderschönen Augustusplatz, in Friedenszeiten, von den „Pelzjuden“ am „Brühl“, vom „Café Felsche“, das es nicht mehr gibt (heute dort eine City-Bank), vom verschwundenen „Krystall-Palast“, der alten Pauliner-Kirche, vom Königsplatz (heute Wilhelm-Leuschner-Platz mit einer verwilderten Brache und einem Parkplatz). Dieses alte Leipzig existiert nur noch auf Postkarten und in den Köpfen der Älteren. Während des stürmischen Herbsts 89 prägte jemand den Begriff „Heldenstadt“, ich vermute, es war kein Leipziger (später aufgegriffen von Christoph Hein). Nach 90 hatten die Leipziger auch kein Problem damit, dass Dresden wieder Landeshauptstadt wurde. Der folgende alte sächsische Spruch gilt durchaus noch heute: In Chemnitz wird gearbeitet, in Leipzig gehandelt und in Dresden gefeiert.

Läuft man jetzt durch Leipzig, kann man sich über viele Dinge freuen, aber auch ärgern. In den 90-ern gab es außer dem Baulöwen Schneider und seinen Projekten eine große Diskussion um den Hauptbahnhof, immerhin der größte Kopfbahnhof Europas. Passt zu diesem altehrwürdigen Gebäude eine ultramoderne, unterirdische Ladenpassage auf zwei Ebenen? Ich war damals nicht begeistert von diesem Plan, mittlerweile ist der Bahnhof ein Aushängeschild für die Stadt und die ganze Region.

Grandios die Passagen, auch zu DDR-Zeiten schon. Vieles im Zentrum ist verschwunden, anderes liebevoll restauriert, einiges vielleicht eine Spur zu chic. Geschmackssache ist hier besonders der neugestaltete Sachsenplatz, heute zubetoniert mit einem überdimensionierten Bildermuseum, früher ein offener Platz mit mehreren Springbrunnen und vielen Bänken. Auch vom Abriss der Alten Messe im Süden der Stadt am Völkerschlachtdenkmal war ich nicht erfreut, heute gefällt mir die Neue Messe im Norden mit ihrer futuristischen Architektur richtig gut.

Im Vergleich zu den meisten Städten im Osten hat sich in Leipzig sehr viel getan, nicht dank, sondern trotz der Bürgermeister, die seit 1990 das Zepter schwingen (mehr Aufschwung gibt es wohl nur noch in Jena). Bundesweit bekannt und der erfolgreichste OBM ist auf diesem Feld Wolfgang Tiefensee. BMW und Porsche haben sich angesiedelt und Tausende Arbeitsplätze geschaffen; die Olympia-Bewerbung für 2004 war eine gute Werbung und hat viel vom Enthusiasmus der Leipziger offenbart. Wie anderswo auch nerven Baustellen und Dauer-Umleitungen. Oder Stillstand wie am zentralen Burgplatz. Seit über 20 Jahren tut sich dort nichts. Die Bürgermeister bräuchten nur aus dem Fenster ihres Rathauses zu schauen… Und auch wenn amerikanische Heuschrecken die Eigentümer sind, wie beim „Astoria-Hotel“, muss es doch eine Lösung geben. Neu sind die „Höfe am Brühl“, bislang keine Erfolgsstory; der alte Brühl der „Pelzjuden“ von vor 1933 ist unwiederbringlich verloren.

Aber wie war das Leben in Leipzig vor 1989? Mit der Zeit verblassen natürlich die Erinnerungen. Interessant ist eigentlich, was man dennoch im Gedächtnis behalten hat.

Ein ernsthaftes Problem in Leipzig war zweifellos die Luft. Wenn der Wind ungünstig stand, wehte der Dreck der Kraftwerke, Braunkohlentagebaue und Chemieanlagen aus Böhlen, Zwenkau, Leuna oder Bitterfeld in die Stadt. Im Winter in den 80-er Jahren setzte sich der Kohlenstaub aus den Tagebauen im Umland auf den Straßen ab, so dass der Schnee regelrecht schwarz wurde. Im Zug von Berlin nach Leipzig wurden kurz vor Bitterfeld die Fenster geschlossen, sonst wäre man am süßlichen Gestank in den Abteilen erstickt.

Sieht man heute Fernsehberichte von früher, ist man entsetzt über den Bauzustand der Gebäude. Ich wohnte damals im Osten in der Nähe der Eisenbahnstraße (früher: Ernst-Thälmann-Straße), keine Vorzeigegegend wie Gohlis. Aber es gab damals fast nur solche Fassaden. Wenn in den letzten Jahren viel verputzt wurde, bemerkte man erst den gewaltigen Unterschied zur Zeit vor 1989. Dafür waren die Mieten gering. Meine Eltern zahlten für eine 5-Raum-Wohnug mit über 100 Quadratmetern 70 DDR-Mark. Kohlen extra. Im Durchschnitt waren es 10% eines (Single-)Gehalts, die für die Miete draufgingen. Nicht wenige Mietshäuser hatten aber noch Außenklo, mehr Öfen als Zentralheizung, Boiler in der Küche und Badeofen im Bad, und eher kein Telefon. Falls man telefonierte, waren folgende zwei Sätze oft im Gebrauch: „Fasse dich kurz!“ und „Das sage ich dir lieber nicht am Telefon!“ (Heute schreibe ich wieder in der Mail: das sage ich dir mündlich… Schöne Grüße an die NSA und an viele andere!).

Die Straßenbahn (die „Bimmel“) war weniger pünktlich als heute, oft nicht geheizt oder überheizt, nicht selten auch zugig wegen undichter Fenster in den Tatra-Bahnen (die „Dubček-Panzer“ aus der Tschechoslowakei); dafür kostete eine Fahrt durch ganz Leipzig 20 oder 10 Pfennig, eine Schüler-Monatskarte mit 3 Linien nur 7 Mark. Das sind umgerechnet etwa 1,75 Euro, damit kann man heute gerade einmal 4 Haltestellen fahren.

Ja, und natürlich erinnert man sich ans Schlangestehen. Und an Mangel aller Art. Ich war zum Beispiel ein großer Ketchup-Freund, und so wurden jedes Mal gleich 10 kleine Ketchup-Flaschen (es gab nur eine Sorte) als Vorrat gekauft. Oder polnische Gewürzgurken und ungarisches Letscho. Wie lautete ein passender DDR-Witz? Was haben ein Känguru und ein DDR-Bürger gemeinsam? Sie haben immer einen Beutel dabei. Falls es etwas gab, was morgen nicht mehr im Regal ist, z.B. die leckeren Erdnuss-Flips aus Wurzen für 50 Pfennig. Heute unvorstellbar in unserer Überfluss- und Wegwerfgesellschaft. Plastiktüten wie heute gab es nicht. DDR-Bürger waren Beutelmenschen.

Überhaupt Witze. Mit der DDR ist auch eine ausgesprochen kreative Witze-Kultur verschwunden. Geht man heute ins Kabarett in Leipzig, kann bei vielen Gags nur ein Teil des Publikums lachen, die „Ehemaligen“. Es gab ja viele Witze über die Regierenden. Aber die Oberen im ZK, hatten sie eigentlich Humor? Ich erinnere mich, als Günter Schabowski im Fernsehen auf einer großen SED-Tagung den neuen „Wartburg“ in den höchsten Tönen lobte. Preis 26.000 DDR-Mark, eine unglaublich hohe Summe für einen Normalbürger. Als er den Preis nannte, mussten wohl viele im Publikum erst mal schlucken; als Schabowski dies bemerkte, fügte er schelmisch hinzu: „Aber die 4 Räder sind im Preis inklusive.“ Das Lachen im Saal war verhalten.

Üblich waren Witze wie solche: „Was passiert, wenn der Sozialismus in der Sahara siegt? – Dann wird der Sand knapp.“ Oder „Wer sind die vier größten Feinde des Sozialismus? – Frühling, Sommer…“ Zwei Beispiele aus der Rubrik ´eher harmlos´. Wenn man sich ganz sicher wähnte, dass der Gegenüber nicht von der Stasi war, konnte ein Witz auch sehr politisch und drastisch sein. Ulrich Tukur erzählt einen dieser Sorte später im Film „Das Leben der Anderen“: „Was haben Honecker und ein Telefon gemeinsam? – Aufhängen, Neu Wählen!“

Beim Einkaufen gab es auch einige recht skurrile Dinge. Da gab es stets Männer, die die Bierflaschen kopfüber gegen das Licht hielten, um so die Frische zu testen (hier können nur ostdeutsche Männer jenseits der 40 lachen). Andere wiederum stapelten Kästen um, um bei den untersten die vermeintlich neuesten Dosen oder Flaschen zu erwischen. Nervig konnte auch schon der Beginn des Einkaufs in einer Kaufhalle sein. Fast jedes Mal erwischte man einen Einkaufswagen, dessen Rädchen einen Drall nach links oder rechts hatte und wo man ständig aufpassen musste, niemanden in die Hacken zu fahren; oder die Räder ratschten, da sie verklemmt waren. Aufpassen musste man auch auf eventuelle Gefahren auf dem Fußboden der Kaufhalle. Irgendwo war immer eine Tropfspur Milch oder ähnliches. Die Beutel Milch, 1 Liter zu 0,70 M, wurden von den Mitarbeiter oft in die Kästen hineingeworfen. Nach 500 x Umstapeln rissen dabei oft die dünnen Beutel. Eine Lupe wäre hilfreich gewesen, um u.a. das Datum bei Yoghurt-Bechern zu entdecken. Danach galt es zu raten, ob es das Herstellungs- oder das Ablaufdatum sein konnte. Vorsicht musste man auch walten lassen bei den scharfkantigen weißen Quarkbechern.

Neben der Kaufhalle gab es aber noch etwas anderes. Ein besonderer Tag war immer, wenn meine Oma ein paar DM von einem Besuch im Westen mitbrachte und wir zum „Intershop“ im Erdgeschoss des ehemaligen „Astoria-Hotels“ gegenüber dem Leipziger Hauptbahnhof pilgerten. Bei einem schmalen Budget zwischen 5 und 20 Mark (auf sogenannten „Forumschecks“) musste stets gut überlegt sein, was man wollte. Bei mir stand so die qualvolle Frage: Mars oder Yogurette? Noch ein Bounty? Selbstverständlich als Einzel-Stück, nicht als Packung! Zu Hause wurde der kostbare Schatz erstmal ein paar Tage bewundert und dann natürlich nicht auf einmal gegessen. Mit einem scharfen Messer schnitt ich mein Mars in dünne Scheiben und genoss jeden Tag 2,3 davon. Heute kann man darüber schmunzeln. Meine Oma sagte in diesem Zusammenhang immer zu mir: Iss es mit mit Verstand. Das ist aus dem Westen!

Es war auch noch die Zeit, wo man Werbung freiwillig schaute. „Jacobs Krönung“ duftete über den Bildschirm, bei „Persil“ wusste man schon damals, was man hat, und bei der „Fa“-Seife sah man gertenschlanke junge Frauen irgendwo im Paradies ins Wasser eintauchen…

Die Packungen oder Etiketten wurden auch nicht unbedingt weggeworfen. Bei nicht wenigen DDR-Bürgern standen – leere – Flaschen, Dosen usw. aus dem Westen z.B. auf Küchenschränken oder Regalen. Begehrt waren genauso West-Tüten. Ich habe damals viele Etiketten von Flaschen und Dosen abgeweicht und sorgfältig in eigens dafür angelegte Hefter (!) eingeklebt… Mehr als nur ein paar Süßigkeiten mit dem anderen Geschmack konnten sich diejenigen leisten, die über GENEX einkauften. Ganz Privilegierte sogar Autos.

Zurück zur Stadt: Mangel und Gebäudeverfall waren typisch für die gesamte DDR, mit Ausnahme von Berlin, zumindest im Zentrum. Durch eine Sache hatte Leipzig indes eine Art Sonderstatus. Das gab es nicht mal in Berlin. Die Messe!

Die Leipziger Frühjahrs- und Herbstmesse bestimmte fast den Pulsschlag der Stadt, ja, sie prägte gewissermaßen die Identität ihrer Bewohner. Zweimal im Jahr atmete die Stadt auf. Es war bunter, grüner, lebendiger, ungezwungener. Westautos fuhren durch die Stadt, viele vermieteten ihre Wohnungen gegen gutes Geld (auch ohne Rechnung). Es gab plötzlich mehr in der Kaufhalle, nicht viel, aber doch auffällig mehr. Was es nicht gab und was mich tausendmal mehr als Bananen interessiert hätte, waren Westzeitungen. Als „Trost“ kaufte man das „Messemagazin“, ich glaub für 3 Mark. Sehr viel Geld damals für eine Zeitschrift.

Die Leipziger wurden für eine Woche in eine andere Welt versetzt, ohne dass man richtig dazu gehörte. Man war nur Beobachter, manchmal staunend, manchmal neidisch. Es war immer eine kurze Zeit des Träumens, auch vom Glanz des alten Leipzig vor dem Krieg. Umso trister die Zeit danach. Vielleicht ist dieses Intermezzo der Messe ein Grund dafür, dass die Umbrüche in der DDR so massiv in Leipzig angestoßen wurden. Es gab während der Messe eigentlich auch keine Kontakte zu Westdeutschen, wenn man nicht vermietete. Es war alles etwas virtuell, wie in einem Kinofilm, wo man als Statist am Rand des Geschehens steht. Die buchstäblich engsten Kontakte wurden in Hotels gepflegt…

In Rückblenden zur DDR-Gesichte wird nun nicht zu Unrecht der Mangel beklagt. Ja, aber das traf nur für bestimmte Dinge zu, auch bei alltäglichen Lebensmitteln. Es herrschte wahrlich kein Mangel an Fleisch, Wurst und Milchprodukten. Bei Gemüse war das Angebot geringer als heute, nur beim Obst gab es wirklich Defizite. Hier wird die DDR von vielen westlichen (und leider auch östlichen) Autoren auf die Banane reduziert. Sicher haben viele DDR-Bürger Südfrüchte wie Bananen vermisst, aber sie vermissten vor allem andere Dinge, wie sie eindrucksvoll 1989 manifestiert haben. Insofern war ein Plakat der „Titanic“ von 1990 besonders schäbig: „Zonen-Gabi im Glück: Meine erste Banane!“ Das war unterste Schublade, auch wenn man es natürlich satirisch sehen kann. Noch polemischer hat sich hier ein bekannter Politiker von damals verhalten: Otto Schily. Nach den Wahlen vom 18.3.1990, als die „Allianz für Deutschland“ (Gott sei Dank!) klar gewonnen hatte, hält Schily eine einzelne Banane in die Kamera. Abfälliger ging es nicht mehr. (Später hat er dann mal im Fernsehen gewettet. Einsatz: der sündhaft teure „Brunello“-Wein aus Italien. Naja, irgendwie typisch Sozi. Und ein Kanzlerkandidat der SPD meinte 2013, er würde nie einen Wein unter 5 Euro trinken. Klar, „Peer will mehr“ für sein schwer verdientes Geld.) Aber Wähler-Schelte in Deutschland ist kein singuläres Phänomen von 1990.

Im Übrigen fand man genügend Obst. Jeden Sommer Melonen und Süßkirschen, Pfirsiche und Ananas in der Dose (ich glaub für 6 Mark aus dem „Wucherladen“), und natürlich Äpfel, Birnen, Pflaumen usw. Ja, es gab sogar Butter in der DDR! Einmal fragte mich eine Freundin aus Reinbek bei Hamburg, studiert und als „SPIEGEL“-Mitarbeiterin alles nur nicht weltfremd, ob es denn in der DDR richtige Butter gab. Glücklicherweise muss man sich heute 25 Jahre nach der staatlichen Einheit nur noch selten so einen Unsinn anhören. Zu einem Zeitpunkt war Gemüse in Leipzig im Überfluss vorhanden, aber niemand aß es. Berge von Blattsalat in der Mensa der Universität Leipzig zum Beispiel, die im Müll landeten. Es waren die Wochen nach Tschernobyl 1986…

Es gab auch genügend Süßes, „Bambini“, „Nudossi“ (das „Nutella“ der DDR) oder „Moskauer Eis“. Es ist spannend, wenn man ein Produkt von früher wieder probiert. „Bambini“ zum Beispiel, eine Schokolade, die mir heute zu süß ist. Genau wie die „Vita-Cola“. Oder man erinnert sich wieder an spezifische Dinge; so trank ich als Kind fast täglich grünen Waldmeistersirup mit Wasser gemischt. Und natürlich denkt man nicht ohne Wehmut an die Preise von damals: Brötchen 5 Pfennig (Fettbrötchen 7), Pfannkuchen 20 Pf, Bratwürste 1 Mark. Ein ganzer Broiler (Brathähnchen) kostete 6 M, ein Marzipanbrot 3 oder 6 M, Butter 2,50 M. Brot war so billig, dass es in der Landwirtschaft an die Schweine verfüttert wurde. Die Preise waren in den großen Geschäften überall gleich, nicht unbedingt ein Nachteil. Zum „Ärgern“ hier noch ein paar Preise für Dienstleistungen in der DDR: Männer-Friseur 1 Mark (!), nach 89 7,50 DM, heute ca. 15-20 Euro; Kino 0,50 – 2 M. Meine Eltern gaben einmal im Monat einen großen Sack in die Wäscherei: 40 M, also (doppelt) umgerechnet 10 Euro. Dafür gibt’s heute eventuell zwei gebügelte Hemden – ohne Abhol-Service.

Oder die Preise in Gaststätten. Zum Beispiel im berühmten „Kaffeebaum Leipzig“, laut Speisekarte von 1972: die allbekannte Ukrainische Soljanka mit Brötchen 1,40 DDR-Mark, Entenbraten mit Rotkohl und Klößen 4,40 (= 2,20 DM = 1,20 Euro!), Sauerbraten 3,35 Mark, heute ca. 12-15 Euro, Bananenkompott 1 Mark, 1 Urkostritzer Bier 0,25 l für 0,63 M, aber dafür teurer sowjetischer Sekt à 21,50 M, Rotkäppchen Sekt 18,50 M, ein Glas Apfelsaft nur 0,70 M und eine Tasse Kaffee 0,94 M.

Bestimmte Präferenzen beim Geschmack sind bei mir geblieben. So bevorzuge ich weiterhin den „Ost-Senf“ aus Bautzen und Altenburg. In der (natürlich subjektiven) Erinnerung haben auch die Bäckerbrötchen nicht so pappig wie heute geschmeckt. Ein „Radeberger“-Bier ist jetzt überall erhältlich und hat seine ehemalige Exklusivität verloren. Unverändert im Geschmack ist Coca-Cola geblieben (die DDR gehörte ab den 70-er Jahren zur globalen „Pepsi“-Zone). Oder die Fischdose „Scomber-Mix“ und Brathering von der Ostsee.

Die Nachwende-90-er Jahre waren ohne Zweifel Aufbruchjahre für Leipzig, der „Aufbau Ost“ wurde hier sichtbarer als woanders, genauso wie ein „Abbruch Ost“. Das Stadtbild hat sich in vielen Vierteln verwestlicht, dennoch blieb der Grundcharakter der Stadt glücklicherweise erhalten. Einmal gab es eine Diskussion, inwieweit Leipzig mehr klotzen als kleckern müsste, im Sinne einer mehr weltstädtischen Silhouette. 1996/97 wollte der Münchner Milliardär und ehemalige Leipziger Manfred Rübesam ein futuristisches „Klein-Manhattan“ am Karl-Heine-Kanal im Westteil der Stadt aus dem Boden stampfen. „In 20 Jahren ist Leipzig die attraktivste Stadt der Welt… Mit der Schwebebahn zum „Olympia-Gelände“ fahren…“ Das war nun in der Tat nicht gerade ein bescheidenes Unterfangen, aber vielleicht hätte man einiges doch verwirklichen können. Aber nein, der damalige Bürgermeister-Import aus Hannover, Lehmann-Grube, bügelte den Investor ab mit den Worten: „Lassen Sie mich mit Ihren Ideen zufrieden!“ (LVZ/Sachsen-Zeitung, 23.1.97). Der Baudezernent war Rübesams Träumen nicht grundsätzlich abgeneigt, und der Stadt wären keine Kosten entstanden… OBM Tiefensee hätte das vermutlich anders gehandhabt.

Die 90-er Jahre waren in der Stadt auch ein Ringen um die Umbenennung von Straßen. Einige Straßennamen, die nach 1945 geändert wurden, waren im alltäglichen Wortschatz sowieso nicht im Gebrauch, vor allem die Eisenbahnstraße statt „Ernst-Thälmann-Str.“ und die Dresdner Straße statt „Straße der Befreiung 8.Mai 1945“. Insgesamt wurden 38 Straßen nach 1989 umbenannt. Nicht unerwartet traf dies für folgende zu: Leninstraße, Straße des Komsomol, Straße der Aktivisten / Bauarbeiter / Völkerfreundschaft / Waffenbrüderschaft (!) / NVA / DSF / Jungen Pioniere. Ferner verschwanden von den Straßenschildern Ho Chi Minh, Karl Marx, verdiente Kommunisten wie Erich Ferl, aber auch Topspion Richard Sorge und Spartakus. Spartakusstraße, das klingt doch toll, oder? Aus Krakower wurde Krakauer Straße, aus Brnoer Brünner. Dran glauben mussten auch ausländische Kommunisten wie Georgi Dimitroff und Maurice Thorez. Besonders häufig wurde im Laufe der jüngsten Geschichte eine Straße in Leipzig umbenannt, die Magistrale vom Zentrum bis zum „Kreuz“ (Stele aus dem Mittelalter) in Connewitz. Vor 1933 „Südstraße“, dann „Adolf-Hitler-Straße“, nach 1945 „Karl-Liebknecht-Straße“; viele Leipziger nannten die Straße noch in den 50-er und 60-er Jahren „Adolf Südknecht-Straße“. Leider nicht wieder ihren alten Namen erhielt die Straße, in der ich wohne. Ferdinand Lassalle musste bislang seinen Platz nicht wieder an Bismarck abgeben. So wie seit 1990 die SPD den OBM stellt, wurden auch viele Straßennamen (re-)sozialdemokratisiert.

Laufe ich heute durch die Stadt, sind es bestimmte Fixpunkte, die eine Brücke zum Gestern schlagen. Eher nicht das Alte Rathaus aus dem 15. Jh. oder das Völkerschlachtdenkmal von 1913, sondern zum Beispiel der „steile Zahn“, das Uni-Hochhaus der ehemaligen Karl-Marx-Universität, der KMU („Kaffee mit Universität“) oder die „Blechbüchse“, jetzt die „Höfe am Brühl“. Begeistert bin ich vom Neubau des „Paulinums“ am Augustusplatz. Nachdem dort über 30 Jahre ein unansehnliches Plattenbau-Bürogebäude der Uni mit dem nicht besonders ästhetischen Marx-Relief thronte, entsteht auf dem ursprünglichen Gelände wieder die 1968 von Ulbricht gesprengte Pauliner-Kirche, fast wie Phönix aus der Asche. Es ist schade, dass sich kleinkariert seit Jahren über eine Glaswand vor dem Altar gestritten wird. Ich freue mich auf die endgültige Wiederauferstehung dieser Landmarke Leipzigs, mit oder ohne Glaswand. Dann erst ist meiner Meinung die auch architektonische Herrschaft der SED über Leipzig optisch im Stadtzentrum endgültig beendet. Meine Oma hätte Tränen in den Augen, wenn sie das noch erleben könnte.

Das ungelobte Land

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