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Studi VZ anno 1980
ОглавлениеStudi VZ oder wie ich „Wutschüler“ wurde. Heute kommunizieren die Jugendlichen weniger persönlich, sondern im Netz, bei Facebook, Studi VZ, Schüler VZ, Twitter, sind in Blogs und Chatrooms. Die hauptsächliche Kommunikationsform zwischen Menschen in der DDR in den 70/80er Jahren war ein Gespräch, direkt, und wenn man Pech hatte, waren noch andere dabei. (Ein passender DDR-Witz: Was ist die Lieblingszeitschrift der Stasi? Die „Hörzu“!).
Von klein auf notierte ich Alltägliches in mein Tagebuch, und für ein Kind auch viel Politisches. Außerdem habe ich noch viel von früher aufgehoben, so die alten Hausaufgabenhefte aus der Grundschule. Darin solche Eintragungen wie am 4.10.72, die man selbst einschreiben musste: „Ich habe beim Fahnenappell gestört.“ Vorzulegen den Eltern zur Unterschrift. Ansonsten war ich stets ein disziplinierter Schüler, bekam wie die anderen ein „Bienchen“ ins „Muttiheft“. Aufbewahrt habe ich auch meine Auto-Anmeldung von 1988 auf einen Wartburg. Erhalten hätte ich ihn dann zwischen 1998 und 2008. Verpflichten musste man sich per Unterschrift zu Folgendem: „Mit Ihrer Unterschrift bestätigen Sie, keine weitere PKW-Bestellung aufgegeben zu haben.“ Und auch amüsant (und tragisch im Einzelfall): „Bei Aufgabe der Bestellung auf dem Postwege geht das Risiko des zufälligen Untergangs zu Lasten des Bestellers…“
Lese ich heute meine Aufzeichnungen aus meiner EOS-Zeit (79-83), bin ich zum Teil erschrocken über soviel Frust, Wut und, ja ideologischen Hass auf die Kommunisten in der DDR. Aber ich war nur das Produkt von Schule und Medien, das im krassen Gegensatz zu meiner familiären Erziehung stand. Dabei waren meine Eltern, beide an der Uni und „Intelligenzler“, keineswegs Widerstandskämpfer, aber eben schon kritisch-distanziert dem Staat gegenüber eingestellt. War man in irgendeiner Form dagegen, hatte das Konsequenzen zur Folge; zum Beispiel bei Ablehnung, in ein ZV-Lager zu fahren (Zivilverteidigung). Eine Situation, vor der ein westdeutscher Student oder Lehrer nie stand. Ein westdeutscher Schüler musste – und das sei ohne Vorwurf gesagt! - auch nie ein FDJ-Hemd tragen oder auf ein „Seid bereit!“ ein möglichst zackiges „Immer bereit!“ antworten. Nicht so in der DDR. Du musst! Sie müssen! Alternativlos, wie eine Kanzlerin zu sagen pflegt(e).
Zurück zu meinen „frühen Erinnerungen“ in Form eines längeren Aufsatzes. Sie enden nach knapp 50 Seiten Handschrift mit dem Fazit: „Ein Staat wie die DDR, ein System, das seinen Bürgern erst die Freiheit „schenkt“, wenn sie alt, Rentner oder invalide sind, gehört auf den Scheiterhaufen der Geschichte.“ Ich schrieb von einer „Zwangsgesellschaft“ DDR und ärgerte mich über die Militarisierung der Schule. Heute hat man so einen Begriff eher verdrängt, lese ich aber dann in den alten Aufzeichnungen einige Details dazu, dann kommen die alten Gefühle wieder hoch. „Du musst die sozialistische Heimat mit der Waffe in der Hand schützen!“, „Du musst dich für drei Jahre bei der NVA verpflichten!“, Wehrunterricht, Wehrlager, Zivilverteidigung - all das hat mich wie die meisten genervt.
Manchmal war es möglich, verbalen Widerstand zu leisten, indem man Literatur aus dem Unterricht umdeutete. Heinrich Manns „Der Untertan“ mit seiner Figur Diederich Heßling oder Theodor Fontanes „Effi Briest“ mit Wüllersdorf und seinen „Hilfskonstruktionen“ zum Beispiel. Nur zu gern hätte ich in einem Aufsatz die „Hilfskonstruktionen“ auf die DDR bezogen und dazu etwas geschrieben. Aber es ging nicht. Selbstzensur. Die Regierenden bestimmten, was in einem Schulaufsatz zu stehen hatte und was nicht. Oder Erich Weinerts „Gedicht eines Unpolitischen“, Emil Pelle, der Spießer. Eine Parallele auf zahllose DDR-Bürger, aber nur in meinem Kopf, nicht auf Papier. Pflichtlektüre war auch Anna Seghers „Das siebte Kreuz“, ein gutes Buch, mit einer interessanten Wortprägung: im Dritten Reich herrschte ein „System lebender Fallen“, durch die Spitzel der Gestapo. Und wieder konnte man keine Parallele im Unterricht oder in der Klausur ziehen…
Großartig hatte man bestimmte Bilder zu finden, u.a. Bernhard Heisigs „Der Brigadier“. In der Tat großartig fand ich schon damals Werner Tübkes riesiges Panorama-Gemälde zum Bauernkrieg (Museum Bad Frankenhausen, es lohnt sich!) und besonders auch Wolfgang Mattheuer. Bei Letzterem spürte ich immer, wie die Kunstlehrerin überlegte, wie tief man in die Allegorien des Meisters eintauchen sollte, ohne dass es zu politisch wird.
Wie zu allen Zeiten und in allen Regimen gibt es solche und solche Lehrer. Die meisten waren angepasst und Mitläufer (und Mitläuferinnen, für die Freunde der Gender-Korrektheit). Normal, menschlich. Das Problem ist immer die Minderheit der Überzeugten und Fanatiker. 1982 war Fußball-EM, und unsere Klasse musste ins ZV-Lager. Im Halbfinale kam es zum legendären 3:3 zwischen Deutschland und Frankreich. Einige Betreuer oder Aufpasser trichterten uns ein, nicht offen, andere nicht so strenge, nicht zu offensichtlich auf Deutschland zu halten. In unserer Baracke waren nach dem 1:3 bestimmt 90% traurig, die anderen eher neutral. Nach dem 3:3 vibrierte die Baracke und nach dem Sieg im Elfmeterschießen brüllten die vielleicht 30 halbstarken Jungs um die 17,18 nur noch aus allen Kehlen: „Deutschland!“ Ein Sakrileg, noch dazu in einer militärischen Stätte der DDR. Das war uns egal. Wir jubelten über ein Fußballspiel. (Ich hab auch immer der DDR-Elf die Daumen gedrückt.) Dieses konterrevolutionäre und antisozialistische Gebaren hatte natürlich ein Nachspiel. Am nächsten Morgen beim Fahnenappell redete ein Verantwortlicher uns ins Gewissen: „Wenn ich noch einmal revanchistische Parolen höre (gemeint war das Wort Deutschland), dann erteile ich Fernsehverbot für das Endspiel!“ War so etwas nötig?
Der Sport war überhaupt ein Ventil, vielleicht das einzige. Besonders, wenn der BFC Dynamo ins Stadion kam. Von einem anderen „besonderen Vorkommnis“ erfuhr ich von einem Kumpel. Im Leipziger Zentralstadion hatten auf einer großen organisierten Friedensdemo etwa 10 Pazifisten ein Plakat entrollt: „Lieber Brücken bauen als Mauern errichten!“ Sie wurden den sogenannten „zuständigen Organen zugeführt“. „Zugeführt“, was für ein verharmlosender Begriff, wie jener bei den Nazis „abgeholt“ oder „Sonderbehandlung“ für die Vernichtung in Auschwitz. Anders endete eine Spontan-Demo in Dresden, von der mir ein anderer Klassenkamerad berichtete. In einem Dresdner Stadion sangen plötzlich Hunderte: „Nieder mit der Es-e-de!“ Den heranstürmenden Stasi-Typen entgegnete man, man sänge gegen die „Sport-Elite Dresden“. S-E-D. Clever oder dreist, aber das hätte auch anders ausgehen können.
Jeden Tag war man regelrecht umzingelt von Parolen. „Wo ein Genosse ist, da ist die Partei“. Das hieß quasi ´ständig´ bei 2 Millionen Mitgliedern. Oder „Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist“ und „Die Zukunft gehört dem Kommunismus“. Ich weiß nicht, wie viele solche Aussagen verinnerlicht haben, einige glaubten daran, ihr gutes Recht. Die Mehrheit aber nicht. Dennoch wiederholte man gebetsmühlenartig, was der Lehrer gerne hörte, um eine gute Note zu bekommen oder einfach, um in Ruhe gelassen zu werden. Dabei musste man gar nicht irgendetwas gegen den Staat tun, um anzuecken. Es reichte bereits, wenn man nichts sagte. Zum Beispiel auf FDJ-Versammlungen. Meine Klassenlehrerin schrieb deshalb einmal in meine Beurteilung, dass ich „zurückhaltend und deshalb die weltanschauliche Position nicht klar erkennbar sei“. Viele DDR-Zeugnisse enthielten solche Passagen.
Auch harmlose Sätze wurden registriert und gegebenenfalls gemeldet. Ein Schüler unserer Klasse sagte zu einem Nachbarn: „Hast du die Nachrichten gehört? Ist was los in Polen!“ (1980). Irgendwie gelangte dieser Satz zu Ohren anderer. Wie gesagt, ein „System lebender Fallen“. Nun, die Stasi war überall, eben „Schild und Schwert der Partei“. Aber am Ende hat es alles nichts genutzt, die Millionen Berichte und Karteikarten. Und all ihre Aufrufe und Losungen. Losungen gab es genug, aber keine Lösungen für die großen und kleinen Probleme im Lande, zumindest keine nachhaltigen.
Konnte man etwas tun? Kurz vorm Abitur tippte ich, offenbar in einer Phase besonderen politischen Frustes und die Armee vor Augen, auf der Schreibmaschine meines Vaters einen Aufruf, „Leipziger Bürger! Wehrt Euch! Nieder mit der Mauer!... Schaffung einer freien und unabhängigen DDR!“ Mit Durchschlag je drei Exemplare. Diese wollte ich dann an verschiedenen Ecken in Leipzig in die Briefkästen werfen. Natürlich tat ich es nicht. Ich wollte nicht ins Gefängnis. Es hätte schon viel Ärger gegeben, wenn sie die Flugblätter bei mir gefunden hätten. Nein, ich war keine Sophie Scholl.
Klassenkameraden schrieben ihren Unmut auf die Tische in der Schule, zum Teil ironisch: „Phrasen sollte man dreschen, sie haben es verdient“, „Hoch Lenin!“, „Die DDR - ein Friedensstaat“, „Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom“, „Let´s go West!“ Auch dies wurde registriert, aber die Schreiber, die „Täter“ wurden natürlich nicht überführt. Tische hatten etwas wie Anonymität; heute, im scheinbar anonymen Internet, lassen sich alle Spuren zurückverfolgen.
Man konnte auch nichts sagen, wenn man etwas sah, was einen rasend vor Wut machte. So stand auf dem Leipziger Hauptbahnhof am Bahngleis: „Der Zug nach Mönchengladbach ist nur bis Eisenach für den Binnenverkehr zugelassen.“ Binnenverkehr, ein Euphemismus sondergleichen. Da beneidete man Westreporter, die – selten genug! – kein Blatt vor den Mund nehmen konnten. Unvergessen hier Lothar Loewe mit seinem Satz „Die DDR-Grenzsoldaten schießen auf Flüchtlinge wie auf Hasen.“ Bei der NVA habe ich vor einem Wachdienst mehrmals den Diensthabenden gefragt, wie denn der Schießbefehl nun konkret zu handhaben sei. Alle drucksten herum und sagten entweder so etwas wie „erst ins Bein schießen“, „erst mal daneben“ bis hin zu „mach was du denkst in der Situation“.
Die NVA zu kritisieren war zu Schulzeiten und danach ebenso tabu wie Kritik an der SED. Das habe ich schon in der Grundschule eingeimpft bekommen. Was ich damals recht merkwürdig fand, war auch der militärische Bezug in Lehrbüchern, wo man es nicht vermutet. In meinem Mathematik-Lehrbuch der 10. Klasse (1981) stand als Übung zu ´Winkelfunktionen´: „Die 122mm-Haubitze der NVA hat einen horizontalen Schusswinkelbereich von 49°. Die maximale Schussentfernung beträgt 11,8 km. Wie groß ist der Bogen an der Peripherie…“ Im Bio-Lehrbuch stand folgender Satz: „Ausgehend von den Erkenntnissen von Marx, Engels und Lenin wurde mit der Errichtung der sozialistischen Gesellschaftsordnung auch der antagonistische Widerspruch zwischen Natur und Gesellschaft überwunden.“ (!) Ein Satz, der dringend zur Biologie gehört.
Zuweilen wurden Dinge auch aufgebauscht. Einmal musste unsere Klasse einen Schulraum renovieren, und dazu wurden die auszutauschenden Fenster mit Farbe gekennzeichnet. Statt eines Kreuzes wie ein großes X machte irgendjemand Kreuze, die wie das christliche Symbol aussahen. Der Direktor war sofort zur Stelle, und die Kreuze mussten geändert werden. Ein anderes Mal wurde nichts zu einem Vorfall gesagt. Ein Schüler war mit seinen Eltern legal nach Österreich ausgereist. Dazu kein Wort der Verdammnis durch die Direktion, der Buschfunk verbreitete die Nachricht jedoch schnell.
Auf große Gegenliebe stieß auch die Maßnahme ab 1982, dass statt der regulären Herbstferien im Oktober (im Studium „Kartoffelferien“) eine Hausarbeitswoche eingeführt wurde, Thema: Auswertung eines längeren Lenin-Textes. Ich hätte ja gar nichts dagegen gehabt, mal Lenin oder Marx zu lesen (ihr dialektisches Denken nützt im Übrigen im heutigen Kapitalismus ungemein!). Aber monatelang nur Lektüre zur deutschen Arbeiterbewegung, endlose Seiten zur SPD und KPD. Ausführlich jeder Parteitag im Wälzer „Geschichte der SED“. Die ganze Geschichte ist sowieso immer nur Klassenkampf, so die gültige Doktrin.
Vieles war auch nicht falsch, die allermeisten Lehrer hochqualifiziert und motiviert. Dieses Einseitige störte indes jeden, der mal mit- oder anders denken wollte. Es war, so meine Einschätzung 1988 als 16-Jähriger, ein „Teufelskreis von Tabus, geistiger Unterdrückung und Verlogenheit.“ Ich könnte es jetzt nicht anders ausdrücken wie vor über 25 Jahren.