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Antragsteller

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„Sie sind nur Verwandter zweiten Grades!“ Dies war die Begründung der Universitätsleitung in Leipzig, warum der Besuchsreiseantrag vom 17.12.87 für den 60. Geburtstag meines Onkels in Hannover 1988 abzulehnen sei. Wenn es irgendeinen Moment in meinem Leben gab, wo man den endgültigen Bruch mit dem DDR-Regime festmachen kann, dann war es dieser. Was heißt ´nur zweiter Grad´? Und das Schlimmste war, die Polizei hat soweit ich weiß meinen Antrag nicht kategorisch abgelehnt, sondern der Uni die Entscheidung überlassen.

Nach dem Besuch von Franz Josef Strauß und anderen erkauften Zugeständnissen konnten ab Mitte der 80er Jahre auch Nicht-Rentner zu bestimmten Anlässen einen Reiseantrag stellen. Ganz legal. Also dachte ich – naiv, wie man mit 23 noch sein kann -, wenn es legal ist, dann versuch es doch mal. Ich stellte also einen Besuchsreiseantrag. Zugegebenermaßen war ich Realist und rechnete nicht mit einer Zusage durch die „zuständigen Organe“ der DDR. Der Punkt war ein anderer, die Reaktion der Universität Leipzig. Nur einen Tag, nachdem ich bei der Polizei meine Unterlagen abgegeben hatte, wurde ich zur Leitung des „Instituts für Afrika- und Nahostwissenschaften“ einbestellt. Wenn ich nach einem Wort suche, um die Situation in diesem sehr einseitigen Gespräch am besten zu beschreiben, fällt mir auch nach längerem Überlegen nur eines ein: Inquisition.

Ich hatte nicht in einer Prüfung betrogen, war nicht betrunken Auto gefahren, hatte mir nichts zu schulden kommen lassen; ich stellte einen gesetzlich erlaubten Besuchsreiseantrag. Ich war wie vor den Kopf geschlagen angesichts einer 4-köpfigen Hyäne, die über mich herfiel. Gefällt es Ihnen im Sozialismus nicht? Ihnen ist wohl nicht bewusst, welche Ehre es ist, dieses exklusive Studium zu haben? Im Übrigen hatte ich nicht eine Sekunde daran gedacht, im Westen zu bleiben. Ich wollte mein qualitativ in der Tat sehr gutes Studium in der DDR beenden. Mein Lebensmittelpunkt war klar Leipzig; ebenso klar, dass ich in Gedanken im Westen war.

Von den vier Inquisitoren von 1987 blieben drei weiter nach der „Wende“ an der Universität Leipzig beschäftigt. Eine Befragerin, Frau W., war nach 1990 ausgerechnet im Personalbüro tätig, so wie zu DDR-Zeiten. Einmal Kader, immer Kader. Sie war zuständig für viele relevante Dinge, ich sah sie dann im Rahmen meiner Promotion 1993 wieder. Erneut war sie zuständig, und erneut musste ich mich an die Machtverhältnisse anpassen. Wenn die DDR irgendwo noch sehr lebendig ist mit damaligen Entscheidungsträgern und mit seinen damaligen Macht- und Denk-Strukturen, dann sind es die Universitäten.

Wie viele Antragsteller auf ständige Ausreise gab es eigentlich insgesamt (lt. diverser bundesdeutscher Quellen ca. 400.000)? Wieviel Prozent wollten nicht weg? Honecker meinte dazu 1989, dass man „denen keine Träne nachweinen werde“, die über Prag oder Ungarn „abhauen“. So geschrieben im „Neuen Deutschland“ (ND), ein großer Fehler, der auch bei Getreuen der SED auf Unmut und Unverständnis stieß. Ein anderes Eigentor war die erfundene „Menthol-Story“, ebenfalls im ND abgedruckt, von einem DDR-Bürger, der angeblich im Zug nach Ungarn mit einer Menthol-Zigarette betäubt wurde (von finsteren westlichen Agenten) und dann in Österreich wieder aufwachte. Eine clevere PR sieht anders aus. Dabei ging es ums Ganze, um den Sozialismus und die Fortexistenz des Staates DDR.

Neben den Antragstellern gab es die „Abstimmung mit den Füßen“. Meine Arabisch-Seminargruppe an der Uni Leipzig bestand, wie erwähnt, am Ende noch aus vier Studenten. Von zehn. 60% haben die DDR verlassen. Einer meiner Kommilitonen wählte einen dramatischen Weg. Er schwamm mit seinen beiden kleinen Kindern huckepack über die Donau. Beim zweiten Mal mit der Ehefrau. Was sagt das über einen Staat aus, dass Menschen ihr Leben riskieren, um diesem Staat zu entkommen?

Übrigens: eine Prophezeiung hat sich bezüglich der DDR nicht erfüllt: Der Letzte macht das Licht aus! Ich vermute, dass die meisten, die in Leipzig „Wir bleiben hier!“ riefen, auch tatsächlich geblieben sind.

Ich hatte nie den Gedanken, einen Ausreiseantrag zu stellen, und dies aus zwei Gründen. Mein familiärer Mittelpunkt war Leipzig, ebenso mein studentischer. Meine Heimat war und ist Leipzig und nicht Rostock oder Regensburg. Eine Antragstellung wäre gleichbedeutend gewesen mit dem Ende hiesiger Studienabschlüsse und aller Auslandsträume als Arabisch- und Französisch-Dolmetscher. Ohne Studium hätte ich auch „in die Produktion“ gemusst. Keine verlockende Perspektive als handwerklich unbegabter Mensch.

Was stetig blieb, war die „Faust in der Tasche“, Frust, ja Hass. Es gibt im berühmten Film „Ben Hur“ eine interessante Szene, als der römische Flottengeneral den Galeerensklaven Hur grundlos auspeitscht und dessen hasserfüllte Augen sieht: „Nr. 41! Deine Augen sind voller Hass. Das ist gut. Hass erhält einen am Leben.“ Aber man kann auch in einer Diktatur nur mit Hass nicht überleben. Manchmal begegnete man als DDR-Bürger den bitteren Realitäten auch mit Humor. Als bekannt wurde, dass die DDR alte Pflastersteine in den Westen exportierte, entstand ein geflügeltes Wort: „Ach, wär´ ich doch ein Pflasterstein, dann könnt´ ich schon im Westen sein!“

In der geistigen Galeere DDR musste man sich als Kopfmensch oft, zu oft, verbal zusammenreißen, mit den Wölfen heulen; manchmal konnte man auch frech widersprechen, wenn möglich; etwas, was gut fürs Gemüt war. Der kleine Widerstand. Aber wenn es hart auf hart kam, knickte man zumeist ein. Man war einer von den Millionen Galileos; nur wenige waren Giordano Brunos. Lieber Hausarrest als Scheiterhaufen.

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