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Die Mauer ist weg!

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Wo ist eigentlich die Grenze? Etwa fünf Meter von mir entfernt stand ein Westberliner Polizist, und ich fragte ihn mit einem suchenden Blick auf dem Asphalt dieses für mich so relevante Detail.

Berlin, Check-Point Charly, 10. November früh kurz vor 7 Uhr. Wie viele andere auch hatte ich am Abend zuvor die berühmte Pressekonferenz von Günter Schabowski im Fernsehen verfolgt und deren unmittelbare Tragweite nicht begriffen. Ich fand kurz nach 20 Uhr im menschenleeren Nikolai-Viertel eine Telefonzelle – ein Unterfangen, was damals nicht leicht war – und rief meinen Vater in Leipzig an. „Wahnsinn! Hast du die „Aktuelle Kamera“ gesehen?! Wenn ich nächste Woche wieder in Leipzig bin, werde ich sofort einen Pass beantragen.“ (Pässe hatten in der DDR nur Reise-Kader, ein Wort, was mit der DDR verschwunden ist, und sonstige besondere Personen.) Zurück in meiner Unterkunft war ich von einem langen Tag Dolmetschen so müde, dass ich nicht nochmals den Fernseher anmachte. Ich war damals zu einem obligatorischen Berufspraktikum bei „Intertext Berlin“, meinem zukünftigen Arbeitgeber. (Arbeitgeber gab es in der DDR nicht, man wurde als Uni-Absolvent zu einem Betrieb „delegiert“.)

Ich verschlief also einen historischen Abend, etwas, was ich mir bis heute nicht verzeihe. Am nächsten Morgen früh um 6 schaltete ich das Radio ein, und da hörte ich das Unfassbare: Die Mauer ist auf. So schnell wie noch nie zog ich mich an und ging schnellen Schrittes zu meiner Arbeitsstätte – in der Mauerstraße.

„Intertext Berlin“, das zentrale Übersetzer- und Dolmetscherbüro der DDR, hatte seinen Sitz in der Mauerstraße, im letzten Haus der DDR. Heute braucht es viel Phantasie, um die Topographie von damals nachzuvollziehen, zumal mein Fensterblick vom Praktikum auf die Häuserwand mit der Zeitungsreklame der „Neuen Zeit“ nicht mehr existiert. Meine letzten 50 Meter zum Hauseingang führten mich entweder die Mauer(straße) entlang, oder ich nahm den Knick in der Mauer mit, direkt am Checkpoint Charly.

Heute nicht. Ich ging – mit dem kleinen blauen DDR-Personalausweis („Persi“) in der Hand – auf die Grenzübergangsstelle zu. Am Tag vorher wäre ich allein dafür verhaftet oder zumindest streng verwarnt worden. Aber nichts. Der Grenzer zeigte auf einen anderen Grenzer hinter einem kleinen Fenster, und dieser stempelte meinen Personalausweis ab. Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Er zeigte nach rechts, und ich ging durch ein Labyrinth von Gängen, und nach vielleicht einer knappen Minute stand ich draußen. Kein Mensch außer mir. Ein gelangweilter Grenzer rauchte eine Zigarette, einen Steinwurf entfernt. Durch meinen Fensterblick im Praktikum „kannte“ ich ja die andere Straßenseite aus ca. 100 Meter Distanz. Also ging ich los. Noch heute bekomme ich da eine Gänsehaut. Ich lief – wie in Trance – auf die andere Seite zu. Eine Welt, die mir 25 Jahre versperrt blieb. Eine Welt, in die man jeden Tag im Fernsehen reisen konnte. Aber dies hier war live. Ich sah die Häuser und dann den besagten Polizisten – in einer „Tatort“-Uniform.

Wo ist eigentlich die Grenze?, fragte ich ihn. Und er zeigte auf eine kleine weiße Linie hinter mir. Ich war also schon im Westen!

In diesem Moment fiel mir ein, was der DDR-Grenzer, der den Ausweis abstempelte, zu mir gesagt hatte: „Bürger! Sie müssen aber bis 8 Uhr wieder zurück sein, sonst sind Sie Republikflüchtling!“ Als gelernter DDR-Bürger musste man zunächst davon ausgehen, dass das stimmt. In diesen verrückten Zeiten allemal. Also, keine Zeit verlieren. Ich wollte ja auch nicht „abhauen“. Aber was kann man in einer Stunde machen? Einmal zum Brandenburger Tor und von der westlichen Seite rüberschauen. Kudamm schaff ich nicht mehr. (Das Problem war hier auch, dass es in der DDR ja keine Stadtpläne von Westberlin gab und man nur ungefähr die Stadt im Kopf hatte.)

Und so wurde ich immer schneller. An der Ecke Zimmerstraße sah ich ein Plakat von Manfred Krug, der Reklame für „Schultheiß Bier“ machte: „Wir haben den besseren Geschmack“. Eine Ecke weiter ein kleines Reisebüro mit dem Aushang „ROM 435 DM“. Wahnsinn! Ist das alles nur ein Traum? Dann erblickte ich einen Zeitungsladen. Ich betrat ihn und fühlte mich wie im Schlaraffenland. „Spiegel“, „Stern“, hunderte von Zeitungen und Zeitschriften. Aber mein Blick blieb haften auf der „Berliner Zeitung“ vom selben Tag: Die Mauer ist auf, prangte in riesigen Lettern auf Seite 1. Ein Zeitdokument, das zeig ich mal meinen Kindern. Da fragte mich der ältere Ladenbesitzer: Na, junger Mann, wat wollnse denn? Ich seufzte innerlich, weil ich dieses kostbare Blatt umsonst in den Händen hielt. Nimmse mit, ik schenk se dir. Voller Glück verließ ich den Zeitungsladen.

Weiter. Jetzt rannte ich los, Richtung Brandenburger Tor. Immer den finsteren Gesichtsausdruck des Grenzers im Kopf und seiner deadline. Unterwegs andere offensichtlich „Ungläubige“ aus dem Nahen Osten. Zwei von ihnen fragte ich nach dem Ultimatum mit der Zeit, aber sie antworteten: „Ja, das haben die mir auch gesagt. Ach, die sind am Ende!“ Und so ging ich weniger schnell durch den Tiergarten, direkt an der Mauer entlang. (Im Nachhinein erfuhr ich, dass ein fünf Meter breiter Streifen hinter der Mauer auch noch DDR-Territorium war.) Schließlich sah ich das Podest, von dem man in den Osten schauen konnte. Ich stieg hoch, und jetzt erst realisierte ich es richtig. Nein, es ist kein Traum mehr.

Wie oft hatte ich auf der anderen Seite Richtung Westen geguckt, voller Wut, voller Ohnmacht. Was hatte ich den SED-Oberen getan, dass sie mich hier einsperren? Zumal es nie mein Plan war, in den Westen zu gehen. Ich bin Leipziger und wohne gerne dort, bis heute.

Ich stieg vom Podest und setzte mich erstmal auf eine Bank im Tiergarten. Was mache ich jetzt? Du kannst nicht gleich wieder zurück, vielleicht machen sie die Grenze ja wieder zu. Wieder für 28 Jahre. Dann wäre ich 53.

Nein, jetzt schaust du dir die Stadt an. Zu gern hätte ich meinen Vater oder meine Oma in Leipzig angerufen, aber womit? Ich hatte kein „Westgeld“. Außerdem bildeten sich vor den Telefonzellen Menschentrauben, alles „Ossis“ mit dem gleichen freudigen Gesichtsausdruck. Also erstmal zurück zum Checkpoint. Dort sah ich den U-Bahn-Eingang Kochstraße. Ich dachte, steig einfach ein, vielleicht fährt die Linie Richtung Stadtzentrum. Fahrkarte? Wenn sie mich als „Schwarzfahrer“ erwischen würden, was könnten sie schon tun? Zufällig hielt gerade eine Bahn. Nichts wie rein. Die Bahn fuhr los, und ich wunderte mich über den Untergrund. Warum fuhr die Bahn so langsam? Warum waren die Gänge so finster? Dann fuhr die Bahn fast im Schritt-Tempo durch eine Station mit altdeutschen Buchstaben (es muss „Stadtmitte“ gewesen sein) – und ein Grenzer der DDR guckte grimmig in den Waggon. Ich verstand das nicht, bis ein Nachbar mir im Berliner Dialekt sagte: Det is doch die Linie übern Osten. Dies war mir neu, woher sollte man es auch wissen. So wie es in Berlin zwei Mauern gab, dazwischen ein endlos breiter Grenzstreifen. Bewundernswert, wie es Menschen überhaupt schafften, diese Grenze zu überwinden.

Dann war ich schon an der Station am Kudamm, und inzwischen bekam ich langsam Hunger. Aber wie sollte ich mir etwas kaufen? Begrüßungsgeld, dieses Wort bis heute ohne Bedeutung für Nicht-Rentner. Ich ging in die erste Bank, glaube eine „Berliner Bank“. Dort verwies man mich – offensichtlich schon etwas genervt – an das Rathaus Schöneberg und drückte mir einen Zettel mit der Adresse in die Hand. Der Stapel mit den Adressenzetteln erschien in seiner Höhe gewappnet für den Ansturm einer Masseninvasion aus China. Also auf zum Rathaus und erst mal Schlange stehen. Zum ersten Mal in meinem Leben stand ich gerne in einer Schlange. Stempel in den Personalausweis, und schon hatte ich 100 Mark, harte Westmark in der Hand. (Die Genossen von der SED bekamen teilweise 200 Mark, sie hatten Personalausweis und Pass und gingen zu unterschiedlichen Banken. Ein Genosse von „Intertext“ ging nur zur Bank rüber, um das Geld zu holen, und dann sofort wieder zurück! Später wurden dann in den riesigen Schlangen auf den Rathäusern noch die Kinder getauscht; Ledige hatten plötzlich Kinder. Ich hab mich für diese Zeitgenossen geschämt.) In der Schlange hörte ich Tausend Dinge, die man sich für die 100 DM kaufen könnte. Meine Idee war jedoch, erst mal zu Karstadt, denn ich wollte etwas bestimmtes, einen Stadtplan. Damals noch mit gut markierten Grenzen.

Dann erspähte ich von weitem einen riesigen Plattenladen, WOM, World of Music. Nach dem Zeitungsladen das nächste Paradies. Es gab alles, und man konnte es einfach kaufen. Ein völlig neues Gefühl. In der DDR gab es auch „Westplatten“, im DDR-Sprachgebrauch Lizenzplatten, aber nur unter der Hand oder zu bestimmten Zeiten. In Leipzig existierte ein Musikladen, „Musikhaus Tappert“ in der Rosa-Luxemburg-Straße unweit meiner Wohnung. Dort stellte man sich Freitag vor der Öffnung um 14 Uhr an die Schlange an – ohne zu wissen, was es gab. Man wusste nur, es gab irgendeine oder manchmal auch zwei Westplatten. Und das Irre, man kaufte die Platten, egal, ob es der eigene Musikgeschmack war oder nicht. Platten waren Tauschware oder gut zu verkaufen (ich habe selbst ab und zu eine begehrte Platte für 100 DDR-Mark gekauft von privat, eine Summe, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann).

Zurück auf dem Kurfürstendamm dachte ich, immer noch mit Restzweifel, ob die Grenze offen bleibt. Du musst jetzt noch unbedingt den Ku´damm hoch und runter. Erstmal zur Gedächtniskirche, dann zum Café Kranzler, wo sich mein geplagter Magen wieder meldete. Aber kann ich mein gutes Westgeld für ein Stück Kuchen ausgeben?

Weiter westwärts. Auf einer Fußgängerbrücke stockte mir der Atem, als ich hinunterblickte. Auf die Schnellstraßenverlängerung der AVUS am Kaiserdamm. Minutenlang starrte ich fasziniert auf die vorbeirasenden Autos. Eine Geschwindigkeit, die man auf der anderen Seite nicht kannte. Ebenso wenig unfassbare vierspurige Straßen – in einer Richtung!

Langsam wurde es frisch, und ich dachte, du musst zurück in den Osten. Wie seltsam das klang. Zurück in den Osten, in ein anderes Land, in ein völlig anderes Land. Ungefähr um 19 Uhr passierte ich meine kleine weiße Linie, diesmal von der anderen Seite. Würde ich wiederkommen? Der Grenzer von früh um 7 Uhr schaute immer noch grimmig, aber er hatte seinen Schrecken verloren. Aber für immer?

Das ungelobte Land

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