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Zettelfalter
ОглавлениеEine, wenn nicht die größte Demütigung für viele DDR-Bürger waren die Wahlen (für viele auch die bestellten Demonstrationen am 1. Mai). Wenn man heute 25 Jahre später als Wähler zu Recht oft frustriert ist, so hat man wenigstens auch die Option, nicht wählen gehen zu müssen. Nicht so in der DDR. Da wurde registriert, wer nicht zur Wahl ging, ja sogar, wann die Leute wählen gingen. An der Universität Leipzig wurden 1986 alle Studenten verpflichtet, spätestens bis 8 Uhr wählen zu gehen. Warum diese völlig überflüssige Schikane?
Im Rückblick wird manchmal der Begriff „Zettelfalter“ benutzt, eine sehr beschönigende blumige Umschreibung. Wen wählte man? Die sogenannte „Wahlliste der Nationalen Front“ als Block. 1981 sah man sogar Wahlwerbung an den Leipziger Straßenbahnen: „Wählt die Kandidaten der Nationalen Front!“ Ging man in das Wahllokal, erhielt man ein A4-Blatt mit der Liste und vielleicht 15-20 Namen darauf, die wiederum offensichtlich nach einer Quote aufgeteilt waren in die SED-Kandidaten und jene der vier Blockparteien (die „Blockflöten“). Es gab auch immer Wahlkabinen. Warum haben die DDR-Wähler sie nicht benutzt?, fragen westdeutsche Historiker, und dies manchmal in einem vorwurfsvollen Unterton. Diese Frage kann nur jemand stellen, der nie in einem System wie der DDR gelebt hat, in einer Diktatur, in einem Unrechtsstaat, oder wie immer man die DDR bezeichnen möchte.
Die allermeisten DDR-Bürger wollten diese Wahlprozedur schnell hinter sich bringen, schon aus Angst vor Restriktionen. Im Wahllokal Zettel abgreifen, ohne einen Blick draufzuwerfen, mit zügigem Schritt zur Wahlurne, Zettel falten und rein in die Urne, und weg an den See oder nach Hause. Es hatte etwas von Absurdistan.
Wie konnte man aber dem Gruppenzwang und den strengen Beobachtern der Wahlkommission entgehen? Nur, wenn man vorwählen ging (eigentlich erstaunlich, dass es diese Möglichkeit gab). Den intensiven Blicken der Wahlkommission entging man trotzdem nicht, aber man war allein mit ihr im Wahlbüro.
Meine erste DDR-Wahl war während der Armeezeit 1984. Ich erinnere mich nicht daran, aber vermutlich stand selbst dort in der Kaserne eine Wahlkabine. 100%. Aber dann kam die berühmte Kommunalwahl im Mai 1989. Der Geist und die Ideen von Gorbatschow, von Glasnost und Perestroika, von Offenheit und Umbau, durchdrangen die Gesellschaft. Man konnte sich – auch als Krypto-Gegner – auf die sowjetischen Klassenbrüder berufen, wenn man etwas kritisierte. Das war neu. Ganz anders als zu „Solidarnosç“-Zeiten in Polen 1980/81, mit Kriegsrecht unter Jaruzelski. Zu Zeiten, wo man in der EOS (Erweiterte Oberschule, 9.-12. Klasse) auf den Besitz von West-Plastiktüten kontrolliert und ermahnt wurde. Zu Zeiten, wo man auch über Proteste unter Studenten in Jena erfuhr.
Diesmal war die Stimmung anders. Man wusste, dass viele Bürger legal ausgereist waren; überall in Leipzig fuhren Autos mit einer kleinen weißen Schleife an der Radio-Antenne, das Symbol, ´seht her, ich bin Antragsteller auf Ausreise´. Auch bei der Frühjahrsmesse im März 89 in Leipzig herrschte eine andere Stimmung. Eine Mischung aus stummer Wut und zartem Mut, irgendwas zu tun. Es muss sich was ändern.
Man las plötzlich kritische Leserbriefe in den Zeitungen, sogar im Zentralorgan der SED, dem „Neuen Deutschland“ (interessant, dass dieser Name in der DDR geändert wurde). Mehr aber in lokalen Blättern wie dem „Sächsischen Tageblatt“. Man las von Umweltaktivisten, Beschwerden über bestimmte Versorgungsengpässe, jedoch nichts radikales Politisches. Vielleicht war es auch ein toleriertes Ventil von oben. Und man hatte einen neuen mächtigen Verbündeten: Michael Gorbatschow. Später wurde immer wieder ein Satz von ihm zitiert: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ Aber die SED-Mächtigen haben diesen Satz nicht ernst genommen. Zum ersten Mal seit 40 Jahren hieß es nicht mehr: „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“
Kurz: die Stimmung war schlecht. Und nun diese Wahlen. Ich war Student im 4. Studienjahr, wenige Monate vorm Diplom und einem sicheren und interessanten Arbeitsplatz in Berlin. Kann ich meinen Studienplatz, meine berufliche Perspektive riskieren wegen einer Stimme? Das bringt doch nichts. So dachten die meisten, die allermeisten. Insofern dürften die üblichen Zahlen um die 99% durchaus gestimmt haben. Aber ich dachte, wie offenbar viele andere ebenso, diesmal muss es sein.
Ich ging einige Tage vorher, am 2.5., ins Vorwahllokal Leipzig-Mitte, im Standesamt am Ring. Angekommen vor dem Wahllokal lugte ich hinein und sah einen riesigen Saal, und niemand drin außer der Wahlkommission. Ich musste mich erstmal auf eine Bank setzen. An die zehn Minuten schaute ich auf den offenen Eingang des Wahlbüros – kein Wähler war inzwischen gekommen -, dann stand ich auf und ging zügig zur Wahlkommission, die mir ebenso zügig den „Wahlvorschlag“ der Nationalen Front überreichte.
Jetzt oder nie! Zielstrebig und mit schnellen Schritten eilte ich zur Wahlkabine und spürte förmlich die Blicke der Wahlkommission im Nacken. Aber jetzt war es sowieso zu spät. Also rein in die Kabine, den mitgebrachten und mehrmals getesteten Kuli aus der Jacke geholt – um dann jeden Kandidaten auf der Liste sauber, einzeln und vollständig durchzustreichen. Wenn ich schon in die Kabine gehe, dann wollte ich auch eine Gegen-Stimme abgeben. Man konnte ja nicht wählen, sondern nur dagegen oder dafür stimmen. Ich bin überzeugt, dass die meisten das gar nicht wussten, wie man dagegen stimmen konnte. Da musste man sich vorher informieren; ich denke, ich hatte es so beim „Kennzeichen D“ im ZDF gesehen. Vom „imperialistischen Klassenfeind“ lernen, heißt richtig wählen lernen…!
Ein großes Kreuz durch alle Kandidaten quer über das ganze Blatt war nur eine ungültige Stimme. Und das dauert eine gefühlte Ewigkeit, alle Namen einzeln und jeden Buchstaben des Namens durchzustreichen. Ich fühlte mich förmlich durchbohrt durch den Vorhang der Wahlkabine. Dort hing, besser: baumelte, übrigens ein stumpfer Bleistift (!) für die Wähler bereit, dazu eine komische bastmattenartige Schreibunterlage. Selbst hier wurde man noch gedemütigt. Wer seinen Kuli vergessen hatte, war umsonst in die Kabine gegangen.
Ich überprüfte nochmals, ob ich alle Namen erfasst hatte, und ging dann, denk ich, noch schneller, zur Kommission, die mich noch strenger als zuvor musterte. Widerwillig zeigten sie auf die Urne, und im Vorbeigehen nach draußen glaubte ich zu entdecken, wie einer der „Wahlmänner“ ein Kreuz in eine Wählerliste machte. Vermutlich bei meinem Namen. Jetzt war ich bestimmt ein neuer Staatsfeind - und ich war in diesem Moment glücklich darüber. Ich war kein Widerstandskämpfer (so wie viele sich, gerade an der Uni Leipzig, nach 89 gerierten), aber dieses eine Mal wollte ich diese Farce nicht mitmachen. Denn was hätten sie auch tun können? Mich am nächsten Tag zum Dekan bestellen? Also, Herr Kühnel, wir haben erfahren, dass Sie gestern in der Wahlkabine waren. Haben Sie etwa gegen den Sozialismus gestimmt?
Ich war das ganze Studium über kein sogenannter Reisekader. Als Student der Romanistik durfte ich nicht nach Frankreich oder Italien fahren, als Student der Arabistik nicht mal ins befreundete (Süd-)Jemen oder ins noch mehr befreundete Libyen Gaddafis. Ich habe auch kein Leistungsstipendium (300 statt 200 DDR-Mark, und 100 M hatten viel Kaufkraft) bekommen trotz sehr guter Studienleistungen, da ich mich hartnäckig weigerte, eine „gesellschaftliche Funktion“ zu übernehmen. Ironie der Entwicklung: ich erhielt es dann doch im 4. und 5. Studienjahr, und zwar aus Quotengründen, da von den ursprünglich zehn Studenten unserer kleinen Arabisch-Seminargruppe bis Oktober 89 nur noch vier (!) übrig waren. Alle anderen sind von Studienaufenthalten im NSW, dem „nichtsozialistischen Wirtschaftssystem“, nicht zurückgekehrt bzw. über Ungarn in den Westen geflohen. Darunter gerade die Überzeugten, die reisen durften. Ein Lehrer wunderte sich stets, dass nicht ich, der Renitente, abhaute, sondern sogar die Genossen das Weite suchten.
Indes, meine Gegenstimme blieb ohne – spürbare – Konsequenzen. Und ich freute mich am nächsten Tag über die Wahlstatistik in den Zeitungen und zählte die Gegenstimmen in absoluten Zahlen und in Prozenten. Da gab es Wahlbezirke mit „nur“ 98% oder unfassbaren 95% Ja-Stimmen. Man kannte als Resultate ja nur 99,95 oder 99,98%. In Plauen waren es, wenn ich mich recht erinnere, sogar offiziell lediglich 93%. Ein wahrer Hort der Konterrevolution!
Im ersten Moment war ich erfreut, um dann die Zahlen mit meinen eigenen Beobachtungen zu vergleichen. Denn ich hatte mich im Wahlbüro Leipzig Konradstraße als Wahlbeobachter registrieren lassen, zum ersten Mal. Bislang hatte sich niemand weiter für die Auszählung interessiert; diesmal standen noch 5,6 andere interessierte Bürger, meist Typ alternatives Outfit, im Wahlbüro und schauten den Auszählern über die Schulter. Ich hatte einen einfachen Zettel mit und notierte die Stimmabgaben und kam am Ende auf unglaubliche fast 10% Gegenstimmen für den Wahlbezirk Leipzig Zentrum-Ost.
Zum Vergleich hier die offiziellen Angaben aus dem „Neuen Deutschland“: Wahlen Volkskammer 1986: 0,06% Gegenstimmen (absolute Zahl: 7512), meiste Nein-Stimmen in Treptow und Pankow, je 0,21 %, Aue 0,1%, Leipzig 0,05%. Dann die Kommunalwahlen 1989: 1,15% Gegenstimmen (absolute Zahl: 141.845), Schwerpunkte der Nein-Stimmen Potsdam-Land mit 4,14%, Leipzig 2,29%, Dresden 1,95% und Berlin 1,37%.
Als ich nun am 8.5.89 die Zahlen im ND und in der LVZ las, war ich begeistert von der Zahl von 142.000 Gegenstimmen, obwohl ich mir sicher war, dass die echten Zahlen höher sein mussten. Ich stellte mir diese 142.000 Menschen vor, anderthalb mal das volle Leipziger Zentralstadion mit seiner damaligen Kapazität von 100.000 Zuschauern. Und ich war einer von ihnen. Darüber freue ich mich bis heute.
Warum haben diese bornierten Typen im Politbüro nicht einfach die realen Zahlen genannt? Selbst die Opposition sprach von höchstens 10-15% Gegenstimmen. 90% Zustimmung wäre doch ein Riesenergebnis für die SED, für den Sozialismus gewesen (oder vermutlich 95% 1981 und 1986). Warum diese plumpe, offensichtliche Fälschung? Hätten einige mal einen Moment nur darüber nachgedacht, die echten Zahlen zuzugeben, wer weiß, wie die Geschichte weitergegangen wäre. Oder man hätte nicht im „Block“ abstimmen lassen, sondern nach Parteien.
Am Wahltag spielte auf dem Markplatz von Leipzig übrigens das Standmusikorchester des MDI, des „Ministeriums des Innern“. Wie passend!