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9. Oktober 1989

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Teil I

Der 9. Oktober gilt als Tag der Entscheidung für die Wende, besser gesagt, das Ende der DDR. Man hörte den besorgten Aufruf von Kurt Masur und fünf mutigen Leipziger Bürgern im Stadtfunk, die Stimmung in Leipzig und überall in der DDR war geprägt von Angst und Unsicherheit.

Ich war in Berlin wegen eines Praktikums und nicht in Leipzig, meiner Heimatstadt. Was würde geschehen? Die Nervosität erreichte ihren Höhepunkt. Zwei Tage zuvor feierte sich Honecker und sein Regime, zelebrierte mit einem Aufmarsch den „Tag der Republik. In Berlin Kontrollen an wichtigen Straßen und Kreuzungen. Um den „Palast der Republik“ sammelten sich Menschenmassen. Neu war, dass bereits über 500 Meter vor der Grenze am Brandenburger Tor kein Passieren mehr möglich war. Volkspolizisten stellten sich in den Weg: Bürger, gehen Sie weiter! Was ist hier los? Nur Auserwählte „Unter den Linden“? Sollten die Menschen Gorbatschow nicht sehen? Nein, es gab einen ganz anderen Grund. Ich erinnere mich nicht mehr, wer mir dies sagte: Es ist am 7. Oktober ein Massendurchbruch von 1000 Bürgern am Brandenburger Tor geplant. Ich war elektrisiert. Sie könnten nicht 1000 erschießen. Und ich dachte an Ronald Reagan und seinen Ausruf 1987: Mister Gorbachev, tear down this wall!

Ich hatte bis zum Nachmittag für den stellvertretenden jemenitischen Bildungsminister gedolmetscht und wartete im Aufenthaltsraum eines sehr spezifischen Gebäudes auf einen möglichen Einsatz Dieses Gebäude in der Nähe der Jannowitzbrücke war, so stand es zumindest am Eingang, ein Tagungshotel des FDGB, des Gewerkschaftsdachverbandes der DDR. In Wirklichkeit ist das Haus eine Art Neben-Stasizentrale gewesen, nur nicht so bekannt wie die berühmte Normannenstraße. Ich saß dort ab etwa 18 Uhr in der Kantine und fühlte mich so fremd wie noch nie in einer Umgebung. Als vermutlich einziger Parteiloser, Nicht-Stasi-Mitarbeiter, -IM, -OIBE (Offizier im besonderen Einsatz) oder was es sonst noch alles gab, beobachtete ich voller Aufregung das hektische Treiben in der Kantine und in den Fluren des „Gästehauses“.

Am 9. Oktober musste eine Entscheidung in Leipzig fallen. In der „Leipziger Volkszeitung“ hatte ein gewisser Kommandeur Lutz von der Betriebskampfgruppe „Hans Geiffert“ geschrieben, dass der Sozialismus gegen die Konterrevolution verteidigt werden müsse, wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand! Wie würde sich die neue Riege unter Krenz verhalten, wie Armee und Polizei? Gibt es eine chinesische Lösung? Endet alles wie am 17. Juni 1953 mit Gewalt und Panzern?

Auch die Universität Leipzig hatte ihre eigene Kampfgruppe, die Kampfgruppenhundertschaft „Gerhard Harig“. Die UZ, die Universitätszeitung, stellte anlässlich ihres 15jährigen Bestehens diese Kämpfer mit Foto vor. „Jederzeit einsatzbereit für den sicheren und zuverlässigen Schutz des Sozialismus“, lautete der Titel des Artikels. Vorgestellt werden „Gruppenführer, Kämpfer, Truppführer“, in eigentlichen Beruf Mathematiker, Wirtschaftswissenschaftler, Tierärzte, Linguisten. Einer der Kämpfer auf dem Foto war einer meiner Französisch-Dozenten. Wenn es in Leipzig zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen wäre, hätte ich als Demonstrant meinem Lehrer von der Universität gegenüber stehen können.

Meist sprechen Originaldokumente am besten für sich, um sich ein Urteil zu bilden. „Werktätige des Bezirkes (Leipzig) fordern: Staatsfeindlichkeit nicht länger dulden – Die Angehörigen der Kampfgruppenhundertschaft „Hans Geiffert“ verurteilen, was gewissenlose Elemente seit einiger Zeit in der Stadt Leipzig veranstalten… Wir sind bereit und willens,… diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand. Kommandeur GÜNTER LUTZ im Auftrag der Kampfgruppenhundertschaft „Hans Geiffert“ (LVZ 6.10.89). Dies war die Lage vor der später berühmten Demonstration am 9. Oktober. So hatte noch niemand den Menschen in Leipzig mit militärischer Gewalt gedroht. (Was ist eigentlich aus diesem Kommandeur geworden? Nun, vielleicht ist er heute bei der Bundeswehr, leitet ein Autohaus oder sitzt irgendwo in einem Stadtrat. Mich würde das überhaupt nicht wundern).

In der Rückschau wurde oft spekuliert, wer nun das Verdienst hat, dass in Leipzig nicht geschossen wurde. Günther Schabowski äußert sich in seinem Buch „Das Politbüro“ (rororo 1990) nur sehr vage. Gregor Gysi, ein gewöhnlich gut informierter Zeitgenosse, wird im ND vom 6.11.89 folgendermaßen zitiert: „… er wisse von Leipziger Kollegen (?), dass Egon Krenz am 9. Oktober in Leipzig die Hauptverantwortung für die Entscheidung zur Vermeidung von Gewalt trug. Damit habe er „einen Beitrag zur Rettung des Landes geleistet…“ In seiner Darstellung „Herbst ´89“ (neues leben 1999) referiert Egon Krenz erstaunlicherweise nur sehr knapp zu diesem doch so wichtigen Tag der DDR-Geschichte. Unbestritten war Krenz quasi der Oberbefehlshaber (mit Mielke?) der bewaffneten Organe, aber vermutlich hat er, wenn Gysis Darstellung stimmt, die Gewaltoption abgelehnt, nachdem die Stimmung und die Gefechtsbereitschaft in verschiedenen Truppen bekannt wurde. Sollte es diesen Nicht-Schieß-Befehl gegeben haben, so gebührt Krenz dafür Respekt. Meine Beobachtung ist etwas anders gewesen; vor Ort in Berlin habe ich gehört, dass 300 Panzer mit laufendem Motor um Leipzig zusammengezogen waren und dass Egon Krenz nach Leipzig geflogen ist, um sie zu stoppen… Dieses wichtige Detail der DDR-Geschichte wird wohl nie geklärt werden.

Zurück nach Berlin ins „FDGB-Hotel“. Pausenlos klingelten irgendwo Telefone. Unteroffiziere suchten ihre Generäle, rannten durch die Flure, um sie ans Telefon zu bekommen. Und die Telefone klingelten bis etwa 20 Uhr. Die Atmosphäre in dieser für mich Höhle des Löwen war unbeschreiblich. Hochrangige in Uniform saßen apathisch an ihren Kantinentischen und tranken Bier. Stumm. Mit ratlosen Gesichtern.

Ich dachte an mein Leipzig, an die Demonstranten, an Kommandeure vom Schlage Lutz. Da kam ein Offizier aufgeregt in die volle Kantine und sagte mit versteinertem Gesicht: Genossen, die Kampfgruppen in Leipzig verweigern den Befehl!

Atemlose Stille. Kein Wort. Und ich? Ich wäre am liebsten an die Decke gesprungen vor Freude und Glück, musste einen Jubelschrei unterdrücken. Ich dachte nur eins: Das war´s! Das ist das Ende für diese Leute hier.

Eine Stunde später erhielt ich den Anruf, dass meine Arbeit für heute beendet ist. Ich fuhr schnell mit der S-Bahn in meine Unterkunft und saugte die Bilder vom Fernsehen aus Leipzig in mich hinein, unglaubliche Aufnahmen von Roland Jahn und seinen Mitstreitern, die versteckt von der Kirche neben dem Hotel „Fürstenhof“ gedreht hatten. 70.000 Demonstranten in Leipzig, „Keine Gewalt!“, „Schließt euch an!“…

Das ungelobte Land

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