Читать книгу Blutdorf - Rolf Eversheim - Страница 12
Оглавление6. Kapitel
Pfarrer Lambrecht hatte längst kapituliert, dabei schienen sich die Leute im Dorf entgegen des Zeitgeistes zu verhalten: neunzig Prozent katholisch, keine Kirchenaustritte, die Sonntagsmesse war stets gut besucht und für so gut wie jeden öffentlichen Akt wurde der Segen der Kirche angefordert. Nein, nicht erbeten: angefordert! Lambrecht war zum Büttel und zur Marionette der Leute geworden, die über das Dorf herrschten und nur an ihren eigenen Vorteil dachten, aber wöchentlich ihren Heiligenschein polierten – selbst wenn sie wenige Minuten vor dem Gottesdienst noch außerehelichen Geschlechtsverkehr hatten und mit ungewaschenen Händen zur Kommunionbank kamen. Lambrecht kam es so vor, als trieben sie es nur außerhalb der Ehe. Ihn ekelte. Und dann der Umgang mit der Natur: Jeder Quadratzentimeter Erde wurde ausgelutscht und mit Klärschlamm und Gülle aus Holland vollgepuddelt. Was eben ging, wurde als Bauland ausgewiesen. Glücklich, wenn man mit der Familie des Bürgermeisters verwandt war. Pech, wenn man sich erdreistete, ihm zu widersprechen.
Das Dorf hatte so manchen Bürgermeister kommen und gehen sehen, doch der jetzige war der Unheimlichste. In allem vertrat er extreme Ansichten. Nie war er bereit, auch nur einen Millimeter von seiner Meinung abzuweichen. Wenn es nicht in sein Weltbild passte, ignorierte er Sachargumente vollständig. Seine Welt war das Dorf – und dessen Grenzen markierten die Grenzen seines eigenen Horizontes. Lambrecht konnte nicht einmal sagen, dass Heinrich Meier bewusst bösartig war. Mit seiner Art und immerwährenden Rastlosigkeit hatte er unbestritten auch einiges für das Dorf erreicht – und die Polarisierung dabei bewusst in Kauf genommen. Willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein schien sein Motto zu sein.
Heinrich Meier schien allerdings einer der wenigen im Dorf zu sein, der eheliche Treue übte. Vielleicht, weil er seine Frau liebte. Aber das taten andere, die unterm Zaun grasten, auch. Womöglich aus Prinzip. Sein Vater hatte den Ältesten bestimmt auch moralisch eingenordet. Vielleicht auch deshalb, weil er alles an sich zog, ihm die Aufgaben ständig immer mehr über den Kopf wuchsen und er deshalb weder Zeit noch Gelegenheit hatte, sich anderweitig umzuschauen. Jedenfalls würde er die drohenden Blicke am Sterbebett des alten Meier nie vergessen. Was musste die alte Meierin auch ihr Familiengeheimnis bei ihm beichten. Er hatte es gar nicht wissen wollen. Jetzt begleitete es ihn auf Schritt und Tritt.
Lambrecht hatte gelernt, vorsichtig zu sein. Sein Versetzungsgesuch war schon zweimal in Trier abgelehnt worden – und jedes Mal wusste das Dorf es vor ihm. Das hatte ihn viel Autorität gekostet. Er hatte gelernt, mit den Wölfen zu heulen, denn so lebte es sich leichter, als gegen den Strom zu schwimmen. – In diesem Dorf hatte niemand eine Chance, damit zur Quelle zu kommen. Doch am vergangenen Sonntag war ihm der Kragen geplatzt und er hatte sich auf der Kanzel in Rage geredet. Der Restalkohol, den er vom formidablen Besäufnis mit dem einzigen Menschen, dem er wirklich vertraute, noch in der Umlaufbahn hatte, dürfte dabei ausschlaggebend gewesen sein. Nun war sie raus, seine Schimpfkanonade auf die doppelte Moral und die Verlogenheit im Dorf: »Wenn ihr wollt, dass dieses verfluchte Land wieder heilige Erde wird, dann kehrt um und kommt zur Beichte!« Was hatte er nur für einen Stuss gepredigt. Worte waren wie Pfeile: Einmal abgeschossen kann man sie nicht mehr zurückholen. Ett es wie et es, dachte Lambrecht. und et hätt noch emmer joot jejangen. Eine Gänsehaut breitete sich über seinen ganzen Körper aus. Lambrecht versuchte, seine Angst zu verdrängen.
Vielleicht kam ja tatsächlich einmal jemand zur Beichte. Man sollte die Hoffnung nie aufgeben. Seit fast zwanzig Jahren saß er jeden Werktagabend von 19: 00 bis 20: 00 Uhr im Beichtstuhl – auch wenn seit Jahren niemand mehr kam, außer dem ein oder anderen Mütterchen, das eh nichts ausgefressen hatte. Zuletzt kamen selbst die nicht mehr, aber Lambrecht blieb seiner Gewohnheit treu, vor allem deshalb, weil er im Beichtstuhl wirklich seine Ruhe hatte. Er las im Brevier oder meditierte. Meistens nahm er sich allerdings einen Eifelkrimi mit. Dort störte ihn wenigstens niemand.
Doch was war das? Es war noch jemand in der Kirche. Die Kirchentür hatte zwar nicht geknarrt, aber Pfarrer Lambrecht spürte es sicher. Er schlug den Krimi leise zu, knipste die kleine Lampe im Beichtstuhl aus und lugte vorsichtig in das Dunkel hinaus. Schritte kamen näher. Da schien wirklich jemand zur Beichte zu kommen. Lambrecht konnte es nicht glauben. Gottes Mühlen mahlten langsam aber sicher. Doch wenn der da draußen nicht durch die Tür gekommen war, musste er das Geheimnis kennen. Lambrechts Angst wuchs. Es waren nicht mehr viele, die das Geheimnis kannten, und die waren zu allem fähig – außer zum Beichten.
Die Schritte kamen näher und langsam nahm der dunkle Schatten menschliche Gestalt an. Dem Pfarrer stockte der Atem. Das konnte nicht sein! Das war unvorstellbar! Rasch zog er sich in den dunklen Beichtstuhl zurück, um den Schein der Anonymität zu wahren, die dem Besucher ein Gefühl der Sicherheit gab. Vielleicht geschahen ja doch noch Wunder und er wollte die Beichte bei ihm ablegen.
Als Lambrecht merkte, dass sein Mörder die Tat, die er hätte beichten können, wenige Augenblicke später beging, war es zu spät. Pfarrer Lambrecht würde niemandem mehr die Absolution erteilen.