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7. Kapitel

Das Wochenendhausgebiet Im Strohdell, am oberen Ortsrand von Königsfeld gelegen, war wie geschaffen für ihre Unternehmungen. Was immer sich die Verantwortlichen seinerzeit dabei gedacht haben mochten: Strohdell war ein Eldorado für alles, was niemanden etwas anging – nicht einzusehen, versteckt, kein Publikumsverkehr, ausschließlich unbefestigte Wege, keine Spaziergänger und nur wenige Mitbewohner, die ebenfalls in der Regel darauf bedacht waren, möglichst wenig Kontakt zu den anderen zu haben. Nichts sehen und nicht gesehen werden lautete das inoffizielle Motto der Siedlung.

Dabei war es Zufall gewesen, dass er das Haus in der Siedlung erworben hatte, und dem glücklichen Umstand geschuldet, dass ein älterer alleinstehender Mann plötzlich ins Pflegeheim musste. Dessen Familie hatte sein Wochenendhaus, das ihm als Wohnsitz gedient hatte, gern gegen Bargeld verkauft – und Bargeld hatte er immer.

Fritz Meier war stolz auf seinen Coup. Sollten seine Brüder sich doch auf dem maroden Hof kaputtschuften, er war aus der Nummer raus. Nachdem der Alte gestorben war, hatte er noch eine Anstandsfrist von einem Jahr gewahrt, dann war er vom Meier-Hof weggezogen und hatte seitdem unter keiner Kuh mehr gelegen. Es war absolut sinnlos, immer mehr zu schaffen, damit durch noch mehr Selbstausbeutung die fallenden Erzeugerpreise für Milch und Fleisch ein Stück weit aufgefangen wurden. Sein ältester Bruder hatte Zeter und Mordio geschrien, doch der konnte ihm nichts mehr. Mit dem Tod des Alten hatten sich die Machtverhältnisse auf dem Meier-Hof neu sortiert.

Das kleine Wochenendhaus mit dem Flachdach war zwar in keinem besonders guten Zustand gewesen, als er es gekauft hatte, aber das war ihm egal. Dafür lag es am Kohlweg und nicht in einer der Sackgassen, wie die meisten der anderen Häuser. – Ein guter Fuchsbau hatte immer zwei Ausgänge. Als Erstes hatte er das Haus mit Alarmanlagen und Überwachungskameras gesichert, denn Fritz Meier hatte etwas gegen unangemeldeten Besuch. Also bei sich. Er hatte sich parallel eine bürgerliche Existenz aufgebaut, damit niemand auf dumme Gedanken kam. Da Beziehungen nur dem schaden, der keine hat, war es ihm gelungen, eine Anstellung beim Ordnungsamt der Stadt Bad Neuenahr zu bekommen. So war er nicht nur über jeden Verdacht erhaben, sondern bekam auch während seiner Dienstzeit ganz viele Informationen darüber, wie und wo er sich nach Dienstschluss noch einmal umsehen sollte.

Seine Geschäfte, wie er es nannte, liefen richtig gut; viel besser und vor allen Dingen viel leichter als erwartet. Er hatte lange überlegt, welchen Geschäftspartnern er trauen konnte, und sich dann für einen Antiquitätenhändler aus Belgien und eine handfeste Schönheit aus Polen entschieden, die ganz offiziell in Bad Neuenahr ein kleines Massageinstitut mit dem vielversprechenden Namen Karma-Massage betrieb – Happyending inbegriffen. Helena hatte ein goldenes Händchen, präziser gesagt: ein goldenes Füßchen. Ihre Kunden liebten sie. Ob nackt, in Nylons, Socken oder in High Heels: Helena war vielseitig begabt. So manche Senioren, die der Tristesse ihrer Auffanglager für ein paar Augen- und Lichtblicke entflohen, schätzten es. Jedenfalls brachte es mehr Entspannung als der Besuch im Spielcasino, dessen gute Zeiten genauso lange zurücklagen wie die der Alten. Alle drei hätten sie ein genügsames bürgerliches Leben mit ihren Berufen führen können, doch das wollte keiner von ihnen. Sie hatten Lust auf Reichtum und auf ein Leben abseits von Kleinbürgern und Spießigkeit. Obwohl … Eine Ausnahme gab es.

Zufrieden öffnete Fritz ein Bitburger Stubbi. Dem Bier aus der Heimat blieb er treu, so wie die meisten Eifeler. Sollten die anderen doch das Gebräu von Oettinger in sich reinschütten. Das war vielleicht ein Premiumbier für die Schneckenfallen, für den menschlichen Verzehr aber war es höchstens in Ausnahmefällen geeignet. – Er konnte sich allerdings so einen Fall nicht vorstellen. Die Tagesschau fing gerade an, als er den ersten tiefen Schluck aus der kleinen bauchigen Flasche nahm.

Mitten in diesen Genuss hinein meldete sich sein Handy mit dem Klingelton Live is life, den er den Anrufen von Helena zugeordnet hatte. Mürrisch nahm er das Gespräch an: »Was is?«

»Was iss? Was iss?« Helenas Aussprache war polnisch geprägt und guttural-erotisch. Fritz fand dies besonders attraktiv, wenn Helena sauer war – so wie jetzt. »Ich werde dir sagen, was iss, verdammt noch mal. Die Geschäfte laufen aus dem Ruder und du fragst nur: Was iss

Schweigend hörte er Helena zu, ohne sie zu unterbrechen. Der Versuch wäre auch sinnlos gewesen, wie er wusste. Mit einem »Ich kümmere mich drum« beendete er das Gespräch.

Er öffnete ein weiteres Stubbi und holte aus dem Kühlschrank einen Eifel-Gin. Den hatte er auf seiner letzten Rückfahrt von Belgien in der Monschauer Senfmühle gekauft. Nach alter Hausrezeptur werden Wacholderbeeren unter Zusatz von handgesammelten Eifeler Kräutern mit unserem feinen Weizendestillat mazeriert, stand auf der Flasche. Er musste zugeben, dieses Zeug schmeckte tatsächlich. Und gesund musste es auch sein. Er hatte irgendwo gelesen, dass die britische Armee sich während der Besatzungszeit in Indien mit dem täglichen Genuss von Gin-Tonic vor Malaria geschützt hatte. Dass die im Tonic-Wasser enthaltene Chinarinde ein altbekanntes Heilmittel gegen Malaria ist, war ihm nie zur Kenntnis gekommen, das war auch weniger sexy als gesunder Alkohol.

Er drückte auf die Wahltaste eines Prepaid-Handys. Das war eine der Vorsichtsmaßnahmen, um ihre gegenseitigen Telefonate zu schützen. In jedem zweiten Fernsehkrimi wurden die Täter ja mittlerweile mit Telefonlisten der Provider überführt und eine Handysperre schien auch keiner der Schwerverbrecher eingerichtet zu haben, dabei machte das heute jedes Schulkind. Er fand die Krimi-Drehbücher in der Regel sehr wirklichkeitsfern. Den abgestumpften Leuten, die tagein, tagaus vor der Glotze hockten, um kein eigenes Leben führen zu müssen, schien das allerdings egal zu sein oder sie wussten es einfach nicht besser.

Marcel Leclerc ging sofort ran. Fritz wusste, dass er zuvor den Klingelton Im Wald da sind die Räuber zu hören bekommen hatte. Schwachkopf hatte Fritz ihn für diese Wahl genannt. »Hi, Fritz, möchtest du wissen, wie mein rechtschaffener Antiquitätenladen hier im liebreizenden Lüttich läuft? Bestens, sage ich dir, bestens, mein Lieber.« Leclerc gab sich ausgesprochen gut gelaunt.

»Nein, Marcel, ich möchte wissen, wieso auf der anderen Seite der Grenze hinter vorgehaltener Hand erzählt wird, dass bei dir in Lüttich nicht alles mit rechten Dingen zugeht.«

Leclercs gute Laune war schlagartig verschwunden. »Wer sagt das?«

»Es spielt keine Rolle, wer das sagt, sondern dass es gesagt wird. Raus mit der Sprache. Was ist los bei dir? Wie kommen diese Gerüchte in Umlauf?«

Wie immer, wenn Leclerc aufgeregt war, färbte sein wallonischer Akzent die Sätze noch deutlicher, als er es ohnehin schon tat: »Was soll schon sein, Fritz? Ich habe hier ein kleineres Problem zu lösen. Mach dir keine Sorgen.«

»Und ob ich mir Sorgen mache, Marcel, ganz große sogar. Also raus mit der Sprache!«

»Das Finanzamt ist seit zwei Tagen zu einer unangemeldeten außerordentlichen Betriebsprüfung hier im Antiquariat. Sage und schreibe drei Staatsdiener drehen jeden Stein um. Es ist zum Wahnsinnigwerden.«

Fritz Meier wurde schlagartig aschgrau im Gesicht. Mit vielem hatte er gerechnet, aber dass ausgerechnet das Finanzamt drohte, hinter ihre Geschäfte zu kommen, war noch viel schlimmer, als er befürchtet hatte. Wenn Helenas Kunde schon davon wusste, wer noch alles?

Helena war ein Genie. Zuverlässig und diskret versorgte sie Fritz mit Informationen, an die sonst niemand herankam. Vollgepumpt mit Testosteron vergaßen ihre Kunden oft jede Vorsicht, wenn Helena sie umsorgte und ihnen Anerkennung und Bewunderung schenkte. Die meisten Männer bekamen zu Hause weder das eine noch das andere und Helena nutzte diese Marktlücke, wie sie es nannte, geschickt aus.

Die meisten anderen Probleme hätte Fritz Meier mehr oder weniger schonungslos aus der Welt schaffen können. Aber das Finanzamt nicht. Er brauchte mehr Informationen. »Können sie eine Verbindung zwischen uns finden? Denk genau nach, Marcel!«

»Was meinst du, was ich seit zwei Tagen tue? Ich sehe derzeit nichts, aber der Teufel ist ein Eichhörnchen.«

»Ich will umgehend über alles von dir informiert werden. Hast du mich verstanden?«

»Hör mal, ich bin nicht dein Dienstmädchen. So kannst du nicht mit mir reden«, ereiferte sich Leclerc.

»Und ob ich das kann. Meinst du, wegen deiner Dämlichkeit will ich im Knast landen? Oder wir alle womöglich? Weißt du nicht, wie sie Al Capone erwischt haben?«

»Kenne ich nicht. Ist das auch ein Belgier?«

Fritz verdrehte die Augen. Was für ein Schwachkopf. »Halte mich auf dem Laufenden, verstanden?«

»Ist ja schon gut«, gab Leclerc kleinlaut bei, »ist ja schon gut.« Dann beendete er grußlos das Gespräch.

Fritz hatte sich noch einen Gin nachgeschüttet, goss ihn aber genervt in den Abfluss und aktivierte stattdessen die Espressomaschine, die dampfend und fauchend loslegt. Er brauchte jetzt einen klaren Kopf. Der Belgier konnte sich ganz schnell zu einer Riesenbedrohung entwickeln. Ausgerechnet jetzt, wo alles so gut zu laufen schien. Wie oft hatte er versucht, ihm einzutrichtern, dass er auf dem Teppich bleiben sollte. Stattdessen fuhr er mit einer italienischen Luxuskarosse durch die Gegend, die jeden Zuhälter neidisch machte. So ein Vollpfosten! Kein Wunder, dass das Finanzamt sich das genauer anschauen wollte. Fritz schnaubte.

Den zweiten Espresso trank er mit noch mehr Zucker. Es war Ironie des Schicksals, dass ihm Marcel den Espresso aus Belgien mitgebracht hatte. Seit seine Mutter gestorben war, hatte der Belgier niemanden mehr, den er umsorgen konnte, daher versorgte er Helena und Fritz mit wallonischen Spezialitäten. Anfangs war es ihm auf die Nerven gegangen, aber zwischenzeitlich hatte er sich mit den Genüssen aus dem Nachbarland angefreundet, denn die Wallonie schien ein Universum perfekter Genüsse zu sein: traditionell hergestellte Schokoladen und Pralinen, Ardenner Schinken, geräuchert mit Buchenholz aus den Ardennen und mit Wacholderbeeren … Was hatte Marcel ihnen nicht alles für Spezialitäten nahegebracht, zum Beispiel den Lütticher Sirup aus Apfel- und Birnenkraut aus der Region von Aubel der, wie Marcel sich schwärmerisch ausdrückte, eine köstliche Affäre mit Käse eingeht. Er schwor dabei auf den intensiv duftenden Herver-Käse, der ebenfalls aus der Region um Lüttich kam. Und dann diese legendären Reisfladen aus Verviers. »Niemals zum Sattessen, aber immer zum Vergnügen«, kommentierte Marcel stets mit halb vollem Mund. Nur in einem Punkt konnte und vor allem wollte Fritz Marcel nicht beipflichten: Das belgische Bier war nicht besser als sein Bitburger – obwohl Fritz im Stillen zugeben musste, dass es in der Wallonie schon charaktervolle Biere gab, denen das Bitburger im wahrsten Sinne des Wortes nicht das Wasser reichen konnte. Die Wallonie war mit ihren Quellwassern privilegiert, die Trappistenbiere Chimay, Rochefort und Orval zeugten davon. Die drei konnten ganze Nächte mit dem Verkosten der Spezial- und Abteibiere in den Varianten hell, doppelt oder dreifach verbringen, die sich je nach Rezept, Gärung und Malzgehalt voneinander unterschieden, Helena stand dabei den Männern in puncto Alkohol in nichts nach. Bei diesen Gelagen planten sie ihre Coups – Kreuzzüge, wie Marcel sie nannte. Und urplötzlich war dieser wunderbare und liebenswerte Marcel ein Problemfall geworden.

Fritz spürte, wie sich eine Schlinge um sein Herz zog, wenn er daran dachte, was zu tun war, wenn das Problem weiter eskalierte.

Blutdorf

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