Читать книгу Blutdorf - Rolf Eversheim - Страница 19
Оглавление13. Kapitel
Mit langsamen Schritten bewegte sich Mülenberk auf die Schafherde zu. Die Hütehunde, die ihn rechts und links begleiteten, seit er sich der Herde auf zweihundert Meter genähert hatte, verunsicherten ihn, auch wenn sie eher einen neugierigen als aggressiven Eindruck machten, aber sicher war er sich eben nicht. Vorsichtshalber sprach er seinen beiden Begleitern freundlich zu, während er, nach der Schäferin Ausschau haltend, achtsam weiterging.
Ein kurzer Pfiff befreite ihn aus der für ihn schwer einzuschätzenden Lage. Die Hunde rannten los, um sich wieder um ihre Schafe zu kümmern, und wie aus dem Nichts stand Julia Scheffer vor ihm und taxierte ihn mit einem misstrauischen Blick. Ihr war nicht nur an den blutunterlaufenen Augen deutlich anzusehen, dass sie unter höchster emotionaler Anspannung stand.
»Es tut mir leid, ich komme besser ein andermal wieder, wenn es eher passt.« Mülenberk war klar, dass er in dieser Situation alles andere als willkommen war. »Sie sind sicher sehr von den Geschehnissen mitgenommen«, bemühte er sich um eine Entschuldigung.
Julia Scheffer sah Mülenberk lange mit ausdruckslosem Gesicht an. »Geschehnisse«, wiederholte sie schließlich, »Sie nennen das, was passiert ist, Geschehnisse? Sie haben ja keine Ahnung.«
»Hören Sie, es tut mir schrecklich leid, ich hätte nicht herkommen sollen. Ich habe tatsächlich keine Ahnung, was los ist.«
»Das haben Sie wirklich nicht«, sagte Julia Scheffer tonlos, »das haben Sie wirklich nicht.«
Mülenberk wandte sich zum Gehen. Jedes weitere Wort schien ihm fehl am Platze zu sein.
»Warten Sie!«, rief die Schäferin ihm hinterher. »Was wollen Sie eigentlich von mir? Sind Sie so ein mieser Schreiberling von der Presse, der den Polizeifunk abgehört hat und mich jetzt für seine Story befragen möchte?«
»Nein«, erwiderte Mülenberk leise, aber bestimmt, »es stimmt, fragen wollte ich Sie etwas. Ich bin aber weder von der Presse noch habe ich das geringste Interesse daran, etwas über Sie zu schreiben. Ich denke, es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Es tut mir leid, dass ich Sie zu einem gänzlich unpassenden Zeitpunkt aufgesucht habe. Bitte entschuldigen Sie.«
»Ist schon gut.« Julia Scheffer schnäuzte sich die Nase. »Und weshalb sind Sie dann hier? Wenn Sie schon einmal hier sind …« Sie sah ihn auffordernd an.
Unentschlossen wiegte Mülenberk mit dem Kopf hin und her. Was sollte schon passieren? Sie konnten beide das Gespräch, das ja an sich noch gar nicht begonnen hatte, immer noch abbrechen. »Kassiopeia meinte, Sie könnten mir etwas über den Wolf sagen«, begann er vorsichtig.
»So! Meinte Kassiopeia das?«
»Ja, sie sagte: Wenn du etwas mehr über die Wölfe hier in der Gegend wissen möchtest, frag’ die Schäferin. Deshalb bin ich hier.«
»Kommen Sie mit«, forderte sie Mülenberk knapp auf. »Wie heißen Sie eigentlich?«
»Roman Mülenberk.«
»Julia Scheffer. Sag Julia.«
»Danke. Roman.« Mülenberk passte sich der Kurzsilbigkeit der Schäferin an, die ihn zu einem alten VW Bulli führte, der auch schon bessere Zeiten gekannt hatte.
»Mein Schätzchen«, erklärte Julia, als könne sie seine Gedanken lesen. »Werkstatt. Apotheke. Schlafzimmer. Esszimmer. Und fahren kann er auch. Den gebe ich erst her, wenn er keinen Ton mehr von sich gibt.« Dann setzte sie schulterzuckend hinterher: »Oder wenn ich Geld für einen Neuen habe.«
Sie setzten sich an einen kleinen Tisch im Innenraum.
Mülenberk, selber Wohnmobilist, fühlte sich gleich heimisch. Er war fasziniert von der Ordnung, die hier herrschte. Mit schlechtem Gewissen dachte er an den Saustall in seinem Wohnmobil.
»Den Namen habe ich einmal gehört«, überlegte Julia Scheffer, »die Leute reden manchmal über dich. Bist du nicht ein Jagdpächter hier in der Gegend?«
»Richtig, ich habe die Jagd gleich nebenan in Dedenbach gepachtet. Was reden die Leute denn über mich?« Er war neugierig geworden.
»Jedenfalls nichts, was sie durch die drei Siebe des Sokrates gesiebt haben.«
Mülenberk sah sie fragend an.
»Du scheinst die Geschichte von Sokrates nicht zu kennen«, Julia schmunzelte, »aber Kassiopeia kennst du?«
»Ich habe sie kurz kennengelernt. Kennen tue ich sie nicht wirklich. Wieso?«
»Sie lebt nach den Regeln der drei Siebe. Die Sage geht so: Eines Tages kam ein Mann aufgeregt zu Sokrates und wollte ihm etwas über einen Freund erzählen. Sokrates unterbrach ihn und fragte ihn, ob er die Geschichte durch die drei Siebe gesiebt habe. Da der Mann damit nichts anfangen konnte, erklärte Sokrates es ihm: Lass es uns ausprobieren, schlug Sokrates vor. Das erste Sieb ist das Sieb der Wahrheit. Bist du dir sicher, dass das, was du mir erzählen möchtest, wahr ist? – Nein, ich habe gehört, wie es jemand erzählt hat. – Aha. Aber dann ist es doch sicher durch das zweite Sieb gegangen, das Sieb des Guten? Ist es etwas Gutes, das du über meinen Freund erzählen möchtest? Zögernd antwortete der Mann: Nein, das nicht. Im Gegenteil. – Hm, sagte Sokrates, jetzt bleibt uns nur noch das dritte Sieb. Ist es notwendig, dass du mir erzählst, was dich so aufregt? – Nein, nicht wirklich notwendig, antwortete der Mann. Nun, sagte Sokrates lächelnd, wenn die Geschichte, die du mir erzählen willst, nicht wahr ist, nicht gut ist und nicht notwendig ist, dann vergiss sie besser und belaste mich nicht damit! Ich darf dir versichern«, schloss Julia ab, »dass nichts von dem, was hier in der Gegend über dich und alle anderen erzählt wird, auch nur durch eines dieser Siebe gesiebt wurde. Den Rest willst du nicht wissen.«
»Meine Oma sagte immer: Alles kann man sauber machen, nur nicht einen schmutzigen Mund. «
»Kluge Frau, deine Oma. Normalerweise würde ich dir einen Tee oder Kaffee anbieten, aber heute nichts normal.« Julia Scheffer zog an einer Schublade und beförderte eine Flasche ohne Etikett und mit einem Schraubverschluss zu Tage, der man ansah, dass sie schon lange unbeachtet dort gelegen hatte. »Den habe ich von einem Kollegen bekommen, der ihn selber ansetzt. Wenn du mal so einen richtigen Scheißtag hast, hat er gesagt.« Sie stellte jedem ein Wasserglas hin und füllte sie halb. Dann nickte sie Mülenberk kurz zu und trank das Gebräu in einem Zug weg.
Mülenberk tat es ihr gleich – und bereute es sofort. Das Zeug fraß sich wie Säure durch seinen Körper, bis es im Magen angekommen war. Er schüttelte sich und Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.
Der Schäferin war nichts anzumerken. Im Gegenteil. Sie füllte die Gläser gleich nach. »Du brauchst zwei davon, direkt hintereinander, hat er gesagt. Aber nie mehr als zwei.« Dann kippte sie auch den zweiten kommentar- und reaktionslos weg. »Nun mach schon. Wird gut, sag ich dir.«
Hoffentlich, dachte Mülenberk, hoffentlich. Dann trank er das Glas in einem Zug leer. Verwundert sah er auf. Kein Brennen. Keine Säure. Stattdessen ein Gefühl von Wärme und Wohlbehagen, das sich vom Bauch aus in wohligen Wellen über den ganzen Körper ausbreitete.
Julia schien es ähnlich zu gehen. »Altes Schäfergeheimnis. Wird immer nur vom Vater auf den Sohn weitergegeben. Kein anderer kennt das Rezept. Bis auf einen Priester, der es sicherheitshalber unter Verschluss hält.«
Wie beim Underberg, dachte Mülenberk und verkniff sich jeden Kommentar.
Julia schraubte die Flasche zu und verstaute sie wieder in der Schublade. Sie versuchte, sich gegen die Tränen zu wehren, doch der Schäfertrunk brach ihren Willen. Erst kamen nur wenige Tränen, dann immer mehr. Julia weinte und schüttelte sich herzzerreißend. Mülenberk konnte nicht anders, als sie in den Arm zu nehmen. Sie klammerte sich an den ihr Fremden und legte ihren Kopf auf seine Brust.
Als er ihr eine Zeit lang über die Haare gestrichen und dabei sanft in den Nacken gepustet hatte, beruhigte sie sich langsam und löste sich von ihm. Wortlos nahm sie die Flasche aus der Schublade und füllte sich ihr Glas erneut. Sie hielt Mülenberk die Flasche fragend hin, doch der schüttelte kaum merklich den Kopf.
Mit zitternden Händen umfasste sie ihr Glas, führte es an ihren Mund, setzte es ab, nahm es wieder, brüllte »Scheiße! Scheiße! Scheiße!« und stürzte den Schnaps in sich hinein.
Mülenberk hatte keinen Versuch unternommen, sie daran zu hindern. Nie mehr als zwei. Dann waren es jetzt eben drei. Sie schienen nötig zu sein.
Die Worte kamen leise aus ihr heraus, tonlos, gelassen, wie man das Gleichgültigste berichtet: »Die Schweine haben Benno aufgefressen. Nachdem ein noch viel größeres Schwein ihn umgebracht hat. Warum ausgerechnet Benno? Meinen geliebten Benno?«
Mülenberk konnte keine Antwort geben und er stellte auch keine Fragen mehr. Jedenfalls war ihm jetzt klar, dass die Schäferin und Benno ein Liebespaar waren. Ob dies auch ein richtiger Ansatz für die Ermittlungen war, würde sich zeigen.