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Eins

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Lemke war heute wirklich spät dran. Seine Frau hatte ihm durch ihre kurze Reise zu ihrer Mutter, zusammen mit den beiden kleinen Söhnen, einen freien Sonntagabend verschafft. Er hatte einen wunderbaren Abend mit Carolin verbracht. Carolin hatte sein Leben umgekrempelt. Sie kannten sich seit der Party in Lemkes Garten. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie sich nahe gekommen waren. Und Lemke die Chance bekam, so wie gestern Abend wieder, sein neues Produkt auszuprobieren. Dieser warme weiche Körper, die Hände Haare Haut, der Duft der Lust. Und jetzt hier diese kalte Wirklichkeit. Zum Glück hatte er sich den Wecker gestellt. Kaltes Wasser kann nicht eiskälter sein als ein solcher Morgen.

Dr. Grünfeld nahm seinen üblichen Platz ein und öffnete sein Notebook. „Guten Morgen. Ich hoffe, Sie hatten ein erholsames Wochenende. Wo ist denn Herr Lemke? Ich möchte über sein Projekt sprechen.“

„Ich glaube, er war eben noch nicht da“, sagte Clausen am anderen Ende des ovalen Tisches in dem schmucklosen Büro. Die Deckenlampen irritierten und blendeten ihn auf der blanken Tischplatte.

„Um neun Uhr? Kann ich mir bei Herrn Lemke gar nicht vorstellen“, sagte Dr. Grünfeld.

Es war Montag früh. Wie immer am Montag traf sich die Führungsriege der Permedical GmbH im Zimmer des Geschäftsführers, vier Männer, Krawatte, überwiegend dunkel gekleidet, eine Frau in einem grauen Business-Anzug. Sie saßen an dem für diese Besprechung zu großen ovalen Tisch.

„Bitte rufen Sie Herrn Lemke“, bat er Frau Cernic, seine Sekretärin.

„Ich bin jetzt seit einem Jahr hier und es gibt immer das Problem, dass Sie Ihre Mitarbeiter zu unseren Besprechungen nicht mitbringen. Ich versuche, seit einiger Zeit überholte hierarchische Strukturen abzubauen. Das kann doch nicht so schwer sein.“ Dr. Grünfeld war ungehalten.

Nach einer erfolgreichen Tätigkeit als Marketingmanager in einem bedeutenden Pharmabetrieb war er Geschäftsführer der Permedical GmbH geworden. Dr. Grünfeld war etwa Anfang 40, die noch verbliebenen, schon grau werdenden Kopfhaare bildeten einen Kranz um seinen Schädel. Die randlose Brille und seine schmalen Lippen gaben ihm einen ernsten, etwas unnahbaren Anblick. Die Frage, ob er auf seinen Doktor-Titel Wert legen würde hatte sich in der Firma niemand gestellt. Jeder sprach ihn mit seinem Titel an. Und er war „der Doktor“ in der internen Kommunikation. Oder auch schon mal „der Grüne“. Seine Sekretärin Frau Cernic, die ihn wohl am besten kannte, würde ihn wohl mit nüchtern und zielorientiert beschreiben.

„Vielleicht hat er einen schlechten Sonntag gehabt“, sagte Clausen leise zu seinem Nachbarn, um dann zu beginnen. „Ich möchte schon mal anfangen. Ich will zu dem Projekt einige Stichworte nennen und eine Information aushändigen, die wir vorbereitet haben“, sagte Clausen. Er nahm einen Stapel Papiere und verteilte ein Dokument mit Zeitplänen, als Ralf Lemke den Raum betrat.

Lemke setzte sich an die andere Seite des Tisches unter die beiden Bilder im Raum, Drucke von öden Stadtlandschaften. Die übliche Beleuchtung war für die Montags-Laune der Anwesenden zu hell. An das karge Ambiente des Raumes hatten sich alle gewöhnt. Lemke war noch nicht oft in den Kreis der Geschäftsleitung eingeladen worden. Der Grund war aber wohl eher die verklemmte Einstellung seines Vorgesetzten Clausen, der gern alles aus seinem Arbeitsbereich selbst vortragen wollte. Ein Kontrollfreak, eigentlich seiner Aufgabe nicht ganz gewachsen, wie Lemke fand.

„Fangen Sie bitte an, Herr Lemke“, unterbrach Dr. Grünfeld den Redefluss von Clausen. „Herr Lemke“, mischte sich Clausen gönnerhaft und völlig überflüssig erneut ein, „dann berichten Sie uns über unser Projekt.“ Unser? Es war kühl im Raum. Marketingleiter Clausen fühlte sich nicht ganz wohl. Er schwitzte. Aber er riskierte im Moment nicht, sein Sakko auszuziehen. Er spürte die angespannte Stimmung, die durch Dr. Grünfelds Bemerkungen entstanden war und die er auch auf sich bezog.

Clausens Verhalten führte oft zu Irritationen. Lemke sah dieses Projekt als SEIN Projekt an. Er hatte es beruflich nach einem langsamen Start mit seinen 32 Jahren noch nicht so richtig dahin geschafft, wo er sein wollte. Dieses einzigartige Projekt jetzt war vielleicht seine große Chance, sich in der Marketing-Welt einen Namen zu machen. Er war ehrgeizig. Und er ahnte heute noch nicht, dass sein ganzes Leben dadurch umgekrempelt werden sollte.

Der Geschäftsführer hatte entschieden, das neueste Projekt der Permedical GmbH von Ralf Lemke bearbeiten zu lassen, und nicht von Christof Brix. Der hatte zwar den besseren Draht zu ihrem gemeinsamen Vorgesetzten Clausen. Aber das hatte ihm hierbei nicht geholfen.

„Es ist noch etwas früh für eine umfassende Darstellung“, fing Lemke an. „Ach, ich sehe, dass Herr Clausen die von mir erstellten Übersichten verteilt hat.“ Lemke ärgerte sich über seinen Chef, der so tat, als ob der einen wesentlichen Anteil an diesem Projekt gehabt hatte.

Lemkes Vorbild war sein Vater, sein Idol gewesen, der sich viel um seinen Sohn gekümmert hatte, der Zeit für ihn hatte, mit ihm zum Fußball auf Sankt Pauli gegangen war. Anders, als seine Mutter, die an ihm herumnörgelte und ihm oft Vorschriften machen wollte. Sein Vater hatte bei einer niederländischen Bank sehr viel Geld verdient. Ganz plötzlich für den Jungen hatte er die Familie verlassen. Er wurde nach London versetzt. Und dort hatte er angeblich schon eine neue Familie. Was heißt das für einen fünfjährigen Jungen, neue Familie?

In wichtigen Jahren seiner Entwicklung praktisch vaterlos aufgewachsen war er dem Einfluss seiner Mutter stark ausgeliefert. Dann wollte er es eben ihr recht machen, ihr, die nie wirklich zufrieden mit ihm war. Umso mehr gab er sich Mühe bei seinen schulischen Leistungen, oft vergeblich. Und umso mehr konzentrierte er sich auf Sport, wo er ganz erfolgreich war.

„Wir planen, dieses Produkt spätestens im nächsten Herbst einzuführen, wie Sie aus den von mir erstellten Zeitplänen entnehmen können“, sagte Lemke. „Wir sind zurzeit noch in einer wichtigen Testphase.“ Und dann beschrieb Lemke im Detail, worum es sich handelte.

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