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Beginnend mit Edward Snowdens Enthüllungen im Jahr 2013, spätestens jedoch mit der Akte Bailong Chén 2027 setzte man in Regierungskreisen bezüglich der Informationsübermittlung zunehmend auf Methoden vergangener Tage. Man entschied sich bei als geheim eingestuften Inhalten kaum noch für die Datennetzwerke der Regierungen. Denn das technische Wettrüsten, bei dem regelmäßig mit neuen Verschlüsselungssystemen versucht wurde, diese Leitungen sicher zu halten, konnte nur kurzfristig Schutz bieten. Nur so lange, bis man auf der Gegenseite gleichzog.

Der Wettstreit ähnelte den Bemühungen der Dopingeindämmung im Profisport. Dort wollte man in der Vergangenheit ebenfalls durch immer kompliziertere Kontrollen des Missbrauchs Herr werden. Nur mit dem Unterschied, dass man sich bei der Spionageabwehr noch nicht geschlagen geben musste.

Anstelle des Informationsaustauschs mittels aufwendig abgesicherter Telefon- und Datenleitungen waren von daher meistens Informanten in den europäischen Hochgeschwindigkeitszügen unterwegs. Sie trugen einen Metallkoffer, an dessen Oberseite sie tief in die Öffnung hinein fassten, um den Griff zu umschließen und damit einen Sicherheitsmechanismus zu aktivieren. Sollte der Träger ihn loslassen oder einen Knopf in der Handöffnung betätigen, wäre der Inhalt innerhalb einer Sekunde pulverisiert und ein Kollege würde sich mit der gleichen Information erneut auf den Weg machen. Eine Praxis, welche durch die gefälschte Nachricht des schwedischen Ministerpräsidenten im Jahr 2023 und dem dadurch entstandenen Judgement Day für einige Zeit infrage stand, doch mangels Alternativen nie aufgegeben wurde. Stattdessen war von da an neben der Akkreditierung des Entsendestaates auch die jeder einzelnen Zielnation erforderlich. Dieses Verfahren bewährte sich. Denn so konnte man den Informationsfluss zwar stören und verlangsamen, aber nicht mehr manipulieren.


P51 erreichte vom Warszawa Centralna kommend den Speckgürtel von Berlin.

Namen hatten sich bei der Informantenklientel als hinderlich herausgestellt. Man war dazu übergegangen, die in diesem Bereich eingesetzten Personen schlichtweg durchzunummerieren und den Anfangsbuchstaben des Herkunftslandes davor zu setzen.

Unter den Füßen des Informanten P51 durchzog ein auf minus zweihundertneunundsechzig Grad Celsius heruntergekühlter Supraleiter sämtliche Waggons und sorgte dafür, dass es keinen Kontakt, sondern einen fingerbreiten Abstand zur Schiene gab.

Sobald P51 durch das Fenster blickte, sah er kaum mehr als die Nacht. Doch selbst wenn es hell gewesen wäre, hätte er nur ein verzerrtes Bild der Umwelt wahrgenommen. Die gesamte Strecke Berlin–Warschau befand sich in einer schusssicheren Plexiglasröhre, in der ein annäherndes Vakuum herrschte. Das reduzierte den Luftwiderstand auf ein Minimum. So konnte bereits kurz hinter der deutsch-polnischen Grenze der Antrieb des Zuges heruntergefahren werden. Der Schub der sechshundertachtzig Stundenkilometer, mit der das Magnetschwebesystem bis dahin unterwegs gewesen war, reichte, um die verbleibenden Kilometer zurückzulegen und den Berliner Hauptbahnhof zu erreichen.

P51 verfügte über die Zulassung für Polen, Deutschland und eine Handvoll anderer Staaten. Er war seit zwei Jahren im Geschäft. Zielsicher steuerte er auf den Bahnhofsausgang zu, nachdem er acht Minuten zuvor seinen Bahnsteig erreicht und die Luftschleuse passiert hatte. Es wartete bereits ein Regierungsfahrzeug auf dem Vorplatz, welches ihn ins Kanzleramt bringen sollte.

Man wechselte im Wagen kein Wort. Ein »Hatten Sie eine gute Reise?«, was mancher Fahrer anfangs versuchte, wurde in der Vergangenheit spätestens dann unterlassen, als die Floskel zum wiederholten Mal unbeantwortet blieb. Also wartete man gemeinsam das Ende der Fahrt ab und ging von Fahrerseite irgendwann davon aus, dass Sprachkenntnisse kein zwingender Bestandteil der Informantenausbildung seien.


Gegen neun Uhr morgens öffnete der Fahrer den schwarzen Mercedes und übergab seine Begleitung dem Sicherheitspersonal des Kanzleramtes. Der Scan des im Unterarm implantierten biometrischen ID-Chips und die Signatur des Koffers wiesen P51 aus und erübrigten weitere Kontrollen.

»Einstufung?«, fragte ein Soldat aus Roths Team.

»Kanzler. Persönlich!«, antwortete der Informant in akzentfreiem Deutsch.

»Der ist außer Haus.«

»Dann über den Tresor.«

»In Ordnung. Folgen Sie mir.«

Der Soldat ging mit P51 zwei Türen weiter. In der videoüberwachten Kammer stand nicht mehr als eine metallene Schleuse, an deren Unterseite eine Aussparung in Größe des Koffers dafür vorgesehen war, dass dieser darin abgesetzt wurde.

Es klickte, als der Boden einrastete. Eine grüne Diode, die das Deaktivieren des Sicherheitsmechanismus anzeigte, leuchtete auf und P51 gab in einem Tastenfeld die Dringlichkeit der Nachricht mit der höchsten Stufe ein.

Einen Moment später hatte er seine verschwitzte Hand wieder und der Koffer wurde in die Vertiefung gezogen.

Danach verlor P51 den Informantenstatus mit den dazugehörigen Rechten und reiste auf Staatskosten unter seinem bürgerlichen Namen zurück nach Warschau. Er hatte keine Vorstellung davon, welche Mitteilung er vom polnischen Präsidenten überbracht hatte.


Verehrte Amtskollegen,

es bleibt mir nichts anderes übrig, als Ihnen mitzuteilen, dass die Operation Theodizee in Polen als gescheitert angesehen werden muss. Trotz der geheimen Abstimmung im Parlament, welche zu unseren Gunsten verlief, ist der Rückhalt durch das Militär nicht gegeben. Sämtliche Bemühungen, das Abkommen mit dem erforderlichen Nachdruck ab Mitternacht durchzusetzen, sind zum Erliegen gekommen und hatten zu meinem Bestürzen eine klare Front aufseiten der Generalitäten gegen das Vorhaben offenbart.

Zählen Sie mich noch immer zu den Verfechtern unserer Sache. Aber wem ist geholfen, wenn wir sie hier ohne Aussicht auf Erfolg weiter vorantreiben und in letzter Konsequenz dafür in kürzester Zeit die politische Spitze ersetzt wird.

Seien Sie sicher, dass wir dem Brüsseler Protokoll entsprechen werden, und das nicht nur in meiner Legislaturperiode. Binnen Wochen sprengen wir sämtliche Brücken zu den Nachbarstaaten und verminen die Grenzen auf der gesamten Länge.

Hochachtungsvoll

Witold Król

DAS THEODIZEE-PROBLEM

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