Читать книгу DAS THEODIZEE-PROBLEM - Ron Müller - Страница 6

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»Alle da?«

Ohne es zu überprüfen, setzte der Lehrer die Führung fort. Er registrierte nicht, dass Liam seit dem Morgen kaum ein Wort gesprochen hatte und immer weiter von der Gruppe zurückfiel.

»Wie vorhin angedeutet befinden wir uns bei diesem Rundgang jetzt im Jahr 2023 bei einem Anschlag ganz anderer Dimension. Das, was ihr nun sehen werdet, hat es so noch nie gegeben. Nicht mal ansatzweise.«

Vor den Jugendlichen offenbarte sich eine riesige Videoinstallation mit einem Landstrich, der in einer Art dem Erdboden gleichgemacht wurde, wie es einem dritten Weltkrieg gleichkam.

»Dies hier ist das größte Täuschungsmanöver der Geschichte. Den Auslöser für die Katastrophe seht ihr zur Rechten.«

Er wies auf einen Torbogen zu einer Nebenhalle, welche komplett mit Blei ausgekleidet war und durch eine zentimeterdicke Glasscheibe von den Besuchern getrennt war. Darin stand der bis zur Unkenntlichkeit verformte Rest eines Geschützes, hergestellt in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Das Waffensystem erweckte den Eindruck, als wäre es kurzzeitig Tausenden von Grad ausgesetzt gewesen und einen Augenblick später sofort erstarrt.

»Mit dieser Artilleriewaffe schuf die ATG die Bühne, die sie brauchte, um die gesamte Welt für zwei Tage in die Irre zu führen.«

»Die Informantensache?«, fragte einer der Jungen.

»Florian, ich bin überrascht. Du bist nicht nur anwesend, du denkst ja sogar mit. Dreh- und Angelpunkt war tatsächlich ein skandinavischer Informant. Am Vorabend der Atomkatastrophe reiste dieser – hinter euch im Schaukasten seht ihr ein Foto – mit einem offensichtlich vom schwedischen Ministerpräsidenten unterzeichneten Brief nach Brüssel. Er kündigte an, dass sämtliche militärischen Provokationen von da an mit atomaren Reaktionen beantwortet werden sollten. Ein Dokument, welches in Kombination mit den Ereignissen der nachfolgenden Stunden zu einer verheerenden politischen Kurzschlussreaktion führte. Zwei Tage später wurde durch den Selbstmord des Informanten klar, dass er seit Jahren in engem Kontakt mit der ATG stand und das Schreiben gefälscht war.«

»Hätte man nicht einfach mit Schweden telefonieren und die Sache klären können?«, fragte einer der Jugendlichen.

»Richtig! Eigentlich hätte man sogar unbedingt miteinander reden müssen. Aber genau das war damals das größte Problem. Eine Falschmeldung folgte der nächsten. Kaum eine Nation hatte noch den Überblick, auf welche Informationen sie sich verlassen konnte. Täglich kochten Nachrichten von Grenzübertritten, Angriffen, bis hin zu einzelnen Hinrichtungen über und wurden minutenschnell durch Social Bots im Netz verbreitet.«

»Ich kann mir das nicht vorstellen. Regierungen haben Geheimdienste und die wissen, welche Meldungen wahr und welche falsch sind«, sagte Sveda. »Es ist doch egal, was für ein Quatsch in den Communitys geschrieben wird.«

»Das Problem ist nicht klar? Okay. Ein Beispiel. Eine Familie, die Angehörige verloren hat, postet im Netz die unwahre Meldung, dass ihr minderjähriger Sohn und dessen Mutter in Grenznähe auf offener Straße von einem Scharfschützen erschossen wurden. Unzählige Social Bots verteilen und liken diese Nachricht, bis ein Flächenbrand entfacht ist. Plötzlich kommt es in der Region durch eine Überhitzung der medialen Auseinandersetzungen zu tatsächlichen Ausschreitungen mit mehreren Toten. Keine Regierung schafft es bei der Gewaltspirale, die daraufhin entsteht, den Überblick zu behalten, wie der örtliche Konflikt eigentlich entstanden ist. Die einzige Maßnahme, die hilft, sind Truppenverlegungen in die Region, um durch militärische Präsenz für Ruhe zu sorgen. Letztendlich haben sie echte Tote und tatsächliche Militärbewegungen aufgrund einer einzigen falschen Nachricht. Nachvollziehbar?«

Bedrückendes Schweigen und Kopfnicken bei den Jugendlichen.

»Folgendes hatte sich 2023 abgespielt: Ein Schnellboot eines dänischen Marineverbandes soll sich kurzzeitig in schwedischen Hoheitsgewässern aufgehalten haben. Das ist belegt! Nach Aussage des skandinavisch-russischen Bündnisses, soll dies eine bewusste Provokation gewesen sein, da von gezielten Schüssen auf ein Boot der schwedischen Küstenwache berichtet wurde. Das wurde jedoch nie bewiesen, doch es ging millionenfach durchs Netz!

Nur einen Tag später traf eine russische Flotte ein und verstärkte die schwedische Marine. Man stand den NATO-Verbänden in der Ostsee südlich Kopenhagens in Schussweite gegenüber. Zerstörer, Fregatten und Korvetten, so weit das Auge über den Südrand des Kattegats reichte. Und das war nur das Aufgebot oberhalb des Meeresspiegels. Seit dem Wiederaufleben des Kalten Krieges wenige Monate zuvor lagen die Nerven blank. In dieser aufgeheizten Situation verletzten vermutlich Einheiten beider Seiten die gegnerischen Hoheitsgebiete, zumindest kochten derartige Meldungen hoch und führten vielerorts zu Gegenreaktionen. Immer wieder kam es zu kurzen Schusswechseln. Es fehlte nur noch ein Funke für eine Eskalation und dieser Funke war vergleichsweise marginal.

Der unachtsame Kapitän des Schnellbootes steuerte durch einen Navigationsfehler in eine falsche Richtung und überschritt, ohne einen NATO-Auftrag zu haben, die Grenzlinie, sodass er sich plötzlich zwischen den Fronten befand. Als er den Fehler bemerkte, hatten ihn längst gegnerische Schiffsgeschütze ins Visier genommen und Marschflugkörper kreisten über dem Boot. Er konnte weder vor noch zurück. An sich sollte so ein Versehen nichts sein, was einen Krieg auslöst, doch es ging weiter.

Um eine Klärung herbeizuführen, sprach der Regierungschef von Schweden mit der Ministerpräsidentin Norwegens über eine angeblich gesicherte Telefonleitung. Dabei fielen Worte wie Erstschlag und atomare Reaktion, zwar nicht als Drohung, sondern als das, was es zwingend zu vermeiden galt. Die Begriffe waren illegal mitgeschnitten und aus dem Zusammenhang gerissen auf der Tonspur im Internet veröffentlicht worden. Dies führte zur Eskalation!

Am gleichen Abend trat der Befehlshaber der skandinavisch-russischen Allianz vor die Presse und kündigte einen massiven Gegenschlag an, sollte eine Nation seines Bündnisses den Verteidigungsfall feststellen. Diese Aussage legten die klassischen und sozialen Medien so aus, dass man bereits atomare Einheiten in Stellung gebracht hatte. Etwas das so nicht stimmte.

Wir gehen heute davon aus, dass die mediale Meinungsbildung durch die Terrororganisation gezielt beeinflusst und gesteuert wurde. Nur Stunden später jagte dann eine M109 mit Männern der ATG den grenznahen Reaktor der EU hoch und war dabei so nah am Ort der Explosion, dass von den Terroristen keine Beweise zur Klärung der Nationalität übrig blieben. Was folgte, war die direkte Verurteilung des Angriffes durch die NATO und der Start der ersten Atombomben Richtung Schweden. Eine Kettenreaktion, da die Antwort aus dem gesamten Raum des skandinavisch-russischen Bündnisses in Form von Nuklearwaffen kam.

Es dauerte vierzig Stunden, um zu belegen, dass der Auslöser für diesen Krieg afrikanischen und nicht schwedischen Ursprungs war. Das Gefährliche an der Situation damals war die unübersichtliche und bis zum Zerreißen gespannte Lage, in der das gefälschte Schreiben des schwedischen Ministerpräsidenten die Beeinflussung der Medien und der dann tatsächliche Terroranschlag durch das Artilleriegeschütz ausreichte, um die Welt beinahe auszulöschen. Niemand hinterfragte mehr die Fakten. Sie schienen in sich schlüssig.

Von diesem Tag an verzichteten die meisten Regierungen im diplomatischen Bereich auf Datenleitungen sowie jegliche Beteiligung in den sozialen Medien und setzten stattdessen Informanten für den Informationsaustausch ein. Zugleich blockierten sie im Krisenfall solange sämtliche Kommunikationsmittel, bis eine Klärung herbeigeführt wurde – ein Verfahren, welches zeitaufwendig war, aber für Sicherheit sorgte und bis heute nicht mehr aufgegeben wurde.

Glücklicherweise ließ sich die Situation mit dem Tod des Informanten wieder befrieden. Ein Zeitpunkt, den ihr unter der Bezeichnung Judgement Day kennt. Ein Tag, an dem die Welt mehr Glück als Verstand hatte, denn eigentlich war der Untergang programmiert. Dennoch kam es bis dahin zum Start von einhundertachtundsiebzig atomaren Sprengköpfen. – Kommt mal mit an diese Vitrine.«

Der Lehrer zeigte den Jugendlichen einen Globus, welcher den flächenmäßigen Anteil der Erdkugel hervorhob, der nach dem Judgement Day unbewohnbar war.

»Zum Vergleich. Die Atombombe, die 1945 auf Hiroshima niederging, verfügte über eine Sprengkraft von dreizehn Kilotonnen TNT. Das verdeutlicht der kleine Stecknadelkopf im Süden von Japan. Die Kernwaffen der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts hingegen hatten im Durchschnitt die sechstausendfache Wirkung. Das sind zwischen sechzig und fünfundneunzig Megatonnen. Stellt euch davon einhundertachtundsiebzig auf sämtlichen Kontinenten vor. Die Auswirkungen verdeutlichen die blauen Flächen auf dem Globus.

Aber es geht heute im Schwerpunkt nicht darum. Lasst uns bei dem Geschütz bleiben, welches alles ausgelöst hat. Es steht da drüben.«

Die Blicke der Jugendlichen wechselten in Richtung der mit Blei ausgekleideten Nachbarhalle.

»Den Planern dieses unvorstellbaren Aktes der Zerstörung spielte ein Umstand in die Hände, der anfangs nicht aufgeklärt werden konnte. Denn eigentlich kann ein so altes Waffensystem gar nicht mehr schießen, schließlich hatte man es um die Jahrtausendwende ausgesondert. Kein Mensch brauchte in Zeiten überschaubarer Militäreinsätze gegen terroristische Organisationen Artillerie, wie sie in den großen vaterländischen Kriegen zum Einsatz gekommen war. Und bei der Aussonderung dieser Systeme hatte man sie vor vier Jahrzehnten technisch so verändert, dass sie nicht länger unter das Kriegswaffenkontrollgesetz fielen. In der Regel geschah das durch diverse Bohrungen am Verschluss und Verschweißungen an der Waffenmechanik, nach dem damaligen Stand der Technik ausreichend. Mit heutigem Wissen wäre jedoch das Ausgießen des Rohres mit Stahl der bessere Weg gewesen. Denn Verschlüsse und verschiedene andere Bauteile ließen sich zwanzig Jahre später problemlos mit Polytitankunststoffen im 3-D-Druckverfahren in jedem Hobbykeller fertigen.

Und damit ich nicht die ganze Zeit rede, findet ihr nebenan einen kleinen Kinoraum. In dem bekommt ihr weitere Hintergründe zur ATG und der Planung des Anschlags. Der Film geht nur zwölf Minuten und beginnt jede Viertelstunde. Also«, der Lehrer sah auf seine Uhr, »gleich.«

Während die Klasse durch die Flügeltüren den Raum verließ, blieb Zoe vor der Glasscheibe stehen und streckte die Hand nach ihr aus.

»Nicht!«

Ein an der Seite stehender Museumsangestellter wies auf das Messingschild neben dem verglasten Durchgang.


KEINESFALLS BERÜHREN!

Die M109 wurde in einem hochaufwendigen Verfahren teildekontaminiert, dennoch besteht eine radioaktive Reststrahlung, der wir mit einer kompletten Bleiauskleidung des Raumes und dieser Schutzscheibe, die aufgrund der Strahlungsaufnahme regelmäßig gewechselt wird, begegnen.

Die Museumsleitung


Zoe starrte auf den Metallkoloss und konnte sich nicht erklären, warum. Schließlich hatte sie für Kriegstechnik wenig übrig. Aber das verschmolzene Aluminiumgehäuse des Geschützes faszinierte sie. Womöglich weil es mehr zu sagen hatte als die restlichen Ausstellungsstücke. Weil es nur ihr etwas sagen wollte, das es allen anderen verschwieg.

Etwas vom 18. August 2023.

DAS THEODIZEE-PROBLEM

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