Читать книгу DAS THEODIZEE-PROBLEM - Ron Müller - Страница 5
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ОглавлениеErregt, als würde ihr Herz mit doppelter Geschwindigkeit schlagen, stand die Staatssekretärin am Eingang des Sitzungssaals und hörte dumpf, wie die Zugänge von außen mit Ketten verschlossen wurden.
Oh mein Gott, dachte sie, als sie ein Glühen durchströmte, das sie in Gänze ausfüllte – eines, das ihren Körper schwebend leicht werden ließ. Mit einem Lächeln nahm sie zur Kenntnis, dass die Dosis zu hoch war. Manchmal gierte sie derart nach dem grauen Pulver, das sie sich bei der Länge der Line vertat und so fast die doppelte Menge in die Nase zog. Den darauf folgenden Kick gab es nie direkt, sondern immer erst einige Minuten später.
So lebendig wie jetzt habe ich mich noch nie gefühlt! Verflucht … das gibt’s doch gar nicht!
Ein balkonähnlicher Rang überdachte die Saaleingänge. Als Vizehausherrin des Kanzleramtes hatte sie dafür gesorgt, dass an diesem Tag oben niemand saß.
Vor ihr befanden sich mehr als ein Dutzend Sitzreihen. Mit etwas Gefälle zogen sie sich in immer kleiner werdenden Halbkreisen nach unten und umschlossen von drei Seiten ein Podest im Zentrum des Raumes. Darauf stand deutlich erhöht ein Pult.
Wählte man einen Platz mittig im Saal, saß man auf Augenhöhe mit dem Redner. Gab es jedoch lediglich ein überschaubares Publikum, für das die vorderen Sitzreihen reichten, sah es anders aus. Dann erhob sich jeder, der das Pult bestieg, in nahezu arroganter Art über die Zuhörerschaft.
Wie an diesem Tag, an dem die Staatssekretärin in wenigen Augenblicken auf dreißig Personen in den ersten zwei Reihen herabschauen sollte. Ihr Blickwinkel auf das Plenum würde kein wichtiges Detail der Rede sein, die sie vorbereitet hatte – aber ein angenehmes, angesichts der Überheblichkeit, mit der die meisten der Anwesenden ihre Ämter bekleideten.
»Satt und fett hockt ihr da, ihr Maden. Garantiert hat jeder von euch seit gestern mindestens eine halbe Stunde in der Reinigung zugebracht. Man muss sich ja pflegen, auch wenn man zu nichts taugt«, fluchte sie mit gedämpfter Stimme.
Sie kam langsam den Gang herunter und verhinderte nicht, dass Abscheu ihre Gesichtszüge bestimmte.
Alle, die vor ihr saßen, nutzten ihr Vorrecht auf Dekontamination und ließen keine zwei Tage vergehen, um in einer Reinigung das Blutplasma mit einem Gemisch aus Bentonit-Zeolith-Partikeln anreichern zu lassen. Eine Prozedur, die neben den Privilegierten nur ein geringer Teil der Bevölkerung finanzieren konnte. Die Mineralien wurden dabei mithilfe einer Infusion in den Blutkreislauf eingebracht und verteilten sich dort in kürzester Zeit. Neunzig Sekunden später waren sie bereits einmal durch das komplette System der insgesamt hunderttausend Kilometer langen Blutgefäße eines Körpers gespült geworden. Den Weg nahm das Mittel zwölf bis fünfzehn Mal und absorbierte auf diese Weise den Großteil der radioaktiven Strahlung selbst in den entlegensten Winkeln. Anschließend entledigte man sich des im Plasma befindlichen Gemisches mittels Blutwäsche. Durch eine Kanüle in der Armbeuge floss das Blut in eine Zentrifuge, gab das Plasma ab und gelangte zusammen mit einer Jod-Kochsalzlösung durch den anderen Arm wieder in den Körper. Ein System, mit dem sogar mittelgradig kontaminierte Personen binnen Wochen ihre Strahlungswerte in den gesundheitlich unbedenklichen Bereich senkten.
»Meine Damen und Herren, in Ihren Köpfen wird die Frage kreisen, warum Sie jegliche Termine zugunsten dieses Treffens streichen mussten und weshalb der Kanzler nicht einmal auf Krankheitsfälle Rücksicht nehmen konnte. Was kann so wichtig sein, dass selbst ein Krankenschein keine Bedeutung mehr hat?«, fragte sie laut in den Saal und rieb sich das Kinn, kurz bevor sie das Mikrofon des Rednerpults erreichte. Den Zuhörerkreis in Augenschein nehmend zog sie ihre Brille aus der Innentasche des Kostüms.
»Zum einen teile ich Ihnen mit, dass der Kanzler heute nicht vor Ort ist und mir diese Besprechung übertragen hat. Sehen Sie mich damit kanzlergleich!«
Ihre Stimme senkte sich.
»Zum anderen …« Die Staatssekretärin kämpfte mit zusammengekniffenen Augen gegen einen erneuten Drogenschub an. Für Sekunden drohten ihr die Beine wegzusacken. Überrascht von der Intensität krallte sie sich an das Rednerpult und warte, bis der Höhenflug vorbei war.
»Zum anderen …«, ihr Gesicht entkrampfte sich wieder, »… müssen wir uns mit einem Problem auseinandersetzen, das man als undichte Stelle bezeichnen sollte.«
Die Staatssekretärin strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und setzte ihre Brille auf. Sie wusste, dass es für die Anwesenden keinen Unterschied machte, ob sie oder der Regierungschef zu ihnen sprach. Sie wurde nicht grundlos als graue Eminenz bezeichnet, die spätestens seit dieser Legislaturperiode als unantastbar galt. Sie stand in so engem Verhältnis zum Kanzler, dass jeder Auftrag von ihr wie eine Anordnung des Regierungschefs gewertet wurde. Das bezweifelten selbst Minister nicht, deren Gehaltsbezüge noch über denen der Chefin des Kanzleramtes lagen.
»Das Gute ist, ich habe gleich einen Lösungsvorschlag parat, aber ich will nur ungern vorgreifen. Kommen wir zurück zu unserem Problem.«
In den Reihen wurde es unruhig.
»Ich und vor allem der Kanzler sehen in einer Regierung die Chance, das zu tun, was für die Bürgerinnen und Bürger generationsübergreifend das Beste ist. Das schließt auch Entscheidungen mit ein, deren positives Ergebnis sich der Bevölkerung heute noch nicht erschließt – wenn Sie wissen, was ich meine.«
Während sie sprach, ertastete sie im Fach unter dem Pult das, was Roth für sie bereitgelegt hatte. Sie umschloss es mit den Fingern, zog es hervor, zielte und schoss dem Innenminister eine Kugel in den Schädel.
Krampfend rutschte er vom Sitz.
»Du bist meine Zuversicht, Herr. Du bist mein Gott, meine Hoffnung!«, drang ihre Stimme durch den Raum.
Sie war überrascht. In ihrer Hand fühlte sich die Wucht des Rückschlages so wie jeder andere Schuss dieses Waffenmodells an. Nur mit dem aufgeschraubten Schalldämpfer und den dadurch reduzierten Geräuschen kam er ihr nicht echt vor. Kein ohrenbetäubender Knall – lediglich der synthetisch klingende Rest davon. Das schleifende Klicken der Mechanik, die nicht wahrzunehmende Pause während des Fluges des Geschosses und das kurze Krachen beim Einschlag in das Opfer.
Doch der Schuss war echt. Der Minister lag leblos auf dem Boden und hatte eine Panik ausgelöst, bei der es die wenigsten schafften, aus den engen Sitzreihen schnell genug herauszukommen. Die Leute prügelten auf die ein, die sich vor ihnen befanden, und traten jeden Unterlegenen nieder, nur um lebendig den Ausgang zu erreichen.
Das was sich die dreißig Personen in den Sekunden nach dem Auswerfen der Patronenhülse antaten, überstieg in der Summe das Leid, welches der Schuss verursacht hatte.
Gib den Menschen zu wenig Raum und Todesangst und du benötigst wahrscheinlich nicht einmal eine Waffe, lächelte die Staatssekretärin und strich über die Konturen ihres Kreuzanhängers.
Schreiend näherte sich der Bundestagspräsident als Erster einem der Ausgänge. Den Schmerz des ausgekugelten und unnatürlich verdrehten Arms spürte er nicht.
Gleich. Nur ein paar Schritte!
Ein Mann, der ihm direkt folgte, packte ihn an der Schulter und versuchte, ihn an sich vorbeizuziehen. Jede Person, die hinter einem stand, wäre ein Schutz vor den Kugeln, die noch im Magazin der Staatssekretärin steckten.
Panisch riss der Präsident den unverletzten Ellenbogen nach hinten und traf krachend ein Jochbein. Bevor der Getroffene von den Nachfolgenden überrannt werden konnte, schoss ihm ein Blutschwall aus der Nase.
Der Bundestagspräsident kam völlig atemlos an der zweiflügligen Eichentür an und rüttelte an den Griffen.
Nichts passierte.
Andere hetzten zum zweiten und dritten Ausgang. Auch diese ließen sich nicht öffnen.
Die Schreie aus der Menge, die vor Angst gelähmt schien, verstummten.
»Kollegen!«, rief die Staatssekretärin durch den Raum und stieg vom Pult herab. »Jetzt beruhigen wir uns alle mal wieder! Das ist doch kein Grund, den Verstand zu verlieren.«
»Sind sie völlig wahnsinnig?«, brüllte ein Mann, der auf sie zu rannte.
Ein Schuss in den Hals erübrigte jede Antwort.
»Folgende Spielregeln!«
Ihre Laune verschlechterte sich.
»Wir haben ein Problem und wir müssen es verdammt noch mal lösen. Und am besten lösen wir Probleme, wenn wir Ruhe bewahren. Sie werden es kaum glauben, aber sobald Sie wieder Platz nehmen, hat der überwiegende Teil von Ihnen eine erhebliche Überlebenschance. Das gilt jedoch höchstwahrscheinlich nicht für die, die da hinten unter die Tische gekrochen sind. Bei so wenig Rückgrat bin ich geneigt, einen Schuss in den Bauch zu setzen – deutlich unangenehmer, als ein gut platzierter Kopftreffer.«
Keiner der Anwesenden zeigte eine Regung.
Die Staatssekretärin ging zur Vorsitzenden des Innenausschusses des Bundestages und setzte ihr die Pistole auf die Brust.
»Ich warte!«
In Schockstarre folgte noch immer niemand ihrer Anweisung.
Eins, zwei, drei!
Sie drückte ab.
Die Frau sackte in sich zusammen.
»Ich kann den heutigen Tagesordnungspunkt auch auf diese Weise klären und sämtliche Magazine aufbrauchen. Anschließend besetzen wir einfach Ihre Posten neu. Meiner Ansicht nach die beste Lösung, zumal wir damit als positiven Nebeneffekt auch gleich eine Menge Gottesleugner beseitigen werden. Aber«, sie zuckte mit den Schultern, »der Kanzler wollte, dass wir uns heute hier zusammenfinden und darüber reden. Ist das jetzt bei jedem angekommen?«
Ruhig schob sie den Hintern auf einen Tisch in der vordersten Reihe und wies mit der Waffe auf die vor sich befindlichen Sitze.
»Ich habe keine Eile. Ich fahre erst fort, wenn Sie wieder wie zivilisierte Menschen Platz nehmen.«
Zögerlich kamen der Generalinspekteur der Streitkräfte und zwei Minister in ihre Richtung und sorgten dafür, dass nach und nach auch der Rest der Anwesenden ihrer Anweisung folgte.
»Also zurück zum Kern. Ich erwähnte bereits, dass wir einer nicht unerheblichen Verantwortung unterliegen, indem wir entscheiden, was gut und was schlecht für das Volk ist. In schwierigen Zeiten, so wie diesen, kann das bedeuten, dass wir etwas durchsetzen, von dem die Bevölkerung erst viel später erkennt, dass es das Richtige war. Sehen Sie das genauso?«
Niemand antwortete.
»Die Bürger wissen oft nicht, was sie wollen. Sie sind leicht lenkbar. Genau deshalb ist es so wichtig, dass wir für sie entscheiden. Auch abseits der Gesetze, falls es nötig ist. Sie alle wissen, ich bin kein Freund der direkten Demokratie. Das war ich noch nie und werde es auch niemals sein. Stellen Sie sich vor, wir hätten in diesen Zeiten ständig Volksentscheide statt parlamentarischer Entscheidungen. Ein solches System kann nur in einer Katastrophe enden. Allein schon, wenn ich mir ansehe, wer in der Bevölkerung zu alternativ für eine rationale Entscheidung ist oder zu weit rechts oder schlicht und ergreifend zu blöd. Und da haben wir noch nicht mal die berücksichtigt, die grundsätzlich jeden Politiker hassen und die, die zu alt sind, um komplexere Zusammenhänge zu begreifen. Nehmen wir dieses Gesindel in der Summe, dann haben wir bereits eine Mehrheit, die jeglichen sinnvollen Volksentscheid blockiert, und es wurde noch nicht einmal ein Wort über die Ungläubigen verloren. Ich erinnere nur an die Flüchtlingsströme im dritten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende. Vor lauter Übergriffen und ›No Asyl‹-Geschreie war es nicht möglich, der Bevölkerung deutlich zu machen, dass dies unser Geburtenproblem hätte lösen können. Langfristig wäre die Rettung für das Rentensystem und vielleicht sogar für die Krankenversicherung realistisch gewesen. Ich weiß nicht, welcher Idiot damals auf die Schnapsidee kam, die Flüchtlingsfrage europaweit auf nationaler Ebene mittels Volksentscheiden klären zu lassen. Natürlich war der Ausgang klar und Europa wenig später die reinste Festung. Aber, meine Damen und Herren, DIESE OPFER WAREN NICHT UMSONST«, rief die Staatssekretärin viel zu laut in den Saal. »Seitdem Unzählige vor unseren Grenzen durch diese Entscheidungen verreckt sind, ist die direkte Demokratie ein Relikt der politischen Vergangenheit, welches hoffentlich niemand mehr ernsthaft aus dem Hut ziehen wird. Doch nicht nur das. Wer noch ein Stück weiter denkt, muss feststellen, dass auch die repräsentative Demokratie einen Makel hat, den wir heute beseitigen werden.«
Sie hielt die Waffe mit gestrecktem Arm und zielte wahllos auf die vor sich Sitzenden.
»Die Operation Theodizee ist überlebenswichtig! Und so wie es Schwachköpfe im Volk gibt, die das nicht begreifen, haben wir auch unter Ihnen, meine Damen und Herren, nicht nur Hochbegabte.«
Bei jedem, den Kimme und Korn streifte, schoss der Blutdruck in die Höhe, obwohl die Staatssekretärin den Abzug zu diesem Zeitpunkt nicht berührte.
Das ist also die politische Elite des Landes, dachte sie abfällig und beobachtete, wie sich die wegduckten, auf die der Lauf zeigte.
»Dieses Vorhaben wird im Großteil Europas umgesetzt«, fuhr sie fort. »Bis auf Polen. Da warten wir täglich darauf, dass die Regierung den Schwanz einzieht. Nicht anders zu erwarten!«
Sie zog die Augenbrauen zusammen.
»Und wie wir gestern erfahren mussten, liebe Kollegen, gibt es unter Ihnen Personen, die Kontakt zu den Kräften haben, die in unserem Nachbarland die Sache zum Scheitern bringen werden. Da frag ich mich natürlich, warum der Bundesnachrichtendienst dem Kanzler das nicht mitteilt, sondern wir andere Kanäle brauchen, um davon Kenntnis zu erlangen.«
»Scheiße! Scheiße! SCHEEIISSSSEEE!«, kreischte ein Mann mit Halbglatze auf der linken Seite. Hysterisch versuchte der Chef des Geheimdienstes, unter seinen Tisch zu kriechen.
Ohne eine Regung in ihrem Gesicht erkennen zu lassen, richtete die Staatssekretärin die Mündung auf ihn. Sie krümmte den Zeigefinger und riss die Waffe, kurz bevor sie den Druckpunkt des Abzugs überschritt, nach oben.
Der Schuss löste sich und trieb den Schlitten der Pistole zurück. Beinahe im selben Augenblick rastete er wieder in die Ausgangsstellung ein und wartete mit der nächsten Patrone in der Kammer.
»BERUHIGEN SIE SICH!«, schrie sie den Geheimdienstchef an, dessen Angst allgegenwärtig war, und warf einen Blick auf das Opfer eine Sitzreihe höher. Ein Lungenschuss – eine Ungenauigkeit, die sie mit einer Kugel in die Schläfe der Amtsleiterin korrigierte.
Eigentlich hattest du es verdient, dass ich dich ersticken lasse, überlegte die Staatssekretärin, während die Person ausblutete, die die Hauptverantwortung für den Kontakt zu den polnischen Regierungskritikern trug.
Die Schreie, die anfangs immer dann aufkamen, sobald sie die Waffe ruckartig bewegte, verstummten zunehmend. Es brach auch keine Panik mehr aus, wenn sie einen Schuss abgab. Die meisten hatten es aufgegeben, vor den Kugeln zu fliehen, und versuchten stattdessen, ihr Leben dadurch zu retten, dass sie nicht auffielen.
»Es befindet sich jetzt noch genau eine Person unter uns, bei der es ausgeschlossen ist, dass sie diesen Raum unbeschadet verlässt.«
Sie stand auf und kehrte ihre Überheblichkeit vollständig nach außen.
»Haben wir uns etwas vorzuwerfen, Kollege?«
Sie stützte die Arme auf den Tisch des Polizeichefs und suchte in seinem Blick eine Unsicherheit, die ihn verraten könnte.
»Nein, abgesehen davon, dass ich mich mit jemandem im gleichen Raum befinde, der eine Vernichtungsaktion plant, die dem Holocaust in nichts nachsteht.«
Überrascht von der Unverfrorenheit des Mannes bebte der Busen der Staatssekretärin.
»Na los, kommen Sie! Erschießen Sie mich«, ließ er nicht locker.
»Sie wollen mich provozieren?! Gut, dann lassen Sie uns das für einen Moment unterbrechen.« Sie legte die Pistole neben sich. »Keine Waffen, nur Argumente. In Ordnung?«
Der Polizeichef nickte.
»Wer von Ihnen hat Erinnerung an den Holocaust?«, fragte die Staatssekretärin. »Wer hat ihn miterlebt? Wohl keiner, da er hundert Jahre her ist. Damit bleibt nur noch das, was in Geschichtsbüchern steht, ja? Dann nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich mich nur von Dingen beeinflussen lasse, die ich selbst erlebt habe. Erinnern Sie sich nur an die Wiedervereinigung Deutschlands Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Damals wurden in den ostdeutschen Büchern derart viele Fakten geändert, weil die neu gebildete Regierung plötzlich eine andere Sicht der Dinge hatte. Die Dokumentation der Vergangenheit ist immer nur eine Sichtweise des aktuell herrschenden Systems und genau darum werden Sie von mir keine Verbindung der heutigen Ereignisse zum Dritten Reich hören.«
»Sie leugnen den Holocaust?«
»ICH LEUGNE ÜBERHAUPT NICHTS«, brüllte sie. »Aber was damals wirklich passiert ist, weiß niemand hier im Raum.«
Der Protest im Saal nahm zu.
»UND DAVON ABGESEHEN«, verschaffte sich die Staatssekretärin Gehör, »planen wir mit der Bildung der Kolonie keinen Völkermord. Es ist kein Volk, das wir ausschließen.«
»Sagen Sie lieber auslöschen«, fiel ihr der Polizeichef ins Wort, obwohl er sah, wie sie die Waffe wieder in die Hand genommen hatte.
»Wir überlassen lediglich dem von Gott bereits durch Krankheit abgespaltenen Rest der Menschheit seinem Schicksal.«
»Sie sprechen von einem Gott?«
»Ich spreche von meinem Gott!«
»Heißt es nicht: Wer seinen Nächsten verachtet, versündigt sich, aber wohl dem, der sich der Elenden erbarmt? Wie können wir da den Großteil der Bevölkerung dem Schicksal überlassen?«
»Sie meinen den gottlosen Rest vor den Toren?«
»Es sind doch nicht nur Ungläubige dort draußen!«
»WAS WOLLEN SIE EIGENTLICH? WOLLEN SIE GAR NICHTS TUN, BIS ES UNSERE GATTUNG NICHT MEHR GIBT?«
»Vielleicht. Vielleicht haben wir die Daseinsberechtigung tatsächlich verwirkt. Wie viele Chancen soll man uns denn noch geben«, entgegnete der Polizeichef. »Dürfen wir das Leben von Millionen opfern, damit Tausende weiterleben? Kein Verfassungsgericht der Welt würde dem zustimmen.«
»Soll ich Ihnen was sagen?! Ich scheiße auf die Gerichte! Und ich pfeife auf Ihre Meinung. Ich will wissen, wer unter Ihnen noch etwas zu verbergen hat. Sie offensichtlich nicht, Sie gehen mir nur auf den Geist. Aber vielleicht Ihr Nachbar?!«
Langsam sah sie zur Person rechts daneben und kam bis auf wenige Zentimeter an das Gesicht des Verteidigungsministers heran.
»Friedemann«, flüsterte sie. »Sorge dafür, dass sich der Anfangsverdacht, den wir gegen dich haben, nicht bestätigt. Und sei froh, dass es auf höchster Ebene jemanden gibt, der der Ansicht ist, dass wir dich noch brauchen. Diese Säuberungsaktion heute könnt ihr alle von nun an als Teil der Regierungsarbeit ansehen. So etwas wird es sofort wieder geben, sobald einer der Anwesenden nicht begreift, dass es nur um eines geht – um das Überleben. Und wir überleben ausschließlich mit Theodizee.«
Augenblicke später durchschlug ein Geschoss die Hand des Ministers und die darunterliegende Tischplatte.