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IM LAND DER UNBEGRENZTEN UNTERSCHIEDE

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EIN FREUND, EIN GUTER FREUND

Peter Obland war von Natur aus neugierig, nein, wissensdurstig. Zu gerne hätte er gewusst, in welcher Beziehung die gut getarnte Irin Siobhan und der bekennende Maori Riqi zueinander standen; er hatte das Gefühl, dass es sich bei Siobhan um Riqis aktuelle Freundin handelte. Die Fahrt nach Auckland war kurzweilig, jeder hatte viel zu erzählen, und Peter war zuversichtlich, bald eine Stelle in der munteren Plauderei zu finden, an der er geschickt einhaken und seinen Wissensdurst löschen konnte. Als sie schließlich bereits durch das wohlhabende Epsom fuhren, realisierte Peter, dass es bis zur North Shore nicht mehr sehr weit sein würde. Bisher war in der vorderen Sitzreihe aber immer noch kein darling (Liebling, Schatz) oder sweetheart (Liebling, Schatz, Herzliebchen) zu hören gewesen – Peter entschloss, der Sache aktiv auf den Grund zu gehen: »Siobhan, Riqi – you both are friends, aren’t you?«

Die beiden angesprochenen stimmten fröhlich zu und verstärkten Peters Eindruck noch, indem sie betonten, dass sie good friends, fast sogar soul mates (Seelenfreunde, Seelenverwandte) seien.

»Darf ich also mit der baldigen Einladung zur einer ganz besonderen, weil Kultur übergreifenden Hochzeit rechnen?«, fragte Peter in der Hoffnung, weitere Details zur Beziehung der beiden zu erfahren.

»Na klar, aber nur, wenn wir mit einer entsprechenden Gegeneinladung rechnen dürfen!«

Im Rückspiegel konnte Peter in Siobhans Gesicht ein quasi Mona-Lisa-artiges Lächeln erkennen. Er schöpfte Verdacht, und bevor Riqi kurz vor dem geschäftigen Newmarket wieder auf den Motorway auffuhr, sprach er seine Vermutung aus: »Ihr nehmt mich auf den Arm, nicht wahr? Raus damit – jetzt will ich’s genau wissen – seid ihr als Freund und Freundin zusammen, oder nicht?«

Riqi lachte, während er sich in den dichten Verkehr Richtung Norden einfädelte, äußerte sich allerdings mit keinem Wort zu Peters Frage. Als schließlich Aucklands Sky Tower sichtbar wurde, hatte Siobhan ein Einsehen und entschuldigte sich bei Peter dafür, dass sie ihn eine Weile auf die Folter gespannt und vielleicht sogar etwas an der Nase herum geführt hatte. Sie sagte auf eine trockene, aber gleichzeitig augenzwinkernde Art, die Peter als irischen Humor interpretierte, dass nichts zwischen ihr und Riqi laufen würde, womit er wieder ganz beruhigt sein und sich ganz entspannt zurücklehnen könne.

HOCH HINAUS

Der Sky Tower in Auckland ist ein Aussichts- und Fernmeldeturm. Mit 328 Meter Höhe ist er der höchste Fernsehturm der südlichen Hemisphäre. Der Sky Tower hat eine Aussichtsplattform auf 186 Meter (main observation deck, teilweise mit Glasboden). Ein Drehrestaurant und eine Bar drehen sich in 60 Minuten um die eigene Achse.

Eine zweite Plattform (Skydeck) befindet sich in 220 Metern Höhe. Dazwischen liegt eine offene Plattform in 192 Metern Höhe mit den Attraktionen SkyWalk und dem SkyJump. Bei Letzterem handelt es sich um ein drahtseilgeführtes Base-Jumping, bei dem der Springer durch ein programmgesteuertes Drahtseil abgebremst wird.

Peter konnte sich von Siobhans wortreicher Erklärung ein paar Begriffe merken: »To be honest, I had a crush on Riqi (to have a crush on somebody = auf jemanden stehen, in jemanden verknallt sein) for a while but we’ve never been in a relationship. Actually I’m dating someone else (dating somebody = mit jemandem zusammen sein, mit jemandem gehen).«

Als die Auckland Harbour Bridge in Sicht kam, meldete sich Riqi endlich doch noch zu Wort und rundete die Sache ab, indem er erklärte, dass sich die Beziehung zwischen Siobhan und ihm ausschließlich auf professioneller Ebene abspielte, was er – by all means (auf alle Fälle, unter allen Umständen) – nicht schon wieder falsch verstehen solle. Siobhan sprang ein: »In plain language (im Klartext) – ich unterstütze Riqi hin und wieder bei seinen Auftritten als Backgroundsängerin, und als ich ihn heute zur Abstimmung einiger Termine besucht hatte, entschloss ich mich spontan, Riqi beim Einsammeln seines deutschen Freundes zu begleiten. Und jetzt genieße den Blick auf Auckland von der Harbour Bridge aus, Peter. Cheers!«

BRÜCKENTAG

Die achtspurige Auckland Harbour Bridge verbindet den CBD (central business district) mit den als North Shore City zusammengefassten nördlichen Stadtteilen Aucklands. Doch mehr als das: Die gut einen Kilometer lange Stahlkonstruktion verbindet praktisch die gesamte Nordspitze mit dem ganzen Rest der neuseeländischen Nordinsel.

Zwar gibt es einen mehr als 40 Kilometer langen »Schleichweg« nach Norden, der über West-Auckland führt, aber die Harbour Bridge ist seit ihrer Eröffnung im Jahr 1959 die Hauptverbindung zu den stark wachsenden und immer beliebter werdenden nördlichen Gebieten. Dadurch ist die Brücke im Laufe der Zeit zu einem extremen bottle neck (Engpass, Nadelöhr), geworden, was die Köpfe der Stadtverkehrsplaner seit Jahren heiß laufen lässt.

Ein vernünftiges Projekt für eine weitere Passage des Waitemata Harbour wird dringend erforderlich. Dazu stehen derzeit drei Entwürfe bereit: für den Bau einer neuen Brücke, einen Tunnel und eine Kombination von beidem.

Peter war begeistert von der Sicht auf Auckland und den Waitemata Harbour. Exakt auf dem Scheitelpunkt der Brücke kam seine kaum ernst gemeinte Frage: »Kannst du nicht mal kurz für ein Foto anhalten, Riqi?«

Riqi sah in den Rückspiegel und Siobhan zog die Augenbrauen hoch. Um sicherzustellen, dass er diesen Vorschlag mitten im starken Verkehrsstrom wirklich nur als Pointe abgeschossen hatte, schickte er schnell »Ein Scherz, ein Scherz!« hinterher und meinte in Riqis Augen Erleichterung, aber auch ein bisschen Enttäuschung wahrzunehmen.

Nachdem das Trio die Brücke passiert hatte und damit die Aussicht wieder weniger spannend wurde, wendete sich Peter seiner neuen Lieblingsbeschäftigung zu: Irinnen ausfragen. »Singst du beruflich, oder ist es einfach dein Hobby?«, wollte er von Siobhan wissen.

»Teils teils, um es mal etwas indifferent auszudrücken. Ich studiere an der AUT Architektur und parallel dazu am MAINZ Gesang.«

»M-A-I-N-Z?«, Peter fühlte sich an eine deutsche Stadt erinnert.

»Music and Audio Institute of New Zealand.«

STUDIENZWECK

Die drei Buchstaben AUT stehen für die Auckland University of Technology. Der Hauptcampus liegt an der Wellesley Street mitten in Aucklands CBD. Es gibt drei weitere Campusse: im Norden Aucklands (AUT North Shore), in Süd-Auckland (AUT South) und das Millennium Institute of Sport and Health (AUT Millennium Campus).

Riqi unterbrach Peters Fragestunde: »Wir sind jetzt in Takapuna, es ist also nicht mehr weit bis zu Malcoms Haus!« Er bog mit dem schweren Wagen vom Motorway ab und mitten hinein in ein Wohngebiet.

Peter fiel sofort auf, dass hier alles ganz anders aussah als in Deutschland. Es waren nicht allein die stattlichen Palmen in vielen Vorgärten, die den großen Unterschied ausmachten. Peter war sehr gespannt darauf, wie wohl Malcolms Haus aussehen mochte, in dem er von heute an voraussichtlich für längere Zeit wohnen würde. Dann sah er auch schon das grün-weiße Straßenschild der Sanders Avenue und Riqi bog kurz darauf in die Einfahrt eines strahlend weiß getünchten Hauses ein. Es war offensichtlich komplett aus Holz im Viktorianischen Stil gebaut, hatte eine überdachte Veranda und ein grünes Dach, vermutlich aus Metall.

»Peter, we have arrived! – wir sind da! Das ist Malcolms Haus. Was sagst du zu deinem neuen Quartier und Arbeitsplatz?«

Peter öffnete die Wagentür, stieg aus und ließ den Blick schweifen – einmal die Straße rauf, einmal runter, schließlich musterte er das Haus, vor dem sie standen. Riqi legte nach: »Na los – ganz spontan. Wie findest du die Hütte?«

Peter war begeistert: »Wow! Das hat Stil! Wenn ich da an meine Apartmentanlage in Frankfurt denke ... Wirklich, das Haus ist super! Überhaupt begeistert mich das ganze Wohngebiet: Hier sind die unterschiedlichsten Baustile versammelt. Das erinnert mich ein bisschen ans Amerikanische, wenn ich das so sagen darf.«

»Du darfst alles sagen, mate, es gibt in Neuseeland keine Zensur! Aber hier wie bei den Amis handelt es sich größtenteils um denselben Ursprung – nämlich der Architektur aus dem Angelsächsischen.«

»Und es ist wohl alles aus Holz gebaut – gemauerte Häuser sehe ich gar keine. Na gut, es wird schon nicht durch die Ritzen ziehen ...« Peter fand sich selbst sehr amüsant.

Siobhan kommentierte: »Ich kam zwar schon im Alter von 8 Jahren nach Neuseeland, kann mich aber noch an die Steinhäuser in Irland erinnern. Ich denke, die Bauweise wird in Deutschland ähnlich sein, nicht wahr? So etwas kannst du hier weitgehend vergessen. Fast alle Wohnhäuser sind aus Holz in klassischer, handwerklicher Zimmermannsarbeit aufgebaut. Die Wohngebiete sind auch tatsächlich oft eine Ansammlung der unterschiedlichsten Stilrichtungen – Einheitsbauten findest du selten. Nur, ob es durch die Ritzen zieht oder nicht, das musst du schon selbst herausfinden.«

HAUSORDNUNG

Es gibt auch in Neuseeland Behörden, die Bauprojekte auf ihre Genehmigungsfähigkeit hin prüfen und gelegentlich auch Änderungen fordern oder Pläne ablehnen. Allerdings sind Spezialitäten wie Vorschriften zu Dachneigungswinkeln, Balkontiefen und Dachfarben praktisch unbekannt. Den Zwang zur stereotypierten Einheitsoptik gibt es nicht. Die Wohngegenden im Reich der Kiwis haben daher ein recht lebendiges Erscheinungsbild, und schablonenhaft gerasterte Anlagenstrukturen sieht man nirgendwo.

Je nach Alter und Entwicklungsverlauf einer Wohngegend findet man mitunter eine ziemlich bunte Mischung von Bauten. Im Wesentlichen unterscheidet man bei neuseeländischen Häusern die folgenden Stilrichtungen:

Traditional – gebaut in Ständerbauweise mit einem Grundgerüst aus Holz und einer Außenverkleidung aus sogenanntem weatherboard. Letzteres besteht aus langen Holzpaneelen, die schuppenartig überlappend (zum besseren Wasserablauf bei Regen) auf den Außenwänden des Hauses angebracht werden. Das Dach ist meistens aus Blech.

Colonial – ebenfalls gebaut in Ständerbauweise, jedoch mit einer konventionellen Paneelverkleidung der Außenseiten. Diese Häuser sind äußerst anfällig für Schäden durch Feuchtigkeit. Das Dach ist auch hier meist aus Metall.

Modern – allgemein kubusförmige Häuser mit großen Glasflächen und unterschiedlichen Dachformen (z. B. Pultdach, Flachdach). Da in Neuseeland praktisch keine Doppelverglasung verbaut wird, haben Häuser mit hohem Glasanteil und riesigen Fensterflächen oft ein erhebliches Isolationsproblem. Das Dach kann mit Schindeln oder auch nur mit einfacher Teerpappe gedeckt sein. Auch bei modernen Häusern überwiegt Holz als Hauptbaustoff. Manche der Bauten haben eine Steinplattenverkleidung der Außenwände, aber nur extrem wenige werden mit einem richtigen Mauerwerk aufgebaut.

Mediterranean – Diese Bauart versteht sich durch den eindeutigen Namen von selbst. Der Mittelmeer-Stil ist bei neuen Häusern in Neuseeland derzeit sehr beliebt. Die Außenwände tragen oft Strukturputz, und zur Eindeckung werden häufig solide Dachpfannen aus gebranntem Ton verwendet.

Contemporary – bedeutet vom Wort her »zeitgemäß, gegenwärtig« und wird von Maklern immer dann zur Beschreibung eines Haustyps verwendet, wenn alle vorangegangenen ihrer Meinung nach nicht richtig zutreffen. Meistens wird die Bezeichnung jedoch allgemein mit »modern« gleichgesetzt.

Riqi ging zur Eingangstür und kramte eine Weile sämtliche Hosen-und Jackentaschen durch. Als Peters Ankunft in Neuseeland sicher war und der Termin feststand, ist Malcolm sofort nach London abgereist und hat Riqi einen Schlüssel übergeben. Das war es, wonach Riqi gerade suchte, und schließlich auch fand. Er hielt den Schlüssel Peter feierlich entgegen und schlug ihm vor, doch selbst die Tür zu öffnen und einzutreten: »Alternativ kann ich dich natürlich auch über die Schwelle tragen ...«

Peter freute sich über den Schlüssel, lehnte Riqis Angebot dankend ab und betrat wenige Augenblicke später das Haus. Im vestibule (Vorraum, Diele, Windfang) roch es ein bisschen nach abgestandener Luft, aber der Eindruck, den das Haus im Inneren machte, war äußerst positiv. Peters unterschwellige Erwartung, die Einrichtung könnte vielleicht sehr britisch und dementsprechend etwas verstaubt im übertragenen Sinne sein, erfüllte sich überhaupt nicht – fast im Gegenteil: alles wirkte frisch und modern.

Riqi, der ins Haus gefolgt war, schob Peter von hinten an den Schultern in die Mitte des Raumes: »I’m off, mate! – Ich bin dann mal weg! Ich muss dringend noch ein paar Sachen erledigen und lass’ dich jetzt erst mal alleine. Ich würde dich ja gründlich einweisen, so wie man das bei der Übergabe eines Hauses im Allgemeinen wohl macht, aber ich sage dir ganz ehrlich: Ich habe keine Ahnung. Klar, ich war schon oft hier, und ich weiß auch, wo der Kühlschrank mit dem Bier steht, aber das war es dann auch schon. Kiss, sagt man hier in solchen Fällen. Also sieh die Sache ganz unkompliziert. Du wirst dich schnell zurechtfinden. In Malcolms Telefon sind alle meine Nummern eingespeichert. Ruf mich an, wenn du etwas brauchst, oder besser noch: etwas unternehmen willst – egal wann, noch heute oder morgen, jederzeit. Ach ja, nur falls etwas passieren sollte: Die Notrufnummer in NZ ist 111.«

NICHT KUSSECHT

In diesem Fall hat Kiss weder mit dem Kuss noch mit der amerikanischen 70er-Jahre-Rock-Band irgendetwas zu tun. Vielmehr stellt Kiss als Kurzwort das Konzentrat eines besonders ausgeprägten Teils der Kiwi-Mentalität dar.

Es heißt in Langschrift »keep it simple, stupid«, also wörtlich »Halte es einfach, Dummkopf« oder freier »Warum kompliziert, wenn’s auch einfach geht?«

Die Floskel wird im besten Kiwisinne immer dann verwendet, wenn sich jemand mit viel Aufwand an eine Sache heranmacht, bei der auch eine Einfachlösung mehr als ausreichend wäre. Kiss ist als »KISS-Prinzip« auch in manchen Bereichen der deutschen Wissenschaft bekannt.

Peter blieb weder Zeit zu antworten noch eine wirklich Wahl – Riqi hob seine Handflächen und Peter schlug reflexartig ein, womit die Hausübergabe wohl besiegelt war. Siobhan setzte zum big hug an und sagte: »Bye for now, Peter. It was nice to meet you!«

Ohne zurückzusehen rief Riqi auf dem Weg zu seinem Wagen: »Der Hinweis auf den Notruf war ein Scherz. Aber 111 ist trotzdem richtig. See ya!«

EINS, EINS, EINS!

Die landesweite Notrufnummer in Neuseeland ist 111. Man erreicht beim Anruf am anderen Ende der Leitung eine Zentralstation, die je nach Art des Problems das Gespräch an die Polizei, Feuerwehr oder die Ambulanz »St. John« weiterleitet.

Schwierig ist dabei für den operator nicht nur die schnelle Entscheidung, welcher Notdienst der richtige ist, sondern auch, ob überhaupt ein Notfall vorliegt: Die Statistik zeigt, dass es sich bei lediglich einem starken Drittel der auf 111 eingehenden Anrufe tatsächlich auch um Notfälle handelt.

Bei der Ausführung der Nothilfeeinsätze gibt es ein generelles Neuseelandproblem: In den Ballungszentren von Auckland und anderen großen Städten sind die Rettungseinheiten sehr oft überlastet, und in den rural areas (Landgebiete, ländlicher Raum) sind es die langen Anfahrtswege, die zu kritischen Verzögerungen führen können.

Riqi ließ das Auto anrollen, blieb aber nach wenigen Metern plötzlich wieder stehen, lehnte sich mit dem ganzen Oberkörper aus dem Fenster und rief Peter zu, der etwas in Gedanken versunken immer noch auf der porch (Veranda, Vorbau, Vordach) stand: »Eines noch – du bist nicht allein im Haus ...«

Fettnäpfchenführer Neuseeland

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