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UNTEREINEM DACH

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HERZLICH HOLPRIGESWILLKOMMEN

»Du bist nicht allein im Haus ...«, mit Riqis letztem Satz im Kopf ging Peter Obland in das Haus zurück, nahm seine beiden Reisetaschen, die noch vor der Tür standen, mit hinein und ohne sich weiter umzusehen, geschweige denn, sich einzurichten, ließ er sich im großen, hellen Wohnraum auf den erstbesten Sessel fallen. Von hier hatte er einen ziemlich freien Blick über das deck nach Osten und konnte das Meer und die Vulkaninsel Rangitoto sehen.

Obwohl die Reise insgesamt stressfrei verlaufen war, überkam Peter nun doch die Müdigkeit und er sackte, im weichen armchair (Sessel, Lehnstuhl, Fauteuil) sitzend, regelrecht in sich zusammen. Er nickte ein.

Nach unbestimmter Zeit wurde Peter durch ein klopfendes Geräusch aus seinem unbeabsichtigten Mittagsschlaf geweckt, draußen war es bereits erstaunlich dunkel. Er richtete sich in seinem bequemen Sessel auf, brauchte aber eine gewisse Zeit, um wieder zu sich zu kommen und zu realisieren, wo er überhaupt war. Dabei fiel sein Blick auf ein kleines Etikett aus weißem Plastikgewebe, das wie ein Fähnchen von einer Naht des Sessels weg hing. Darauf stand: IKEA Ektorp. Das Bewusstsein, hier in Neuseeland auf diesem Schwedenmöbel zu sitzen, überraschte ihn und machte ihn gleichzeitig wach.

SCHWEDENRÄTSEL

Neuseeländer warten sehnsüchtig auf den Schwedenmöbler IKEA. Mehrere Anläufe soll es bereits vom blau-gelben Möbelhaus gegeben haben, sich mit einer Filiale im Inselstaat zu etablieren. Seit Januar 2019 gibt es für die Kiwis Hoffnung, in möglichst naher Zukunft Billy, Klippan und Ivar selbst zusammenschrauben zu dürfen – IKEA hat in einer großen Pressekonferenz verkündet, einen ersten Standort in Auckland zu eröffnen. Wo und wann ist noch nicht bekannt. Bis es so weit ist, will IKEA in Auckland erst mal einen Pop-up-Store eröffnen.

Ganz Ungeduldige können übers Internet bestellen, bei My Flat Pack, Idiya, Aikia oder Swedish Furniture – um nur ein paar der IKEA-Importeure zu nennen.

Oder man muss eben mit Möbelhäusern wie Freedom (im allerweitesten Sinne an IKEA erinnernd) und Danske Mobler (das bis auf den Namen nichts mit skandinavischen Möbeln zu tun hat) vorliebnehmen.

Andere, wie beispielsweise Big Save Furniture, geben bereits durch den Sparhinweis im Namen zu erkennen, dass Möbel in Neuseeland grundsätzlich relativ teuer sind.

Peter hörte wieder das Klopfen und sah auf; ein asiatisch wirkender, relativ junger Mann stand mit einem Plastikbehälter in der Hand auf dem deck und versuchte, sich bemerkbar zu machen. Das also meinte Riqi mit: »Du bist nicht allein im Haus ...«

Peter hatte einige Mühe aus dem Schlaf wieder in den hundertprozentigen Wachzustand zurückzufinden und wankte leicht, als er aus »Ektorp« aufstand und zur gläsernen Schiebetür ging, vor der der Asiate geduldig wartete. Peter entriegelte eine Türhälfte und schob sie einen Spalt weit auf.

Der junge Mann verneigte sich höflich, konnte aber nicht zur Begrüßung ansetzen, da er unmittelbar von Peter in seine Schranken gewiesen wurde: »Darf ich fragen, wie Sie auf das deck kommen, und vor allem, was Sie hier verloren haben? Das hier ist ein Privathaus und ich bin verantwortlich dafür. Falls Sie etwas verkaufen wollen, dann klingeln Sie bitte an der Eingangstür. Aber nicht bei mir – ich kaufe nichts!«

Der Mann auf dem deck verneigte sich derweil immer tiefer, und als Peter seine Standpauke schließlich beendet hatte, sagte der Gemaßregelte, übrigens in bestem und akzentfreiem Englisch: »Sorry, sorry, sorry. Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Es ist ein Missverständnis. Ich weiß, dass du dich um das Haus kümmerst, solange Malcom in London ist. Aber ich wohne auch hier – genauer gesagt hier drüben in der angebauten flat (Wohnung, Apartment). Ich habe nichts zu verkaufen, sondern wollte mich einfach nur vorstellen – wir sind quasi flat-mates (Mitbewohner (einer Wohngemeinschaft)). Mein Name ist Kwan. Kwan Yeoh.«

Peter war erstaunt: »Ich weiß nicht recht, ob ich das glauben kann. Mir ist nämlich nichts von einem Mitbewohner im Haus bekannt. Und der Plastikbehälter in deiner Hand sieht mir doch sehr nach einer Verkaufsabsicht aus.«

Kwan hatte mit einer solchen Reaktion gerechnet: »Du darfst es ruhig glauben – sieh mal, ich weiß sogar, dass du Peter heißt und aus Frankfurt kommst. Wie schon gesagt sind wir quasi flat-mates. Aroha und ich wohnen hier schon viele Monate – im Anbau. Wir sind also nicht direkt in ein und demselben Haus, aber doch unter einem Dach.«

Peter war noch nicht restlos von den lauteren Absichten des Quasi-Mitbewohners überzeugt: »Aroha? Wer oder was ist denn bitte Aroha? Ich weiß nicht so recht, was ich von all dem halten soll. Ich rufe wohl besser Riqi an und höre mal, was er dazu meint.«

»Das ist eine gute Idee. Aroha ist nämlich Riqis cuz, jedenfalls bezeichnete er sie so. Außerdem ist sie meine Studienkommilitonin an der Auckland University.«

WAHLVERWANDTSCHAFT

Cuz ist eine Kurzform für cousin, in diesem Fall ist damit also Riqis Cousine Aroha gemeint, was aber nicht zwingend den tatsächlichen Verwandtschaftsgrad anzeigen soll. Zugleich, oder sogar überwiegend, wird cuz auch als Slangwort für »Kumpel« im weiteren Sinn verwendet, ohne dass überhaupt eine verwandtschaftliche Beziehung zu dieser Person besteht.

Aroha ist ein recht beliebter weiblicher Vorname der Maori, wird aber gerne auch von Pakeha* verwendet. Das Wort Aroha wird meist mit »Liebe« übersetzt, kann aber ebenso, zerlegt in die Einzelwörter »Aro« (mind – Geist) und »Ha« (breath – Atem), als »die schöpferische Kraft des Geistes« betrachtet werden.

* Pakeha = Bezeichnung der Maori für die ersten europäischen Siedler Neuseelands. Je nach Kontext sind damit die Neuseeländer mit ausschließlich britischen Vorfahren, mit überwiegend europäischen Vorfahren oder generell alle Nicht-Maori gemeint.

Mit einer leichten Verbeugung hielt Kwan Peter die Plastikdose entgegen, aber der Türspalt war zu schmal, um sie durchreichen zu können. Peter entspannte sich etwas und schob die Glastür weiter auf. Zu guter Letzt bat er Kwan, doch einfach einzutreten, und nahm auch den Behälter von ihm an.

Kwan sagte: »Das ist ein indonesisches Reisgericht. Ich habe es selbst gemacht und extra schnitzel strips (Streifen vom Schnitzelfleisch) dazugetan. Du kannst es in der Mikrowelle heiß machen. Du isst doch Fleisch, oder?«

SCHNITZELJAGD

Schnitzel sind in Neuseeland sehr beliebt und daher in jeder Frischfleischtheke zu finden. Das ideale Schnitzelfleisch ist trim pork, welches vom 50–72 Kilo schweren Schwein kommt, selbstverständlich frei von Knochen ist und dessen Fettrand bis auf einen maximal 5 mm breiten Streifen beschnitten ist. Trim pork wird übrigens von der National Heart Foundation als »herzfreundlich« eingestuft.

Kwan wollte mit den schnitzel strips Peter nicht nur eine Freude machen, sondern auch zeigen, dass er sich auskennt – in Deutschland isst ja jeder Schnitzel!

»Fleisch? Ja, ich esse Fleisch, sicher doch! Dein Reistopf sieht gut aus. Danke.«

»Ach ja, ich komme aus Malaysia. Meine Eltern haben mich bereits vor fünfzehn Jahren hierher zur Schule geschickt. Sie leben nach wie vor in Kuala Lumpur und wollten mir eine westliche Ausbildung ermöglichen. Das war eine gute Idee und ich habe mich vor zwei Jahren entschieden, für immer in New Zealand zu bleiben – inzwischen habe ich auch die neuseeländische Staatsbürgerschaft. Na ja, langer Rede kurzer Sinn: willkommen in diesem Haus!«

Peter war ein wenig peinlich berührt und hatte das Gefühl, etwas zu pedantisch aufgetreten zu sein, zumal Kwan ausgesprochen herzlich auf ihn zu gegangen war. Er wusste noch nicht wie, aber er würde sich dringend dafür erkenntlich zeigen müssen. Fürs Erste versuchte er es mit einer erklärenden Entschuldigung: »Vielen Dank, Kwan, ich weiß deine Freundlichkeit sehr zu schätzen. Es tut mir leid, dass ich dich derart argwöhnisch behandelt habe. Aber glaube mir, wenn es in Frankfurt an der Apartmenttür klopft, sind es meistens penetrante Zeitschriftenverkäufer oder die Zeugen Jehovas. Letztere gibt es hier ja wohl nicht ... Jedenfalls bin ich es gewohnt, an der Wohnungstür extrem misstrauisch zu sein.«

GLAUBENSFRAGE

Doch, es gibt die Zeugen Jehovas auch in Neuseeland – es sind Jehovah’s Witnesses. Sie versuchen in Neuseeland genauso wie in Deutschland (und sicher vielen anderen Ländern) mithilfe des Pamphlets Der Wachtturm (The Watchtower) die Leute von ihrer Religionsvariante zu überzeugen.

Kwan antwortete, als ob er nichts anderes erwartet hatte: »Schon gut, Peter – mach dir nichts draus, ich mache mir auch nichts draus. Ich habe ohnehin ein dickes Fell: Auch hier im liberalen, weltoffenen Einwanderungsland Aotearoa bekomme ich fast täglich die Vorbehalte gegen asiatische Mitbürger zu spüren.«

»Moment Kwan, so war das wirklich nicht gemeint. Das hatte nichts mit deiner Herkunft zu tun. Ich gehe auch sehr gerne in asiatische Lokale ... äh ... wirklich ...« Peter wusste sofort, dass ihm diese Antwort gründlich misslungen war.

Aus einer gewissen Spannung heraus sahen sich beide ein paar Sekunden lang fest in die Augen, bevor sie plötzlich völlig synchron über sich und ihr »Problem« herzlich lachen mussten.

Der Malaysier und der Deutsche beteuerten gegenseitig, dass sie sich auf die gemeinsame Zeit in dieser Fast-Wohngemeinschaft freuten, und als sie noch schnell ihre Mobilnummern austauschen wollten, fiel Peter ein, dass er sich baldmöglichst eine neuseeländische SIM-Karte besorgen musste.

Bevor sich Kwan kurz darauf wieder höflich von Peter verabschiedete, erwähnte er noch in einem Nebensatz, dass er Student der Medizin in einem fortgeschritten Semester sei. Das gefiel Peter, der ansatzweise an Hypochondrie litt, ausgesprochen gut und er empfand es als ein beruhigendes Gefühl, einen angehenden Arzt im Anbau nebenan zu wissen – nur für alle Fälle versteht sich, man kann ja nie wissen ...

Peter sah, wie Kwan zurück in die flat ging und ihm nochmals zuwinkte, bevor er die Tür hinter sich schloss.

Peter Obland war nicht unzufrieden mit dem bisherigen Verlauf seines Ankunftstages in Neuseeland, aber das latent schlechte Gewissen gegenüber Kwan Yeoh beschäftigte ihn noch eine ganze Weile, während er den Plastikbehälter mit dem indonesischen Reis- und Schnitzelgericht in den Kühlschrank stellen wollte.

Er scannte die Küche mit den Augen ab und kam zu dem Ergebnis, dass es sich bei Malcolms Kühlschrank um ein mannshohes, silbern glänzendes Monstrum mit Flügeltüren handeln musste, das mindestens das vierfache Volumen seines ebenfalls nicht gerade kleinen Kühlschranks in der Frankfurter Wohnung hatte. Als Peter den fridge (re frigerator, Kühlschrank) öffnete, wartete hinter den dicken Türen bereits die nächste Überraschung auf ihn.

Der Kühlschrank war praktisch bis zum Maximum gefüllt, größtenteils mit sorgfältig platzierten Bier- und Weinflaschen, und das grob geschätzt restliche Drittel mit Lebensmitteln aller, jedoch überwiegend der schnellen Art – instant meals (Fertiggerichte) über und über. Er hatte Mühe, noch einen Platz für Kwans Plastikdose zu finden.

Peter Obland fühlte sich überwältigt, irritiert und beschämt zugleich – aber es war kein wirklich schlechtes Gefühl. Er ließ sich auf Ektorp fallen, nahm das Telefon und wählte Riqis Nummer.

Fettnäpfchenführer Neuseeland

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