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Ein Porträt des Unternehmers als junger Mann
ОглавлениеHelmut Eulert war nicht an der Wiege gesungen, dass aus ihm einmal ein schwerreicher Unternehmer werden sollte. Denn er kam, wie man das so nennt, aus einfachen Verhältnissen. Er war Jahrgang 1950 und stammte aus Stuttgart, genauer: aus dem Stadtteil Bad Cannstatt, wo sich die Eltern auf dem Hallschlag niedergelassen hatten, einem nicht sonderlich gut beleumundeten Viertel. Doch im zerbombten Stuttgart der Nachkriegszeit war man froh, wenn man überhaupt eine Wohnung zugewiesen bekam.
Helmuts Vater war mehrfach verwundet aus dem Krieg heimgekehrt, ein verschlossener, verbitterter, zu Jähzorn neigender Mann, der nie darüber sprach, was er in Polen, in Frankreich, auf dem Balkan, in Russland erlebt hatte. Die sechs Jahre Krieg und die sechs Jahre davor waren ein absolutes Tabu im Hause Eulert.
Auch die aktuelle Politik war nie ein Thema. »Alles Verbrecher«, spuckte Eulert senior allenfalls verächtlich aus, wenn er einen über den Durst getrunken hatte. Dann war er allerdings schon gefährlich nahe am Vollsuff, und da war es ohnehin besser, ihm aus dem Weg zu gehen, denn er wurde gern ausfallend. Der junge Helmut lernte, die Anzeichen zu deuten und sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen.
Als gelernter Schlosser versuchte sich Eulert senior zunächst mit einem Fahrradgeschäft. Es war eine gute Geschäftsidee, allerdings nicht in dieser Gegend und nicht in dieser Zeit, und so war er froh, als er schließlich beim Daimler unterkam.
Damit war auch der Lebensweg des Sohnes vorgezeichnet. Gymnasium? Abitur? Die Mutter erträumte sich ein besseres Leben für ihren Jungen.
»Kommt nicht in Frage«, beschied der Vater, als seine Frau das Thema einmal zaghaft zur Sprache brachte. »Der Junge soll was Ordentliches lernen und Geld nach Hause bringen.«
Geld war knapp in der Familie, denn zu Helmut hatten sich im Laufe der Jahre drei Geschwister gesellt. Und wer beim Daimler schaffte, der hatte ausgesorgt fürs Leben, dem konnte nichts mehr passieren. Als sei man beim Staat untergekommen. Damals war das noch so.
So begann der vierzehnjährige Helmut gleich nach der Volksschule seine Lehre beim Autobauer in Untertürkheim. Die Beatles standen mit fünf Singles in den amerikanischen Charts, darunter »I Want to Hold Your Hand« und »Can’t Buy Me Love«, die Rolling Stones debütierten eben mit ihrem erstes Album, die so hieß wie die Band. Wer die Platten wohl kaufte? Helmut jedenfalls nicht, dafür war kein Geld übrig. Überdies besaß die Familie Eulert nicht mal einen Plattenspieler. Das ist das Erste, was ich mir kaufe, wenn ich etwas Geld übrig habe, schwor er sich.
Helmut war trotzdem gut informiert, weil er AFN hörte, den amerikanischen Soldatensender. Heimlich, denn wenn das der Vater mitbekam, setzte es Prügel. Er war nicht gut zu sprechen auf die Amerikaner, die sich in der ehemaligen Reiterkaserne auf dem Burgholzhof niedergelassen hatten. Er war auf überhaupt niemanden gut zu sprechen. Im Herbst, wenn sich auf dem Cannstatter Wasen das Volksfest drehte, trieb sich Helmut bei den Boxautos herum. Da waren immer die aktuellsten Hits zu hören, kostenlos.
Dem Beschluss des Vaters, ihn zum Daimler zu schicken, setzte Helmut keinen ernsthaften Widerstand entgegen. Die Schule langweilte ihn sowieso, er war keiner, der über Büchern hockte, er wusste nicht, was er anderes tun sollte, und außerdem war es sinnlos, dem Vater zu widersprechen, wenn der etwas entschieden hatte. Immer mehr war der Vater in seinem brütenden Schweigen gefangen, immer häufiger waren seine despotischen Anfälle. Der Sohn war zu jung, um auch nur zu erahnen, was das für ein Wrack war, das ihn drangsalierte.
Der Lehrling Helmut erwies sich als geschickter Handwerker, der schnell lernte, korrekt arbeitete und überhaupt recht anstellig war. Die Situation zu Hause hatte ihn gelehrt, Konflikten aus dem Weg zu gehen und Widerspruch hinunterzuschlucken. So einen konnten sie gebrauchen beim Daimler.
Er war aber auch einer, der genau beobachtete und sich seine Gedanken machte.
Am 12. April 1968, dem Karfreitag, kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag, saß Helmut Eulert auf einer Bank am Aussichtsturm auf dem Burgholzhof und schaute hinab ins Neckartal. Die Beatles hatten »Lady Madonna« herausgebracht und die Rolling Stones »Jumpin’ Jack Flash«, in Berlin hatte gestern irgendein Verrückter Rudi Dutschke niedergeschossen (geschieht ihm recht, diesem Kommunisten, sollten seine Arbeitskollegen später sagen, soll er doch rübermachen, wenn es ihm hier nicht passt, wobei die wenigsten wussten, dass er von »drüben« in den Westen gemacht hatte), ein paar Tage zuvor war in Memphis Martin Luther King ermordet worden (ist ja nur ein Neger, hatten seine Arbeitskollegen gesagt), in Esslingen und sonstwo noch hatten Demonstranten die Auslieferung der »Bild«-Zeitung blockiert, Autos brannten.
Helmut Eulert wusste nicht so recht, wovon die Studenten redeten, die Worte waren ihm fremd, aber zwei Dinge zumindest hatte er verstanden: Eine neue Zeit war angebrochen, und er hatte die Absicht, auf seine Weise daran teilzuhaben. Und die autoritären alten Säcke, wie sein Vater einer war, hatten ausgedient. Helmut Eulert fasste einen Entschluss. Genauer gesagt zwei Entschlüsse.
Mit einundzwanzig, sobald er volljährig war und ihm niemand mehr dreinreden konnte, würde er sich eine Frau suchen und seine eigene Firma gründen. Die richtige Reihenfolge musste sich noch zeigen.
Er war es leid, beim Daimler das machen zu müssen, was andere ihm anwiesen. Außerdem hatte er eine Idee. Mehr noch, eine Vision.
Das mit der Heirat hatte rein praktische Gründe. Er hatte es satt, Zeit und Geld in zickige Weiber zu investieren und dafür nicht mehr zu bekommen als ein bisschen Fummelei. Die sexuelle Revolution, musste er immer wieder erbittert feststellen, hatte den Cannstatter Burgholzhof bisher noch nicht erreicht. Vielleicht war er auch nur zu schüchtern.
Er verlor sich in seinen Träumen und merkte erst gar nicht, dass sich jemand neben ihn gesetzt hatte.
»Wovon träumst du? Von einer scharfen Braut?«
Es war Horst Kieninger, sein alter Kumpel. Üblicherweise begann nach der vierten Klasse das Kastendenken. Wer aufs Gymnasium ging, wollte nichts mehr zu tun haben mit den Volksschülern, auch wenn man sich im Viertel ständig über den Weg lief. Doch Horst war anders. Sie waren nach wie vor Freunde, stiegen den Mädels nach und gingen gelegentlich einen saufen.
»Ich mache meine eigene Firma«, sagte Helmut.
»Träum weiter.«
»Und wenn du deinen Ingenieur hast, kommst du zu mir.«
Horst seufzte. »Erst muss ich mal dieses Scheißabitur hinter mich bringen.«
»Das schaffst du. Dann der Bund, vier Jahre Studium, das heißt, in ungefähr sechs Jahren fängst du bei mir an als mein Chefkonstrukteur. Dann bin ich aus dem Gröbsten raus.«
»Sechs Jahre! Eine Ewigkeit! Weiß nicht, ob ich das noch erlebe. Übrigens gehe ich nicht zum Bund, ich verweigere. Du etwa nicht?«
Helmut schüttelte den Kopf. »Was die für Fragen stellen! Sie sind also gegen Gewalt? Und wenn jemand Ihre Freundin bedroht, was machen Sie dann? Die legen mich aufs Kreuz. Verweigern ist nur was für Intelligenzbolzen wie dich.«
Er würde die achtzehn Monate beim Bund runterreißen und sich durch nichts, aber auch gar nichts provozieren lassen. Wer am eigenen Leib erfahren hatte, dass Lehrjahre keine Herrenjahre sind, dem konnte kein dumpfer Feldwebel etwas anhaben.
»Gehst du mit zur Demo?«, fragte Horst.
»Gegen was?«
»Gegen die Kapitalistenschweine, gegen den Imperialismus, gegen den Faschismus, was weiß ich, das Übliche halt. Aber sag mal, wenn du deine Firma hast, bist du selber doch auch ein Kapitalistenschwein, oder?«
»Wir nicht. Wir machen das anders. Also beeil dich mit dem Studium.«
»Jetzt geh ich erst mal zur Demo. Komm mit, das wird ein Mordsspaß.«
Aber Helmut blieb sitzen und feilte an seinen Träumen.
Wir machen das anders: Helmut war es ernst damit. Klar wollte er Geld verdienen, viel Geld nach Möglichkeit, aber nicht auf dem Rücken seiner Leute. Niemals, schwor er sich, würde er sie so drangsalieren und ausbeuten, wie er das tagtäglich am eigenen Leib erfuhr. Niemals sollte das Streben nach Gewinn über den Anstand triumphieren.
Pünktlich am 23. April 1971, Helmuts einundzwanzigstem Geburtstag, eröffnete die »Eula – Eulert Motoren- und Apparatebau« in einer aufgelassenen Fabrikhalle in Bad Cannstatt. Helmut hatte sich in den vergangenen drei Jahren kaum etwas gegönnt und jeden Groschen auf die Seite gelegt, den er erübrigen konnte. Am selben Tag kam das Rolling-Stones-Album »Sticky Finger« auf den Markt.
Einen Plattenspieler besaß er immer noch nicht.
Dafür seine eigene Firma.
Wenn die auch aus nicht viel mehr bestand als aus veralteten Maschinen, die er bei Betriebsauflösungen zusammengekauft hatte, und der vagen Hoffnung auf ein paar Aufträge.
Er stand in der halb verfallenen Halle und schaute hoch zum Dach, durch das der Regen tropfte. Zur Feier des Tages hatte er sich eine Flasche Sekt geleistet, die er zusammen mit Horst leerte.
»Du musst verrückt sein, Helmut. Wie willst du das schaffen? Bevor du produzieren kannst, musst du erst mal renovieren.«
»Im Winter wird’s kalt werden, die Heizung ist kaputt. Aber ich krieg das hin.«
»Die Halle ist doch viel zu groß für deine Ein-Mann-Klitsche. Eine Garage hätte es für den Anfang auch getan.«
»Eines Tages werden wir den Platz brauchen. Also mach hin mit deinem Studium.«
Horst seufzte. »Wenn’s nicht so viel Ablenkungen gäbe.«
»Lass halt die Politisiererei bleiben. Hast du auch was mit dieser Baader-Meinhof-Geschichte zu tun?«
»Politik, ach was! Die Weiber, Helmut, die Weiber und der Wein. Bloß nicht der Gesang, das wäre abschreckend.«
»Ich brauch dich, Horst.«
»Wozu? Für mich gibt es doch nichts zu tun bei dir. Ich steh nicht an der Drehbank, das sage ich dir.«
»Wart ab. Ich habe ein paar Ideen, dafür brauche ich dich.«
»Hier für dich zum Einstand. Was von deinen Lieblingen«, sagte Horst und reichte seinem Freund die brandneue Platte der Rolling Stones.
Zum ersten Mal sah Helmut das Logo mit der herausgestreckten Zunge. Er verstand den Hintersinn dieses Geschenkes. Es war Horsts Art, ihm zu sagen, dass er an ihn glaubte. Er wusste, dass er keinen Plattenspieler hatte.
Zwei Tage später starb Helmuts Vater, zermürbt von den Wunden, die das Leben ihm beigebracht hatte. Plötzlich fielen Helmut die vielen Fragen ein, die er zu dessen Lebzeiten nie gestellt hatte, aber nun war es zu spät. Er tröstete sich damit, dass er ohnehin keine Antworten erhalten hätte. Wenigstens war es jetzt zu Hause etwas ruhiger. Er wohnte noch immer in seinem alten Kinderzimmer, um Geld zu sparen, und gönnte sich weiterhin nichts.
Helmut Eulert war zweiundzwanzig, als er defloriert wurde. Es geschah bei einer Studentenfete, zu der ihn Horst Kieninger mitgeschleppt hatte. Aus den Lautsprechern ertönten die sphärischen Klänge einer Band, deren Namen er nicht kannte.
Er war längst nicht mehr auf dem Laufenden, er hatte anderes zu tun. Bis spät in die Nacht war er in seiner Firma, und wenn er nicht an einem Auftrag arbeitete, flickte er das Dach, wechselte zerbrochene Fensterscheiben aus und werkelte an der Heizung, die er im nächsten Winter ganz bestimmt zum Laufen bringen würde.
Auf der Studentenfete herrschte eine eigenartige Atmosphäre. Die Luft war erfüllt von schweren Düften, die Stimmung von heiterer Gelassenheit, über allem schien ein friedvoller, ein liebevoller Geist zu schweben.
Ein Mädchen mit verträumtem Lächeln, in ein buntes Batikkleid gehüllt, nahm ihn einfach an der Hand und zog ihn mit sich. Es war vorbei, bevor er recht wusste, was geschah. Dem Mädchen schien es gefallen zu haben. Aber sie war auch zugedröhnt bis zur Halskrause. Mit demselben verträumten Lächeln ging sie zurück zu den anderen, als sei nichts gewesen.
So war das also. Und es war nicht schlecht. Auf einmal beneidete er diese Studenten. So ließ es sich leben. Er musste am nächsten Tag wieder früh aus den Federn, sehr früh, er hatte einen Auftrag, der termingerecht fertig werden musste und der ihn fast überforderte, er hätte gut noch zwei Leute brauchen können, die er aber nicht bezahlen konnte.
Ob er etwas falsch machte? Ob das Leben an ihm vorüberzog, während er für eine Firma malochte, die zwar seine eigene war, deren Erfolg aber in den Sternen stand?
An manchen Tagen kamen ihm Zweifel.
Bis er die Frau zum Heiraten gefunden hatte, sollte es noch einige Zeit dauern.