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Prolog

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Ihr Vater war kein Mensch gewesen, der nett zu Kindern war. Nicht zu ihr, und auch nicht zu den Schülern in dem Gymnasium, in dem er unterrichtete. Und so war es wohl gekommen, dass einer seiner Schüler auf diese dumme Idee gekommen war. Auf die Idee, abends in das Lehrerzimmer einzudringen, um die Grammatikbeispiele für die nächste Schularbeit im Computer zu finden. Damals war Susanne elf gewesen. Er hatte die Bilder gefunden.

Hunderte Bilder von Kindern, unbekleideten Kindern, Kindern in verschiedenen Posen, in denen Kinder sich nicht finden sollten. Einige der Bilder hatten Susanne gezeigt. Auf den ältesten war sie sechs Jahre alt gewesen, auf den jüngsten neun. Der Schüler hatte dann offenbar die Flucht ergriffen, ohne noch den Computer auszuschalten. So kam es, dass die Bilder auf dem Bildschirm erschienen, als der Direktor in der Früh versehentlich die Maus am Computertisch bewegt hatte.

Susanne konnte sich noch gut an diesen Tag erinnern. Als sie zu Mittag von der Schule gekommen war, waren zwei Polizeiautos vor ihrem Haus gestanden. Susanne sperrte das Haustor auf, da merkte sie, dass die Polizisten bei ihnen zu Hause waren. Die Mutter saß im Wohnzimmer und weinte. Als sie Susanne sah, sprang sie auf und umarmte sie. Das war seit langer Zeit nicht mehr vorgekommen. Susanne wusste gar nicht, was los war. „Mein armes Kind!“, schluchzte die Mutter immer wieder hervor und drückte sie an sich. Langsam wurde es Susanne ungemütlich. „Was ist eigentlich passiert? Ist was mit dem Papa?“, fragte sie.

Da hatte die Mutter es ihr erzählt. Es war schrecklich. In dieser Minute war es Susanne wirklich passiert. Die Dinge, die so lange zuvor passiert waren, wurden Wirklichkeit. Sie hatte das alles immer gewusst, aber sie hatte einen Weg gefunden, diese Stunden mit dem Papa beiseite zu schieben. Wenn es niemand wusste, war es irgendwie nicht echt. Und jetzt war es ja Gott sei Dank schon lange her. Die Natur hatte Mitleid mit Susanne gehabt, und sie hatte mit zehn Jahren schon ein wenig Busen bekommen. Das hatte dem Papa wohl nicht gefallen. Aber wenn es jetzt die Mutter wusste, und dann womöglich noch andere Leute, und … Susanne wollte gar nicht darüber nachdenken, wer aller das womöglich jetzt noch erfahren konnte. Ihr wurde hundeelend, und ihr Bauch begann zu schmerzen. Den Rest des Tages hatte sie so in Erinnerung, dass die Stunden einfach endlos lang waren. Nach einer Weile kam eine Frau, die sie noch nie gesehen hatte. Sie sagte, dass sie sich um sie kümmern wollte. Susanne hatte kein Wort zu ihr gesagt, aber die Frau war trotzdem bei ihr geblieben. Das war schon irgendwie gut, weil die Mutter immer weiter weinte und ihr auch keinen Tee für ihre Bauchschmerzen kochen konnte. Susanne kannte das schon. Wenn sie etwas brauchte, wurde es der Mutter schnell zu viel. Man musste sie schonen, weil sie so schwache Nerven hatte. Die Mutter hatte gesagt, dass Papa jetzt im Gefängnis war. Susanne wollte ihn sehen, aber sie traute sich nicht zu fragen. Endlich war der Tag irgendwie vorbeigegangen, und die fremde Frau hatte sie bis zum Schlafen begleitet. Die Mutter hatte sich schon mit einer Schlaftablette hingelegt.

Die nächsten Tage waren einfach nur schrecklich. Es gab die tagelange Hausdurchsuchung, und dann kam die Befragung. Man versuchte es ihr ja durchaus leichter zu machen, und trotzdem war es schrecklich. Sie begann auch zu weinen, so wie die Mutter geweint hatte, und sie weinte schrecklich oft diese Tage, bis ihre Wangen und Lippen weh taten von den salzigen Tränen. Nach einer Woche durfte sie wieder in die Schule gehen, denn man wollte ihr wieder ein normales Leben ermöglichen. Aber es nützte gar nichts. Als Susanne in die Gesichter der anderen Kinder sah, wusste sie, dass sie auch alles wussten, und ein Nebel von SCHRECKLICH wogte um sie, sodass ihr niemand mehr nahe kommen wollte.

Der einzige Ort, an dem sie es in dieser Zeit aushalten konnte, war das Therapiezentrum, in das man sie zwei Mal in der Woche schickte. Denn hier konnte sie die anderen Kinder sehen, denen auch so etwas passiert war. Eigentlich sahen diese Kinder auch ganz normal aus, so wie alle, die mit Susanne in die Schule gingen. Sie hatten normale Kleidung, trugen normale Rucksäcke am Rücken und interessierten sich für normale Dinge wie andere Kinder auch. Das war es vielleicht, was Susanne in dieser Zeit am meisten beruhigte: Wenn alle diese Kinder, die auch etwas SCHRECKLICHES erlebt hatten, noch wie normale Kinder ausschauten, dann traf das vielleicht auch auf sie selbst zu, obwohl in der Schule sie alle ansahen, als würden ihr grüne Hörner aus dem Kopf wachsen.

Ihre Therapeutin hieß Marlene. Sie war eine nette ältere Frau mit dunkelroten Haaren, die immer so freundlich lächelte. Sie hatten bisher nicht viel miteinander geredet, aber Susanne kam gern zu ihr. Im Therapiezimmer war es hell und ruhig. Auf dem Glastisch lagen kleine Muscheln und Jonglierbälle, gleich neben dem Päckchen Taschentücher, auf das Susanne sich verlassen konnte. Sie mochte es, diese kleinen Gegenstände in die Hand zu nehmen und ihre Oberfläche zu fühlen. Die Muscheln waren hart und kühl, die Jonglierbälle waren glatt und bamstig. Wenn Susanne in dem ruhigen Zimmer saß und einen Jonglierball drückte, fühlte sie, dass sie noch da war. Sie war nicht in Gedanken an früher, und sie war nicht unsichtbar, so wie sie für manche ihrer Schulkolleginnen anscheinend unsichtbar geworden war. Für die Mutter sowieso. Mit diesen Besuchen bei Marlene kam sie so langsam, langsam aus den SCHRECKLICHEN Tagen heraus, und sie fing an, mit Marlene zu reden. Sie redete über ihr Leben, was sie gerne mochte und was nicht so. Was die Lehrer in der Schule gesagt hatten und welches ihr neues Lieblingslied war. Es dauerte mehr als ein Jahr, bis sie anfing, auch nur über ihre Mutter oder über ihre alten Schulfreundinnen zu reden.

Zu Hause war es jetzt sehr still geworden. Die Mutter versuchte wohl irgendwie nett zu ihr zu sein, aber meistens verschwand sie bald im Schlafzimmer, nachdem Susanne von der Schule gekommen war und eine Tiefkühlpizza gegessen hatte, die die Mutter in den Ofen gesteckt hatte. Es war völlig unmöglich, dass sie und die Mutter ein Gespräch miteinander führten. Die Mutter fragte sie, wie ihr Tag gewesen war, während sie die Pizza in großen Happen in ihren Mund hineinschob. Susanne nuschelte zwischen dem Essen in ihrem Mund heraus, dass ihr Tag gut gewesen war. Sie sagte, dass sie Englischschularbeit gehabt hatte oder dass nächste Woche Wandertag sein würde. Die Mutter nickte und redete nichts. Nach dem Essen sagte Susanne, dass sie müde sei, obwohl das gar nicht stimmte. Sie wusste aber, dass die Mutter nicht fähig sein würde, sich weiter um sie zu kümmern, und wollte ihr kein schlechtes Gewissen machen. Also ging sie als erste weg und schloss die Tür ihres Zimmers hinter sich. Dort setzte sie sich aufs Bett und drehte das Radio auf. Manchmal versuchte sie etwas zu lesen, aber meistens schaute sie doch nur vor sich hin, während sie der munteren Stimme irgendeiner Radiomoderatorin lauschte. Susanne fühlte, dass ihr Leben langweilig war, aber ihr Körper schien viel schwerer geworden zu sein, seit die Polizei bei ihnen gewesen war. Es kostete sie gewaltige Anstrengung, überhaupt irgend etwas zu tun, in der Früh aufzustehen oder am Nachmittag noch halbwegs ihre Hausaufgabe zu schreiben. Obwohl die Lehrer die bei ihr sowieso nie kontrollierten, seit DAMALS.

Erst viel später fing sie an, mit Marlene über den Papa zu reden. Oder ihren Vater, wie sie jetzt meistens sagte. Ihr Vater war zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Gott sei Dank hatte sie nach der ersten Befragung nicht noch einmal aussagen müssen. Ihr Vater hatte offenbar alles zugegeben. Sie hatte ihn seit DAMALS nie mehr gesehen, und sie wollte ihn jetzt auch nicht mehr sehen. Sie hatte angefangen, über den Vater zu reden, weil sie jetzt Alpträume hatte. In diesen Träumen sah sie den Vater in einem kleinen Zimmer sitzen, und dann kam irgendwie von der Seite so ein großer Hammer, wie von Mauerwerk gemacht, und fegte ihn hinweg. Es war fast ebenso unangenehm, nicht zu wissen, was dieser Hammer für ein Ding sein sollte, wie mitanzusehen, wie er den Vater mit sich riss.

Marlene sagte, dass es normal war, dass sie so etwas träumte. Sie sagte, dass es sogar ein gutes Zeichen war, wenn sie zu träumen anfing. Susanne war sich da nicht so sicher, aber sie machte irgendwie weiter. Sie fühlte, dass sie weitergehen musste. Sie wollte nicht immer weiter still in ihrem Zimmer sitzen. Sie wollte irgendwann einmal wieder so sein wie die anderen Leute in ihrer Klasse, wie die Mädchen, die ihre besten Freundinnen hatten und über Kino und Burschen redeten. Oder wie die Lehrer, die sich anscheinend für das interessierten, was sie in den Stunden erzählten. Susanne wusste, dass auch sie nicht dumm war, und sie wollte noch nicht aufgeben, obwohl ihre Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Im Grunde war sie doch mehr ihres Vaters Tochter. Sie wollte nicht wie die Mutter sein, immer schwach, immer mit Kopfschmerzen oder am Weinen. Und deswegen hatte sie angefangen, über den Vater zu reden. Sie überlegte sich, was sie tun sollte, wenn er herauskam. Ob sie ihm einmal schreiben sollte. Ob sie es wagen sollte, im Therapieraum einmal das auszusprechen, was sie über ihn dachte. Natürlich nur in seiner Abwesenheit.

Vielleicht hätte alles gut werden können, irgendwie. Wenn nicht noch das andere passiert wäre.


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