Читать книгу Escape Plan - How far would you go to survive - S. L. March - Страница 15
ОглавлениеSteven
„Willst du reinkommen?“
Steven glaubte, sie schwach nicken zu sehen, ehe sie sich aufrichtete. Die zitternden Beine entgingen ihm nicht. Schnell schloss er die Tür auf und ließ sie rein.
„Nimm Platz.“ Er stellte die Sporttasche auf dem Boden ab und schloss die Tür. „Magst du Schokoladeneis?“
Myra setzte sich auf das Sofa. Schwieg.
Er holte zwei Löffel aus der Küche, entfernte die Verpackung und setzte sich mit dem Eisbecher neben sie. Er reichte ihr einen Löffel. Sie nahm ihn an und starrte darauf. Sie bebte. Ihr Schweigen war unheimlich.
„Was ist los?“, fragte er.
Myra griff in ihre Hosentasche, holte ihr Smartphone hervor und entsperrte es. Schließlich reichte sie ihm das Smartphone und er blickte auf das Bild eines kleinen Jungen. Man hatte ihm die Augen verbunden. Seine Wangen glänzten. Der Junge biss die Zähne zusammen. Er lag auf einem klapprigen Bettgestell, zusammengekauert, die Arme um den Bauch umschlungen. Die Beine aneinandergefesselt. Allein. Einsam. Verängstigt.
Steven stockte der Atem. Ihm wurde schlecht. Er stellte den Eisbecher beiseite, nahm das Gerät in die Hand und studierte die Umgebung des Jungen eingehender. Vielleicht gab es irgendwelche Bereiche, die Hinweise auf den Standpunkt des Jungen liefern konnten. Alte Berufskrankheit.
„Von wem ist das?“, wisperte er und schaute auf.
Myra war den Tränen nahe. „Ich weiß nicht“, raunte sie atemlos. „Irgendeine unbekannte Nummer. Ich wollte gerade ins Police Department, als mein Handy geklingelt hat. Ich bin drangegangen. Da war eine verzerrte Stimme. Sie sagte, wenn ich erzählen würde, was in der Werkstatt passiert ist, würde ich Toby nie wiedersehen. Dann habe ich dieses Bild bekommen.“
„Du warst also nicht beim Police Department? Du hast keine Anzeige gegen Daniel erhoben?“
„Nein“, krächzte sie. „Ich bin direkt zurück und habe mich in den Hausflur gesetzt.“
Das war vor zig Stunden. „Shit!“
„Du sagtest, dass du beim DEA warst. Kannst du mir helfen?“ Der Griff um den Löffel wurde kräftiger, die Fingerknöchel weiß. Die Stimme Verzweiflung pur. „Bitte, ich weiß nicht mehr weiter.“
„Das DEA kümmert sich eigentlich um Drogendelikte.“
„Ich weiß. Ich hatte gehofft, dass du sonst jemanden kennst, der mir weiterhelfen kann. Bitte Steven“, flehte sie unter Tränen. „Ich habe Angst um Toby.“
In seinem Kopf donnerten Richards Worte. Er solle sich seinen eigenen Problemen widmen, nicht denen anderer. Und die Entführung von Myras Sohn war definitiv kein kleines Problem. Einerseits wollte er auf die Worte des Bewährungshelfers hören, andererseits war da ein starkes Bedürfnis, das er nicht zuordnen konnte.
„Die Polizei wird ihn finden.“ Steven packte das Smartphone beiseite und legte seine Hand auf Myras Hand, die den Löffel umklammert hielt. „Da bin ich mir sicher. Aber es bringt weder dir noch ihm etwas, wenn du den Löffel zerdrückst.“ Er zwinkerte. Schließlich hielt er ihr den Eisbecher hin, in dem die Schokolade bereits zu schmelzen begann.
„Du kannst mir also nicht helfen?“
Doch, schrie sein Bauch. Aber sein Kopf dachte an die strengen Auflagen seiner Bewährung. An all die Konsequenzen und die Hölle, die ihn mit offenen Armen empfangen würde, sollte er sich in Dinge einmischen, die ihn nichts angingen. Er wusste, dass er die Worte des Bewährungshelfers befolgen sollte. Andererseits wollte er seine eigens vorgenommenen Probleme beseitigen.
Und dann war da noch Myra. Als er sie ansah, zog es in seinem Inneren. Er sah die Verzweiflung in ihren Augen. Die Hilflosigkeit in dem Glitzern ihrer Tränen. Die Furcht in dem unfassbar fesselnden Blick. Was, wenn das die Chance wäre, um über sie an die Ratte ranzukommen? Die einzige Chance. Würde er tatsächlich das Risiko scheuen sich in anderer Leute Probleme einzumischen, um weiterzukommen? Um endlich für Gerechtigkeit zu sorgen? Er müsste ihr einen Stoß in die richtige Richtung geben. Wohlmöglich sogar in das Terrain der Ratte stoßen, um voranzukommen. Das Gebiet des Giovanni Clans umfasste neben Boston ganz New Jersey. Dort fiel ihm bloß einer seiner Kontakte ein.
„Möglicherweise könnte ich eine Bekannte um Hilfe bitten.“
„Das würdest du für mich tun?“ Ihr strahlendes Lächeln und das hoffnungsvolle Lodern ihrer Augen ließen ihn schwächeln. „Ich kann dir aber nicht versprechen, dass sie helfen kann. Sie ist eine sehr gute Analystin. Möglicherweise findet sie auf dem Bild versteckte Hinweise auf den Aufenthaltsort oder über den Absender raus.“
„Ich kann es dir schicken. Gibst du mir deine Nummer?“
Wenn er ihr seine Nummer gab und er mit seiner Bekannten in Kontakt treten würde, hätten seine Beobachter dann auch davon Kenntnis?
Er räusperte sich. „Ich gebe dir lieber ihre Nummer. Schreib, dass du ihren Kontakt von mir hast.“
Myra stutzte. „Okay?“
Er diktierte ihr die Nummer und sah dabei zu, wie sie das Foto verschickte. Ein Knurren von ihrem Bauch war nicht zu überhören.
„Möchtest du wenigstens kosten?“ Er hielt ihr den Eisbecher hin. Myra gab sich geschlagen und probierte. Ihr entfuhr ein wohliger Seufzer und sie langte gleich nochmal zu.
„Du hast also keine Ahnung, wer der Anrufer gewesen ist?“, fragte Steven.
„Nein, leider nicht. Die Stimme klang so mechanisch. So abgehakt, als käme sie von einem Computer.“
„Eher männlich oder weiblich?“ Steven beobachtete Myra, die weiter Eis löffelte. Sein Eis. Aber ihre Nerven brauchten den Zuckerkick gerade mehr als er.
„Männlich. Tief. Es ging so schnell.“
„Hast du gemerkt, ob dich jemand beobachtet hat, als du zum Police Department gegangen bist?“
Myra stellte den Eisbecher samt Löffel auf den Tisch. „Nein, darauf habe ich nicht geachtet. Wir haben uns verabschiedet und ich bin direkt auf das Gebäude zugegangen. Kurz bevor ich den Eingang betreten wollte, kam der Anruf. Mich muss also schon längere Zeit jemand beobachtet haben. Möglicherweise –“ Sie stoppte und sah ihn an. Entsetzt. Blass. „Vielleicht wurde ich bis nach Hause verfolgt.“
Verfolgung. Beobachtung. Fuck! Daran hatte er in der ganzen Aufregung nicht gedacht. Steven stand auf, sah kurz nach draußen und zog sämtliche Jalousien zu. „Sei unbesorgt, hier bist du sicher“, sagte er, als er das letzte Fenster zuzog und war sich selbst nicht sicher.
„Danke.“ Myra brachte ein Lächeln hervor und stieß gleich einen leisen Schmerzlaut aus. Eine Hand zuckte zu ihrem geschwollenen Auge.
„Hast du die Schwellung schon gekühlt?“, fragte er.
„Nein.“
Steven ging in die Küche, kramte aus dem Eisfach eine Tüte mit Erbsen hervor und wickelte es in einem Handtuch ein. Damit setzte er sich neben sie.
„Schließ bitte das Auge.“
Sie folgte seiner Bitte. Sanft legte er ihr die Tüte auf das Veilchen.
„Danke“, wisperte sie und wollte ihm die Tüte abnehmen.
„Ich halte das.“ Er lächelte. „Hey, zwinkerst du mir etwa gerade zu?“
„Haha.“ Erneut grinste sie und verzog vor Schmerz das Gesicht.
„Die haben dich echt übel erwischt.“ Steven musterte ihre makellose Haut. Die süße Stupsnase.
„Dann hättest du mal den anderen sehen sollen.“ Nun blickte sie ihn direkt an.
Ihm wurde heiß. Wie ertappt starrte er ihr in die Augen. Da war es wieder. Dieser Funke. Elektrisierend. Anregend. Sie war ihm so nah. Beim Anblick ihrer Lippen, die seinen so nah waren, überkam ihn das Verlangen, darüber zu streichen. Wie sie wohl schmeckten? Er musste sie kosten. Nur einmal. Er wagte sich langsam vor. Fast berührte er ihre Nasenspitze. Es kribbelte in seinem Bauch. Sein Herzschlag beschleunigte sich.
Sie öffnete die Lippen. Als könnte sie kaum erwarten, dass er sie berührte.
Ein Vibrieren riss sie auseinander. Steven ließ die Erbsen sinken. Hastig griff Myra nach dem Smartphone und starrte auf das Display. „Deine Bekannte hat geantwortet“, sagte sie und runzelte die Stirn. „Sie schreibt, dass sie nichts unternehmen wird, bis du ihr ihren Besitz zurückgegeben hast.“ Dann schaute sie auf. „Hast du Stress mit ihr?“
„Vielleicht habe ich sie das ein oder andere Mal nicht zurückgerufen.“ Er räusperte sich. „Oder mich gemeldet. Vielleicht habe ich auch mal ihren Geburtstag vergessen.“
„Ist sie deine Ex?“, fragte sie amüsiert und zog eine Braue in die Höhe.
„Nein, eine alte Arbeitskollegin.“
„Wieso rufst du sie dann nicht an?“ Sie reichte ihm das Handy. „Und entschuldigst dich bei ihr.“
Er starrte auf das Handy. Direkt musste er an ihren letzten Abschied denken. In seiner Brust schmerzte es. Ein Gefühl von Kummer überkam ihn. „Sie will bestimmt nicht mit mir reden.“
„Der Nachricht nach schon. Weshalb sollte sie nicht mit dir reden wollen?“
Ohne ihr zu antworten, nahm er ihr das Smartphone aus der Hand. Lange starrte er darauf. Mit Linda zu sprechen würde tiefsitzende Wunden aufreißen. Er war nicht bereit dafür. Er hatte nicht mal verarbeitet, dass er im Knast gelandet war.
„Steven? Alles okay?“ Sie schien besorgt.
„Ich weiß nicht, ob ich das kann“, raunte er ehrlich.
„Das ist bloß ein Anruf.“ Sie lächelte verschmitzt. „Ein Knopfdruck.“
Steven gab ihr das Handy zurück. „Tut mir leid, ich kann nicht.“ Wie aus dem Nichts war da dieser Druck auf seiner Brust. Schwer. Erdrückend. Die Anspannung wühlte ihn innerlich auf. So viele Monate hatte er sie erfolgreich verdrängt. Hatte die dunklen, grausamen Erinnerungen tief in sein Unterbewusstsein verbannt. Mit einem Schlag waren sie wieder da. Er fuhr sich durchs Haar. Wie sollte er Myra erklären, dass es zu schmerzhaft war, wenn er sich mit Linda unterhalten würde? Gut nur, dass sie weit entfernt voneinander wohnten.
Er stand auf. Jetzt musste er sich unbedingt die Beine vertreten. „Kennst du nicht sonst jemanden, der dir helfen könnte?“
Myra tippte auf ihr Display. „Nein, kenne ich nicht.“
„Familie, Freunde, einflussreiche Bekannte?“ Seinen Erzfeind? Es wäre zu auffällig, wenn er den Namen der Ratte aussprechen würde. Dann würde sie merken, dass etwas faul wäre.
„Die habe ich leider nicht.“ Noch immer tippte sie auf das Display.
„Hast du Bekannte, die einflussreiche Freunde haben oder kennen?“
Kurz schaute sie auf, schien zu überlegen, bevor sie sich wieder dem Handy widmete. Sie dementierte.
Steven schob die Hände in die Hosentaschen. Verdammt. Wie konnte er sie nur dazu bewegen, dass sie sich an die Ratte wandte?
„So, erledigt“, sagte Myra irgendwann. Er wandte sich ihr zu. Das Handy lag auf dem Tisch. Neben dem halbvollen Eisbecher, indem das Eis schmolz.
„Erledigt? Hat sie zugestimmt, dir zu helfen?“, fragte er erstaunt.
Sie schaute auf. Keck grinste sie. „Ich habe ihr vorgeschlagen, dass wir sie besuchen kommen.“
Steven riss die Augen auf. „Du hast WAS?“, schrie er.
„Noch heute“, fuhr sie fort.
„Und –“ Er schluckte. „Was hat sie geantwortet?“
„Sie freut sich, uns zu sehen.“
„Oh Mann“, entfuhr es ihm und er hielt sich die Hand vor die Augen. „Hast du überhaupt eine Vorstellung, was du mir damit antust?“
Er hatte nicht damit gerechnet, dass Linda ihn überhaupt sehen wollen würde. Mit ihm reden wollte. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, was sie ihm an den Kopf werfen würde.
„Nein. Erzählst du es mir?“ Sie lächelte verschmitzt. Würde dieses hinreißende Lächeln nicht sein Herz zum Beben bringen, hätte er sich vermutlich beschwert.
„Vielleicht irgendwann mal“, sagte er. „Na schön, dann würde ich sagen, pack schon mal deinen Koffer.“
„Meinen Koffer packen? Wozu?“
Er verschränkte die Arme vor der Brust. Der Gedanke daran, mit ihr gemeinsam im Auto zu sitzen und die Zeit zu nutzen, um seiner Rache ein Stück näher zu kommen, hob seine Laune. „Na, um deinen Vorschlag einzulösen.“
„Wieso sollte ich dafür einen Koffer benötigen? Wir fahren sie doch bloß besuchen.“
„Es ist schon später Nachmittag. Ich denke, wenn wir gut durchkommen, sind wir am späten Abend in Boston.“
„Was? So weit weg?“