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1.1.3 Kriterien der historischen Jugendforschung am Beispiel Jean-Jacques Rousseaus

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Jugend in Raum und Zeit

Jugendtheorien, Jugendleben oder Jugendkulturen sind stets abhängig von Raum und Zeit. Sie unterliegen demnach auch dem historischen Wandel. Wandel ebenso wie Kontinuität, Veränderungen, Brüche oder Übergänge bezogen auf Jugend sind Gegenstand der historischen Jugendforschung. Sie befasst sich mit der Geschichte der Jugend ebenso wie mit historischen Jugendkonzepten, die beispielsweise durch die Wissenschaften hervorgebracht und etabliert wurden. Darüber hinaus ist auch im Kontext historischer Jugendforschung ein interdisziplinärer Zugang notwendig. Kunstgeschichte, Literatur, Medizingeschichte oder Anthropologie haben Wissen über Jugend in einer bestimmten Zeit hervorgebracht. Auch Jean-Jacques Rousseau machte für seine Schrift „Emile oder über die Erziehung“ von 1762 Anleihen bei verschiedenen Disziplinen und umgekehrt befassen sich bis heute unterschiedliche Disziplinen mit diesem Autor, die Geschichtswissenschaft ebenso wie die politische Philosophie oder die Erziehungswissenschaft. Einige wesentliche Kriterien der historischen Jugendforschung sollen im Folgenden daran dargelegt werden.

Zur Wirkungsgeschichte Rousseaus

Rousseau galt in der Geschichte der Pädagogik lange als „Erfinder“ moderner Kindheit und Jugend. (Vgl. dazu ROTH 1983) Inzwischen wird von einer solchen Zuschreibung innerhalb der historischen Forschung deutlich Abstand genommen. Auch diese Einführung sieht in den Schriften Rousseaus nicht den Ursprung jugendtheoretischer Überlegungen. Man kann wohl nur selten einer einzelnen Person allein zuschreiben, etwas Neues hervorgebracht oder einen Anfang gesetzt zu haben. In der Regel muss man die Kontexte, das Milieu, die politischen, sozialen und ökonomischen Notwendigkeiten einer Zeit, die kulturellen Bedürfnisse, die Kollegen, Widersacher und Freunde, mit denen es Autorinnen und Autoren zu tun hatten, berücksichtigen. So integrierte Rousseau in seiner Schrift „Emile oder über die Erziehung“ ältere Texte – beispielsweise die eines Naturforschers und eines Theologen. Er brachte also nicht etwas ganz Neues über Kindheit, Jugend und Erziehung hervor, sondern er kombinierte das zur Verfügung stehende Wissen mit seinen philosophischen und politischen Ansichten.

Allerdings fand Rousseau eine Sprache, die nicht nur seine Zeitgenossen aufhorchen ließ, sondern durch die seine Werke bis heute Beachtung finden. Schon zu Lebzeiten Rousseaus war die Meinung über ihn keineswegs einhellig, denn er fand sowohl eine hingebungsvolle Anhängerschaft als auch erbitterte Gegner. Vor allem in der Pädagogik fühlte man sich von Rousseau angesprochen und zeigte sich offen für viele seiner Ideen. Darüber hinaus komponierte Rousseau die Themen in seinen Schriften zukunftsweisend und nahm wirksame Wertungen über die „richtige“ Erziehung von Kindern und vor allem von Jugendlichen vor. Die bei dem Genfer Philosophen artikulierte Idee von Jugend war für das moderne westliche Bild wichtig. Eine Analyse von Jugend als wirksamer historischer Denkfigur kann deshalb Jean-Jacques Rousseau nicht übergehen und eine Einführung in die Jugendforschung sollte Informationen über Rousseau enthalten. Diese Sichtweise sollte die Lektüreperspektive im Folgenden leiten.

Eine kritische Sicht auf Normalitätsvorstellungen

Mehr als die Hälfte des Erziehungs- und Entwicklungsromans „Emile“ befasst sich mit dem Aufwachsen eines Kindes. In drei Büchern charakterisiert Rousseau die Erziehung, die Beschäftigung, die Unterrichtung des kindlichen Zöglings Emile, bevor er diesen seinen Leserinnen und Lesern als Jugendlichen vorstellt. Dieser enge Zusammenhang von Kindheits-, Jugend- und politisch eingebetteter Erziehungstheorie ist auch für die historische Jugendforschung relevant. Gleichwohl kann man in diesem Kontext in der Rousseauschen Definition von Jugend als „zweiter Geburt“ einen zentralen Ausgangspunkt jugendtheoretischer Überlegungen sehen. In dieser Zuschreibung wird nämlich die kulturell und sozial erzeugte Herausgehobenheit der Jugendphase sichtbar. Anthropologisch kann der Mensch schließlich nur einmal geboren werden und Irritationen bei seinem Lesepublikum, in dem die Frauen bereits zu seinen Lebzeiten stark vertreten waren, sind leicht vorstellbar. Nach einer aufwendig dargelegten Erziehung des Kindes führte einen die Lektüre zu seiner These, dass man in der Jugend ein zweites Mal geboren werde. Da weiter unten ausführlich auf die jugendtheoretische und historische Bedeutung eingegangen wird, soll an dieser Stelle lediglich die prinzipielle Betrachtungsweise dargelegt werden: Derartige historische Vorstellungen von Jugend basierten in der Regel auf einem Ideal und transportierten spezifische Normalitätsvorstellungen ihrer Zeit. So kann man beispielsweise an Rousseau rekonstruieren, wie politisch fortschrittliche Kräfte und die Intellektuellen des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich über das Aufwachsen gedacht und diskutiert haben. Man kann herausfinden, was sie als normale, was als abweichende Form der Erziehung, des Umgangs, der Fürsorge angesehen haben. Darüber hinaus muss die historische Jugendforschung rekonstruieren, welcher Maßstab Jugendtheorien zugrunde lag, welches Menschenbild dominant war und ob relevante Unterschiede überhaupt in den Blick genommen wurden.

Normen und Werte in der Jugendforschung

Ein unkritischer Umgang mit Normalitätsvorstellungen – die auch nichts anderes als soziale Konstrukte sind – lässt allzu leicht vergessen oder übersehen, dass auch die Forschung mit ihrer Theoriebildung auf Normen und Werten basieren kann. So orientierte sich die historische Jugendforschung lange am männlichen jungen Menschen und an den Idealen und Vorstellungen der herrschenden Gesellschaftsschicht. Das führte dazu, dass der Bürgersohn, der Jüngling, das Ideal repräsentierte und alle anderen, also Mädchen oder Jugendliche außerhalb des Bürgertums als Abweichungen erschienen.

Historische Erkenntnisse über die Phase zwischen Kindheit und Erwachsenendasein hatten somit nur eine begrenzte Aussagekraft über einen Teil der jungen Menschen ihrer Zeit. Ferner wird deutlich, dass die zunehmende Beschäftigung mit der Jugendphase dazu führte, dass Jugendideale entwickelt wurden und idealisierte Vorstellungen über den pädagogischen und sittlichen Umgang mit jungen Menschen kursierten.

Die Bedeutung der Geschlechterdifferenz

Die historische Jugendforschung hat in den letzten zwei bzw. drei Jahrzehnten wesentliche Impulse aus der Geschlechterforschung erhalten. Insgesamt ist die Beachtung der Geschlechterdifferenz in erziehungswissenschaftlichen Kontexten zentral geworden. Für die Unterscheidung zwischen Jungen- und Mädchenjugend, für die damit verbundenen normativen Vorstellungen über den Jungen und über das Mädchen im Hinblick auf Verhalten, Sittlichkeit, Erziehung und Entwicklung sind Rousseau und sein historischer Kontext im 18. Jahrhundert wichtig.

Insbesondere die historisch pädagogische Geschlechterforschung hat die einseitige Wahrnehmung des männlichen Ideals im „Emile“ an der traditionellen historischen Jugendforschung systematisch kritisiert. Die Kritik richtete sich dabei auf die bewusste oder aber unreflektierte Annahme, man könne in Anlehnung an Rousseau eine „geschlechtsneutrale“ Jugendtheorie konzipieren. Die Annahme der Geschlechtsneutralität, so der Vorwurf, verdecke aber u. a. die Orientierung am männlichen Jugendideal.

Die politische Dimension in der historischen Jugendforschung

Bei Rousseau konnte allenfalls die Erziehung des kleinen Kindes relativ unabhängig von seinem Geschlecht vor sich gehen, wohingegen seine Erziehungsvorstellungen für den Jugendlichen markante Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen aufwiesen. Diese Differenzierungen begründete Rousseau, wie vor und nach ihm viele andere, mit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Familie und Öffentlichkeit: Das Mädchen wird auf seine Aufgaben als liebende Ehefrau, ökonomisch umsichtig waltende Hausfrau und tugendhafte Mutter vorbereitet, der Junge hingegen auf seinen Beruf, seine politischen Pflichten als Bürger und auf die Treue zum Vaterland.

Beide, weibliche und männliche Jugenderziehung, zielten bei Rousseau auf republikanische Tugenden wie Patriotismus, Aufrichtigkeit und Tapferkeit. Hierin ist ein genereller Bezugspunkt der gesellschaftlichen Betrachtungen von und der Auseinandersetzung mit Jugend zu sehen: Die Sorge der älteren Generation um die anerkannten Werte und Tugenden der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Insofern wirkt Jugend nicht selten als Maßstab für die Stabilität oder eben Instabilität der sozialen und symbolischen Ordnung. Das Geschlechterverhältnis und das Generationenverhältnis sind wesentliche Bestandteile sozialer und symbolischer Ordnungen. Insofern beziehen sich die Kriterien der historischen Jugendforschung auf die in Jugendtheorien oder -vorstellungen repräsentierten oder reproduzierten sozialen Ordnungen einer Zeit. In Anlehnung daran sind einerseits Erkenntnisse über das jeweilige Verständnis von Abweichungen und andererseits Erkenntnisse über Vorstellungen zum pädagogischen Umgang mit jungen Menschen möglich.

Einführung in die Jugendforschung

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