Читать книгу Einführung in die Jugendforschung - Sabine Andresen - Страница 9
1.1.1 Die Jugendphase in autobiographischen Erinnerungen
ОглавлениеDas jugendliche „Erweckungserlebnis“
„Ich hatte irgendwann einmal eine Minute halb in meinem Kindes-, halb in meinem Mannesalter … Damals hörte ich die Zeit wachsen, ich spürte den Punkt, in dem die Zeitlosigkeit sich mit der Zeit trifft. Seitdem gibt es für mich zwei Arten von Zeiten, die eine, in der das Leben sich breit macht, die Arbeit, die Sehnsucht, die Tätigkeit und der Gedanke – ein äußerer Faden, an dem entlang du dich leicht zurecht findest. Die andere Zeit (du kannst es auch Zeitlosigkeit nennen) ist das leise Strecken deiner nackten Seele, ein zu einem kleinen Punkt zusammengeschrumpfter Funke, der immer tiefer in seiner Flut versinkt …“ (KARL MANNHEIM, in Laube 2004)
In autobiographischen Texten aus dem zwanzigsten Jahrhundert fehlt nur selten das einschneidende „Erweckungserlebnis“ im Jugendalter. Der Wissenssoziologe Karl Mannheim, dessen Generationentheorie später wichtig für die soziologische Jugendforschung werden sollte, interpretierte diese intensive Erfahrung als neues Bewusstsein für die Zeitlichkeit und Begrenztheit menschlichen Daseins. Das jugendliche Erweckungserlebnis der Existenzphilosophin Simone de Beauvoir beschreibt diese in ihren „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“ (1958) als Abkehr vom göttlichen Glauben ihrer Kinderjahre angesichts des nächtlichen Sommerhimmels über Südfrankreich. Der Psychoanalytikerin und Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé hingegen gelingt durch eine enge erotisch-intellektuelle Beziehung zu einem verheirateten Theologen die Lösung von den Konventionen ihres Elternhauses. Lou Salomés jugendliche Verwicklungen und konfuse Gefühle und ihre Entschlossenheit, als Mädchen unabhängig zu werden, schildert sie in einem erst posthum veröffentlichten „Lebensrückblick“ (1968). Hierin verarbeitete die psychoanalytisch geschulte Frau fast ausschließlich ihre Jugend, obwohl später turbulente und interessante Jahre in ihrem Erwachsenenleben folgten.
Erinnerte Krise
Eines ist typisch für diese autobiographischen Jugenderinnerungen: die Wahrnehmung einer Krise und deren Thematisierung als Einschnitt oder Zäsur im Lebenslauf. Wahrnehmung und Thematisierung der Krise bezogen sich im weitesten Sinne auf die sich verändernde Identität, auf die Deutung der Welt und das Verständnis der eigenen Position. Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson (engl. O. 1968 / 1998) hat in seiner für die Pädagogik und Psychologie gleichermaßen bedeutsamen Jugendtheorie die Erfahrung der Krise und die Notwendigkeit ihrer Überwindung für die Hervorbringung einer stabilen Identität als zentrale Aufgabe der Jugendphase bezeichnet. In dem Kapitel über Erikson wird ausführlich darauf eingegangen.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Jugend insbesondere im Verlauf des letzten Jahrhunderts auch deshalb zu einer wirksamen historischen Denkfigur wurde, weil viele Personen aus dem öffentlichen Leben ihre Erinnerungen publizierten, viele Menschen Tagebuch schrieben und dadurch Zeugnis von ihren jugendlichen Empfindungen ablegten, andere wiederum in Briefen das politische, soziale oder kulturelle Geschehen aus der Sicht eines jungen Menschen kommentierten, persönliche Berichte über das zeittypische Familienleben lieferten oder Einblicke in jugendliche Freundschafts-und Liebesbeziehungen eröffneten. So sind beispielsweise die Feldpostbriefe, die junge Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg (1914 – 1918) an ihre Familien oder an die Jugendgruppe in der Heimat schrieben, eindrucksvolle Dokumente jugendlicher Wahrnehmung des Frontgeschehens, in denen Hoffnung, Verzweiflung, Angst und Überzeugung gleichermaßen zum Ausdruck kommen.
Normalitätskonstruktionen
Damit Jugend also zur historisch wirksamen Denkfigur und zu einem selbstverständlichen Bestandteil des Lebenslaufs werden konnte, musste diese Lebensphase sowohl von den Individuen als solche wahrgenommen und akzeptiert als auch autobiographisch und theoretisch reflektiert werden. Diese Formen der Auseinandersetzung fanden nicht zu allen Zeiten statt, weil es dazu bestimmter gesellschaftshistorischer Bedingungen bedurfte.
Wenn wir uns mit Jugend als wirksamer Denkfigur befassen, so haben wir es auch mit Normalitätskonstruktionen zu tun. Das heißt, unsere Sicht auf diese Lebensphase wird durch bestimmte Vorstellungen über eine „normale“ Entwicklung, einen „normalen“ Lebenslauf oder über „normale“ Jugenderfahrungen gelenkt. Die in einer bestimmten Zeit vorherrschenden Normalitätskonstruktionen lassen sich beispielsweise an autobiographisch ausgeschmückten Erweckungserlebnissen ablesen. Wissenschaften wie die Erziehungswissenschaft, die Entwicklungspsychologie oder die Medizin haben mit ihren Erkenntnissen und Diskursen über Jugendliche und Jugend mit zu den Vorstellungen über Normalität beigetragen. Als Folge daraus entstand auch das pädagogische Interesse an Abweichungen.