Читать книгу Einführung in die Jugendforschung - Sabine Andresen - Страница 24
2.2.3 Gleichaltrige in der Literatur
ОглавлениеLust und Scham
In der psychologisch sensibel dargelegten Erzählung über „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ (1906) von Robert Musil bedroht ein streng sanktionierendes, am Kollektiv ausgerichtetes Konvikt die subjektiven Empfindungen eines Schülers. Gleich zu Beginn legt Musil dar, wie sich die innere Kraft des Kindes im Verlauf der Schulzeit verliert, ohne dass die Eltern angemessen darauf reagieren können, weil ihnen das Potenzial zur Erkenntnis jugendlicher Entwicklung und zum Umgang mit diesen Prozessen fehlt. Im Zentrum der Erzählung stehen pubertäre seelische „Verwirrungen“ und das Verlorensein eines Jungen, eingebettet in die Dynamik der Gleichaltrigengruppe, zu der vor allem derbe, rohe Jünglinge guter Herkunft zählen.
Törleß’ inneres Leben ist vor allem durch Bilder sehnsüchtiger Phantasien geprägt und zu denen gehören auch sexuelle Phantasien. Insbesondere Letztere erzeugen im Jugendlichen zugleich Lust und Scham, die aus seiner bürgerlichen Herkunft und Erziehung, die gewissermaßen immer präsent bleiben, resultieren. Die Krise dieser gleichaltrigen Jungengruppe gipfelt in einer erzwungenen homosexuellen Beziehung, die Scham, Sadismus und Verachtung unter den Jugendlichen hervor bringt. Ein Jugendlicher, als Dieb entlarvt, wird von zwei Freunden erpresst, gedemütigt und körperlich und sexuell missbraucht, von Törleß zusätzlich psychisch gequält. In der Angst, der Gewalt der gesamten Klasse ausgeliefert zu werden, stellt sich der Schüler der Schulleitung, wodurch ein Verfahren eröffnet, der Mob befragt und das Opfer, nicht seine Peiniger, von der Schule verwiesen wird. Bei dem Verhör verwirrt Törleß das Lehrerkollegium durch die Darlegung seiner eigenen, selbst empfundenen inneren psychischen Dynamik, woraufhin man den Eltern eine Privaterziehung empfiehlt.
Bildungsprozesse
Musil stellt die Veränderung der inneren Haltung Törleß’ gegenüber seinen quälenden Freunden und dem Opfer und seine persönliche Suche nach einem hinter der Gewalt liegenden Sinn als einen Bildungsprozess dar. So kommt es, dass der Jugendliche aus dieser tiefen Krise mit einem neuen Selbstbewusstsein, einem Wachstum der Seele, hervorgeht. An diesem ästhetisch radikalen Subjektivismus Musils, der sich ganz und gar auf die inneren Prozesse konzentriert und somit keineswegs die Bandbreite der Literatur seiner Zeit repräsentiert, kann dennoch etwas Typisches gezeigt werden: In den literarischen Jugendbildern wirken das Arrangement von inneren jugendlichen Nöten wie Selbstzweifel, Identitätssuche und verunsichernde sexuelle Erfahrungen mit der Gleichaltrigengruppe in ihren Zwängen und Stärken und der Erziehungsinstitution, die für den gesellschaftlichen Auftrag der Anpassung steht, zusammen. Die Kritik an der Erziehung, ihren Institutionen und den darin Tätigen äußerte sich bei Musil weitaus subtiler und psychologischer als bei Wedekind. In einem Bild zeichnet er die innere Befindlichkeit der jugendlichen Seele markant nach: Verwirrung nämlich
„bewirkten die besonderen Verhältnisse im Institut. Dort, wo die jungen aufdrängenden Kräfte hinter grauen Mauern festgehalten wurden, stauten sie die Phantasie voll wahllos wollüstiger Bilder, die manchen die Besinnung raubten. Ein gewisser Grad von Ausschweifung galt sogar als männlich, als verwegen, als kühnes Inbesitznehmen vorenthaltener Vergnügungen. Zumal wenn man sich mit der ehrbar verkümmerten Erscheinung der meisten Lehrer verglich. Denn dann gewann das Mahnwort Moral einen lächerlichen Zusammenhang mit schmalen Schultern, mit spitzen Bäuchen auf dünnen Beinen und mit Augen, die hinter ihren Brillen harmlos wie Schäfchen weideten, als sei das Leben nichts als ein Feld voll Blumen ernster Erbaulichkeit.“ (MUSIL 1906 / 1988, S. 23)
Bei Musil ist das Kennenlernen seelischer Abgründe in der Jugend der angemessene Weg zur Reifung. Als man den erwachsenen Törleß, der ein feiner und empfindsamer Mann geworden war, danach fragte, ob die Erinnerungen an den mit den Freunden erlebten Skandal nicht beschämend seien, wies er diesen Gedanken weit von sich und verlieh der jugendlichen Krise ihren spezifischen Sinn:
„Ich leugne ganz gewiß nicht, dass es sich hier um eine Erniedrigung handelte. Warum auch nicht? Sie verging. Aber etwas von ihr blieb für immer zurück: jene kleine Menge Giftes, die nötig ist, um der Seele die allzu sichere und beruhigte Gesundheit zu nehmen und ihr dafür eine feinere, zugeschärfte, verstehende zu geben. Wollen Sie übrigens die Stunden der Erniedrigung zählen, die überhaupt von jeder großen Leidenschaft der Seele eingebrannt werden? Denken Sie nur an die Stunden der absichtlichen Demütigung in der Liebe!“ (MUSIL 1906 / 1988, S. 181)
Diese literarischen Imaginationen über Jugend korrespondieren wie im Falle Musils auch mit den ästhetisch kulturellen Auffassungen des Autors. Sie verweisen darüber hinaus jedoch auf die unterschiedlichen Perspektiven auf die Entwicklung des Menschen vom Kind zum Erwachsenen, die mit der Moderne diskutiert wurden. Besonders nahe liegend schien es, den psychologischen Blick zu schulen. So fanden neben literaturtheoretischen Aspekten veränderte Wahrnehmungen über Jugend Eingang in die lesende bürgerliche Welt und veranlassten dort Mütter und Väter, aber auch professionelle Pädagoginnen und Pädagogen, die jungen Menschen zu beobachten.
Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entsteht so ein facettenreiches Bild der Jugendphase, zu dem die Kunst, die Wissenschaft, die Pädagogik, die Politik, die Polizei, die Medizin und mit ihr die Psychoanalyse und Psychologie wesentliche Beiträge geliefert haben. In seiner Studie über die gesellschaftliche Konstruktion des Jugendalters bezeichnet Johannes Christoph v. Bühler (1990) dies als Fremdthematisierung der Jugendphase.