Читать книгу Einführung in die Jugendforschung - Sabine Andresen - Страница 23
2.2.2 Jugend in der Metapher des Frühlings
ОглавлениеMetaphorisch verbanden sich mit dem Begriff Jugend in der Literatur der frühe Morgen, das Erwachen und der Frühling. Ein Programmbild dieser Epoche ist das Gemälde „Frühlingssturm“ von Ludwig von Hofmann. Es zeigt eine Dreiergruppe, die sich auf einer Meeresklippe dem Sturm stellt. In der Mitte ein nackter, schlanker Jüngling, der zwei junge, halb entblößte Frauen mit wehenden Röcken und Haaren im Arm hält. Nahezu prototypisch ist für diese Metaphorik auch das Theaterstück von Frank Wedekind „Frühlings Erwachen“, das der Autor als „Kindertragödie“ bezeichnet hatte. In diesem bis heute in vielen Schultheatern gespielten Stück zeigen sich die Sorgen und Nöte jugendlicher Mädchen und Jungen, auf die in Elternhaus und Schule ausschließlich mit übertriebener Strenge oder Vorsicht, mit Unverständnis und Unaufrichtigkeit reagiert wird.
Akteure und Inhalt in „Frühlings Erwachen“
Die Hauptpersonen des Stücks sind Wendla Bergmann und die beiden Freunde Moritz Stiefel und Melchior Gabor. Bei den Themen handelt es sich um Schulangst, Leistungsdruck, Sexualität und Freundschaft – Aspekte, die auch heute keineswegs frag- und klaglos die Jugendphase begleiten.
In „Frühlings Erwachen“ prallen die Sehnsüchte der jugendlichen Protagonisten auf die eng strukturierte Welt der bürgerlichen Gesellschaft und auf die Unfähigkeit der Erwachsenen, angemessen mit jugendlichen Bedürfnissen umzugehen. Diese sehen in Moritz, Wendla und Melchior zu bekämpfende, zu formende oder zu kontrollierende Wesen. Wedekind ergreift deutlich Partei für die Bedürfnisse der Jugendlichen, ohne sie zu idealisieren. Hingegen wirken die Erwachsenen in ihrer Lächerlichkeit und Lebensferne ausschließlich destruktiv. Dies gilt für „Rektor Sonnenstich“, die Lehrer „Zungenschlag“, „Habebald“ und „Fliegentod“, für „Pastor Kahlbauch“ oder „Professor Knochenbruch“, die allesamt disziplinierende Institutionen wie Schule und Kirche vertreten.
Sexualität und Aufklärung
Den Jugendlichen geht es neben Sinn- und Schulfragen um ihre sexuellen Empfindungen, denen sie meist hilflos ausgeliefert sind. So bittet Moritz Stiefel seinen von einer toleranten Mutter erzogenen Freund Melchior Gabor, um eine Erklärung, was es mit der „männlichen Regung“ auf sich habe. Den bürgerlichen Jugendlichen fehlten zu Wedekinds Zeiten ein verständnisvoller Ansprechpartner, ein angemessener Unterricht oder informierende Lektüre: „Ich habe den Kleinen Meyer von A bis Z durchgenommen. Worte – nichts als Worte! Nicht eine einzige schlichte Erklärung. O dieses Schamgefühl! – Was soll mir ein Konversationslexikon, das auf die nächstliegende Lebensfrage nicht antwortet.“ (WEDEKIND, 1. Akt, 2. Szene, S. 482).
Der Freund verspricht ihm einen Aufklärungsaufsatz, den Moritz kurze Zeit später erhält. Dieser Freundschaftsdienst Melchiors – „Ich sage dir alles. – Ich habe es teils aus Büchern, teils aus Illustrationen, teils aus Beobachtungen in der Natur.“ (Ebd.) – wird schließlich von den Erwachsenen ausgenutzt. Sie geben nämlich dem Freund die Schuld an dem Selbstmord des an Schule und Elternhaus verzweifelnden Jungen Moritz. Wedekind lässt keinen Zweifel daran, dass Moritz am Unverständnis und an der Härte der Erwachsenen und der pädagogischen Institutionen zerbricht, aber die Protagonisten sind über jeden Zweifel hinsichtlich ihres eigenen Verhaltens erhaben. Die Schuld wird ausschließlich bei den Jugendlichen lokalisiert.
Keineswegs besser ergeht es dem Mädchen Wendla: Auch sie verlangt eine angemessene sexuelle Aufklärung und will von der Mutter wissen, wie sie sich Sexualität, Zeugung und Geburt vorzustellen habe. Die Mutter erweist sich als vollkommen überfordert und reaktionsunfähig. In der eindrucksvollen Szene zwischen Mutter und Tochter erzählt erstere zunächst ernsthaft die Geschichte vom Storch. Aber Wendla gibt sich damit nicht zufrieden und bettelt um die Wahrheit. Sie nimmt die Mutter in die Verantwortung, weil sie als Mädchen niemanden sonst fragen kann. Mit dem Kopf unter der Schürze vernimmt sie schließlich das stotternde mütterliche Bekenntnis über die bevorstehenden Lebensprüfungen:
„Um ein Kind zu bekommen – muß man den Mann – mit dem man verheiratet ist … lieben – lieben sag ich dir – wie man nur einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr von ganzem Herzen lieben, wie – wie sich’s nicht sagen lässt! Man muß ihn lieben, Wendla, wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst … Jetzt weißt du’s.“ (WEDEKIND, 2. Akt, 2. Szene, S. 503)
Weiterhin unaufgeklärt erlebt Wendla sexuelle Begegnungen mit Melchior, deren Verlauf Wedekind nur andeutet. Sie wird schwanger und stirbt an einer Abtreibung, die die Mutter, die ihr jüngstes Kind der falschen Moral opfert, von einer Unkundigen vornehmen lässt.
Wedekind entfaltet in dieser Schülergeschichte ein Grundgefühl der Jugend, das die Literatur vielfach aufgegriffen hat: Das Gefühl, von den Erwachsenen nicht verstanden zu werden. Die bürgerliche Gesellschaft des Kaiserreichs eignete sich hervorragend als Kontrapunkt zur jugendlichen Empfindsamkeit. Diesen Gegensatz arbeitet Wedekind deutlich heraus und gibt dem Leiden der Jugendlichen eine dramatische Basis und eine lebensfeindliche Wendung. Für Jugendliche wie Wendla oder Moritz gibt es noch kein Entrinnen, keine Erlösung, aber gerade dadurch erhalten literarische Jugendbilder ihre Wirksamkeit.