Читать книгу Einführung in die Jugendforschung - Sabine Andresen - Страница 13
1.2.1 Die Welten des jugendlichen Heranwachsenden
ОглавлениеMenschliche Entwicklung für die Art und für das Geschlecht
„Wir werden sozusagen zweimal geboren: einmal zum Dasein und das andere Mal zum Leben, das eine Mal für die Art und das andere Mal für das Geschlecht. Diejenigen, welche die Frau als einen unvollkommenen Mann ansehen, haben ohne Zweifel unrecht; die äußerliche Erscheinung spricht allerdings dafür. Bis zum mannbaren Alter haben die Kinder der beiden Geschlechter scheinbar nichts, was sie unterscheidet; sie haben das gleiche Gesicht, die gleiche Hautfarbe, die gleiche Gestalt, die gleiche Stimme, alles ist gleich. Die Mädchen sind Kinder, die Knaben sind Kinder; ein Name genügt für so ähnliche Wesen.“ (ROUSSEAU 1762 / 1989, S. 256)
Im Buch IV seines Erziehungsromans beschreibt Rousseau 1762 die für ihn beobachtbaren und in seiner Epoche bereits zur Sprache gebrachten Entwicklungsphänomene und Merkmale der Phase zwischen Kindes- und Erwachsenenalter. Die für ihn relevanten Erkenntnisse stellt er in einen philosophischen und anthropologischen Kontext und entwickelt daraus unterschiedliche jugendtheoretische Ebenen. Seine Grundannahme ist, dass der Mensch erst mit dem Eintritt ins Jugendalter seine Bestimmung erfüllt, die Menschheit zu erhalten und ihre Fortsetzung zu sichern.
Rousseau betrachtete die zweite Geburt und die darauf folgende neue Menschwerdung als wechselseitigen Prozess zwischen natürlichem Zwang menschlicher Entwicklung und den darauf notwenig erfolgenden kulturellen Reaktionen. Dabei erhebt er den Anspruch, das Verhältnis von Natur, Kultur und Gesellschaft und deren jeweiligen Einfluss auf den Menschen und seine Entwicklung aufdecken zu können. In der zweiten Geburt manifestiert sich für Rousseau die anthropologische und kulturelle Notwendigkeit, nicht allein zu bleiben. Der Heranwachsende muss sich somit nicht nur seinen Trieben und Gefühlen, also seiner Sexualität stellen, er muss darüber hinaus die Menschen möglichst umfassend kennen und in Gesellschaft mit anderen Menschen handeln und leben lernen.
Vier Welten des Jugendlichen
Die Welt des jugendlichen Heranwachsenden bestehe, so der Erziehungswissenschaftler und Rousseaubiograph Volker Kraft, aus vier „Welten“. Diese Teilwelten bestimmen den Prozess des Aufwachsens. Rousseau unterscheidet zwischen Körperwelt, Außenwelt, Innenwelt und transzendentaler Welt. „In jeder dieser ‚Welten‘ steht der Erzieher dem Heranwachsenden in besonderer Weise zur Seite, wenn auch prinzipiell anders als in den Jahren der Kindheit: die pädagogische Inszenierung transformiert sich gleichsam zu einer Reihe pädagogischer Szenen.“ (KRAFT 1997, S. 148)
Insbesondere die eingangs zitierte Passage aus dem „Emile“ über die zweite Geburt hat die Pädagogik in Anlehnung an Rousseau dazu veranlasst, über die neuen pädagogischen Anforderungen in der Jugendphase nachzudenken. Der Erziehungsroman „Emile“ fand zwar auch zahlreiche Kritikerinnen und Kritiker, gleichwohl lieferte er allen an Jugend interessierten und von Jugendlichen gewissermaßen betroffenen Personen, Müttern und Vätern, Lehrenden, Gouvernanten, Sozialarbeitern, Medizinern und Kriminologen lehrreiche Hinweise über diese markant hervortretende Lebens- und Entwicklungsphase des Menschen.